Am 7.3.1789 ließen die deputierten Armen-Vorsteher in den Synagogen der Dreigemeinde einen Aufruf bekanntmachen, in dem um „reichliche[] Gaben“ für die Armen anlässlich des Purim-Festes gebeten wurde. Der kurze Aufruf ist in deutscher Sprache verfasst und wird in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem bewahrt. Mit solchen Spendenaufrufen sollten die armen Gemeindemitglieder unterstützt und zugleich individuelles Betteln unterbunden werden. Die Quelle weist auf einen Strukturwandel der Hamburger Armenfürsorge hin, der nicht ohne Folgen auch für die jüdischen Gemeinden bleiben konnte und einen Bruch mit alten Traditionen erforderte.
Der frühneuzeitliche Staat trat nur durch Pressionen gegenüber den jüdischen Armen in Erscheinung. Da das Armen- und Sozialwesen weitgehend durch die christlichen Kirchengemeinden oder über städtische Einrichtungen wie Hospitalstiftungen getragen wurde, sah der Staat keine Veranlassung, im Hinblick auf die Jüdinnen und Juden aktiv zu werden. Eine Integration oder Resozialisierung der Armen durch den Staat erfolgte allenfalls durch die Zucht- und Arbeitshäuser, in denen die Armen zur Arbeitsamkeit erzogen werden sollten. Armut galt als moralischer Makel, strukturelle Ursachen der Armut, wie sie im 18. Jahrhundert allgemein erkennbar sind, wurden vom Staat (und auch von der Gesellschaft) nicht akzeptiert. Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe, das meint Hilfe für den Armen, damit er seine Armut selbst überwinden kann, geht auf die Aufklärung zurück. Eine der frühesten Institutionen dieser Art schuf die 1765 gegründete Patriotische Gesellschaft in Hamburg mit ihrer 1788 initiierten Armenanstalt, die im Gegensatz zu der bis dahin geübten Armenpolitik stärker auf das Solidaritätsprinzip setzte und dem fähigen Armen Mittel zur Selbsthilfe zur Verfügung stellte. Die jüdische Gemeinschaft blieb von dem allgemeinen Sozial- und Armenwesen ausgeschlossen. Sie stellte auch keine Ansprüche an den Staat und die Gesellschaft. Allerdings mehrten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anlässlich zahlreicher Sondersteuern, die von den Juden erhoben wurden, die Hinweise auf die zunehmende Armut der Gemeindemitglieder. Bei der Versorgung der Armen blieb die jüdische Gemeinschaft auf sich gestellt und löste dieses Problem im Rahmen der traditionellen Zedaka, indem die einzelnen Gemeinden Armenabgaben erhoben bzw. für die jüdischen Wanderbettler Armenhäuser errichteten.
Die Bekanntgabe der deputierten Armen-Vorsteher erinnert an die bis dahin gültige Hamburger Zedaka-Tradition: Am Purim-Fest bettelten die Armen „gewöhnlich“, das meint gewohnheitsmäßig, in den Häusern der Bessergestellten, und es wurde ihnen „reichlich“ gegeben, so dass sie bis Pessach, also etwa vier Wochen, mit ihren Familien davon „einigermaßen“ leben konnten. Dasselbe wiederholte sich an Rosch Haschana. Auch bei anderen großen Feiertagen und bei familiären Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen wurde für die Armen gespendet.
Trotz dieser individuellen Bettelei gab es in der Dreigemeinde ein strikt organisiertes Armenwesen mit den „deputierten Armen-Vorstehern“ an der Spitze, die auch die individuelle Bettelei unter Kontrolle hatten. In der allgemeinen Aufklärungsdiskussion war nun das jüdische Bettelwesen, wie es sich vor allem in den Territorialstaaten abspielte, in die Kritik geