In den letzten Oktobertagen des Jahres 1938 führte das „Dritte Reich“ die ersten systematisch organisierten Deportationen jüdischer Einwohner deutscher Städte in einer als „Polenaktion“ bekannten Maßnahme durch. Der Kantor Joseph Cysner gehörte zu den 900 Hamburger Juden, die deportiert wurden. Seine Erinnerungen liefern ein seltenes Zeugnis eines oftmals vergessenen Ereignisses.
Einige Zeit nach seiner Deportation aus Hamburg, während der sechsmonatigen Internierung in dem polnischen Grenzort Zbaszyn, begann Cysner, seine Erinnerungen und Eindrücke der Geschehnisse niederzuschreiben. Das deutsche Originalmanuskript ist undatiert, doch sowohl das benutzte Papier, als auch die Sprache und die Handschrift lassen darauf schließen, dass er seine Memoiren während der Internierung in Zbaszyn kurz nach seiner Ankunft dort Ende Oktober 1938 begann. Er datierte seine Memoiren später auf den 30. Oktober 1938. Sie wurden zu mindestens drei - vermutlich mehr - verschiedenen Zeitpunkten verfasst. Die maschinengeschriebene englische Version wurde von Cysner auf Grundlage von den deutschen Memoiren erstellt, nachdem er sich im Mai 1939 durch seine Einwanderung nach Manila auf den Philippinen retten konnte. Die Übertragung geschah vermutlich mithilfe eines Übersetzers und sicherlich vor der japanischen Besetzung der Philippinen im Januar 1942, als die japanischen Streitkräfte sämtliche Schreibmaschinen konfiszierten.
Joseph Cysner war das jüngste von sechs Kindern und wuchs in einer streng religiösen jüdisch orthodoxen Familie auf. Seine Eltern, beide „Ostjuden“, waren Ende des 19. Jahrhunderts aus der Tschechoslowakei nach Wien geflohen und zogen anschließend von dort nach Bamberg in Deutschland, wo Joseph Cysner 1912 geboren wurde. Sein Vater, Aaron Cysner, stammte aus einer Kleinstadt in der Nähe von Prag, und seine Mutter, Chaja, aus Oswiecim in Polen. Cysner schrieb sich 1929 am Jüdischen Theologischen Seminar in Würzburg ein, das er 1933 abschloss. Nachdem er zunächst als Kantor in Hildesheim und Hannover gedient hatte, trat Cysner 1937, dem Todesjahr seines Vaters, seine Position als Prediger im Hamburger Tempelverein an. Seine Ernennung auf Lebenszeit endete noch im selben Jahr mit seiner Deportation während der „Polenaktion“ am 28. Oktober 1938.
Die Memoiren des Kantors Cysner stellen ein seltenes Zeugnis der Geschehnisse während der „Polenaktion“ dar, das von einem Überlebenden selbst nur wenige Wochen, vielleicht sogar nur Tage nach dem Vorfall festgehalten wurde. Während es zahlreiche Quellen von amerikanischen Journalisten, Angehörigen verschiedener ausländischer Konsulate in Deutschland und Polen, sowie Berichte deutscher Beamter gibt, die die Deportationen miterlebten, existieren nur sehr wenige von den Deportierten selbst verfasste Schriftquellen, von denen wiederum die Mehrzahl auf Interviews mit Überlebenden basiert, die erst Jahre später geführt wurden.
Auf den ersten drei Seiten seiner Memoiren schildert Cysner seine Festnahme durch die Gestapo, im Zuge derer er nach Altona gebracht wurde, wo hunderte anderer Juden aus Hamburg bereits festgehalten wurden. Voll Mitgefühl beschreibt er eine Szene weinender Kinder, kranker Menschen und, da es Schabbat war, vieler betender alter Menschen. Er erinnert sich daran, wie er mit hunderten anderen in Polizeiwagen getrieben und zur Wache gebracht wurde, wo man ihm ein Stück Brot gab und ihn dann zwang, einen Personenzug zu besteigen. Eine seiner eindrücklichsten Beschreibungen ist die der ängstlichen Gesichter seiner ehemaligen Gemeindemitglieder aus Hannover und Hildesheim in anderen Zugabteilen, die auf den Schienen an seinem Zug vorüberfuhren, aus einem der Züge hörte er eine bekannte Stimme, die seinen Namen rief.
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ im März 1938 strömten tausende in Österreich lebender polnischer Juden in die dortige polnische Botschaft, um ein Rückkehrvisum nach Polen zu beantragen. Um eine massenhafte Rückkehr der in Polen unerwünschten Juden zu verhindern, entzog die polnische Regierung ihren im Ausland lebenden Bürgern die Staatsbürgerschaft mit dem Ziel, die Wiedereinbürgerung polnischer Juden aus den vom Deutschen Reich annektierten europäischen Gebieten zu verhindern. Die NS-Führung befürchtete, dass diese Aktion ihre Pläne zur Ausweisung aller Juden aus Deutschland behindern würde, da andere Staaten dem polnischen Beispiel folgen und ihren jüdischen Staatsbürgern die Wiedereinreise in die Heimat verwehren könnten. Die NS-Regierung ergriff daher antijüdische Maßnahmen gegen die in Deutschland ansässigen polnischen Juden, um diese aus dem Land zu verweisen, bevor die neue polnische Gesetzgebung in Kraft treten würde. Ein Schnellbrief aus dem Büro des Reichsführers SS in Berlin an alle Staatspolizeibüros vom 26. Oktober 1938 gab die ausdrückliche Anweisung, dass die Gestapo mit sofortiger Wirkung das Aufenthaltsrecht aller polnischen Juden in ihren jeweiligen Amtsbezirken aufzuheben habe. Sämtliche polnischen Juden sollten am oder bis zum 29. Oktober 1938 aus Deutschland ausgewiesen werden, bevor ihre polnische Staatsbürgerschaft von der polnischen Regierung aberkannt würde.
Der Anweisung des Auswärtigen Amtes folgend, verhaftete die Gestapo vom 27. bis 29. Oktober 1938 im gesamten Deutschen Reich fast 17.000 Juden polnischer Nationalität und transportierte sie en masse zur polnischen Grenze ab. Die polnische Regierung reagierte umgehend mit Ausweisungen deutscher Staatsbürger aus den westlichen Gebieten Polens. Unmittelbar darauf einsetzende Verhandlungen zwischen dem deutschen Auswärtigen Amt und der polnischen Regierung stoppten auf beiden Seiten weitere Deportationen.
Der erste Transport der „Polenaktion“ erreichte und überquerte die Grenze nach Polen ohne Hindernisse, da die polnischen Beamten vollkommen überrascht wurden. Später fürchteten die Deutschen jedoch polnische Vergeltungsaktionen und entluden die nächsten Züge daher auf der deutschen Seite der Grenze, um die Abgeschobenen anschließend zu Fuß über die dortigen Felder nach Polen zu treiben. Cysner berichtet in seinen Memoiren über die schreckliche Szene, die sich an der Grenze abspielte. Er erinnert sich an die morgens eintreffenden Massen, die gezwungen wurden, stundenlang in Eiseskälte zur Grenze zu marschieren, während sie von deutschen Militärpolizisten mit aufgestellten Bajonetten getrieben und geschlagen wurden. Was bei ihrer Ankunft an der Grenze geschah, kann nur als schauderhaft bezeichnet werden. Cysner beschreibt die Belustigung auf den Gesichtern der deutschen Soldaten, als sie die bedrohten und zum Betreten des Niemandslands im Grenzbereich gezwungenen Juden fotografierten, während die verwirrte polnische Grenzpolizei der voranschreitenden Kolonne der Abgeschobenen mit auf sie gerichteten Gewehren anzuhalten befahl. Cysner schildert die Panik jener unendlich erscheinenden Momente, als beide Reihen bewaffneter Grenztruppen versuchten, die verschreckten Juden mit Waffengewalt auf die jeweils andere Seite der Grenze zu drängen. Schließlich erkannte Cysner eine Möglichkeit, durch die Bäume zu entkommen, und während er rannte, folgte ihm einer seiner jungen Schülerinnen, die von ihren Eltern getrennt worden war. Als sie einen sich auf der Straße nähernden Wagen sahen, riefen sie um Hilfe. Cysner und sein junger Schützling schlossen sich im Wagen einer Gruppe von Deportierten aus Hannover an, die zum polnischen Grenzort Zbaszyn fuhren. Diejenigen, denen nicht wie Cysner die Flucht gelang, verblieben weitere 24 Stunden dort, bevor die polnische Polizei ihnen gestattete, ins Landesinnere weiterzureisen und dort zu verweilen.
Die polnischen Behörden verfügten die zwangsweise Internierung der eilig abgeladenen jüdischen Deportierten in Zbaszyn wegen der Grenznähe des Ortes. Sie hofften, dass Verhandlungen schließlich zu ihrer Rückkehr nach Deutschland führen würden – wozu es nicht kam. Cysner verbrachte die sechs Monate seiner Zwangsinternierung in Zbaszyn mit tausenden anderen Vertriebenen, bis er ein Telegramm von seinem Freund Rabbi Josef Schwarz erhielt, der im September 1938 nach Manila ausgewandert war und ihm nun eine Stelle bei der jüdischen Gemeinde auf den Philippinen anbot. Während die deutschen Memoiren damit enden, wie er den Winter durch Pakete von „Poldi“, seinem Bruder Leopold, überlebte, scheint es sich bei der ersten Seite der englischen Memoiren um ein handgeschriebenes Konzept zu handeln, das auf dem Briefpapier des „Jewish Refugee Committee“ Manila geschrieben wurde, was zeigt, dass Cysner Notizen auf Deutsch machte, um später einige fehlende Informationen in die Memoiren einzufügen, möglicherweise in Vorbereitung für das Verfassen der englischen Version. In der englischen Version verwandelte er seine Aufzählung von Ereignissen in einen persönlichen Erfahrungsbericht, der vor den deutschen Memoiren einsetzt und über die letzten aufgezeichneten Ereignisse der Originalmemoiren hinausgeht, indem er auch seine Erfahrungen während der Reise nach Warschau im April 1939 beschreibt, die er unternahm, um seine Reisedokumente und sein Visum zur Einwanderung in die Philippinen vom amerikanischen Konsulat in Warschau zu erhalten.
Vor seiner Auswanderung erhielt Cysner die Erlaubnis zur Rückkehr nach Hamburg, um seine Angelegenheiten zu regeln und sich um die Versorgung seiner Mutter zu kümmern, die in ihrer Heimatstadt Bamberg bleiben konnte, bevor er auf der Scharnhorst einschiffte, die in Bremen ablegte und im Mai 1939 in Manila eintraf. 1940 holte er auch seine Mutter nach Manila. Cysner verbrachte den Rest des Zweiten Weltkriegs in Manila, wo er als Angehöriger eines Feindstaates (enemy alien) abermals verhaftet wurde, diesmal von den Japanern, und 1942 in das Santo Tomas Internierungslager gebracht wurde. Er überlebte die Kämpfe zur Rückeroberung der Philippinen durch US-Truppen 1945 und spielte in der Nachkriegszeit eine integrale Rolle beim Wiederaufbau Manilas, bis er 1947 in die USA einwanderte. Dort diente Cysner als Kantor in Synagogen in San Francisco und San Diego, bis er 1961 im Alter von nur 48 Jahren starb.
Keines der Opfer der „Polenaktion“ kehrte als Einwohner nach Deutschland zurück, die meisten von ihnen verließen Zbaszyn schließlich und zogen weiter in andere Teile Polens, einige von ihnen nur wenige Tage vor dem Überfall auf Polen am 1. September 1939. Nur diejenigen, denen es gelungen war, ein Visum zu erhalten, das ihnen die Auswanderung aus Kontinentaleuropa ermöglichte, hatten eine Chance, den Krieg und den Holocaust zu überleben, in dessen Verlauf nahezu 90 Prozent aller Juden in Polen ermordet wurden – einschließlich der meisten während der „Polenaktion“ Deportierten.
Cysners Memoiren zeigen, dass die Nationalsozialisten keinerlei Anstrengungen machten, diese Aktionen vor der deutschen Öffentlichkeit oder der Welt geheim zu halten. Dieser Aspekt der „Polenaktion“ zeigt, dass die „Konditionierung“ der deutschen Bevölkerung ebenso wie der internationalen Beobachter als “bystander“ der NS-Verbrechen zu diesem Zeitpunkt weit genug fortgeschritten war, so dass es nicht länger nötig war, ein derartiges brutales Vorgehen vor etwaigen Zeugen zu verbergen. Die Vertreibung stellte somit einen Präzedenzfall für zukünftige Deportationen her.
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Bonnie Harris, Dr. phil., wurde 2009 mit ihrer Arbeit "Von Zbaszyn nach Manila: The Holocaust Odyssee des Joseph Cysner und Flüchtlingsrettung auf den Philippinen" promoviert. Sie lehrt im Fachbereich Geschichte an der San Diego State University. Auch: http://www.bonniesbiz.com/4436.html
Bonnie M. Harris, Die Memoiren des Kantors Joseph Cysner. Ein seltenes Zeugnis der „Polenaktion“ (übersetzt von Insa Kummer), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 25.10.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-94.de.v1> [20.11.2024].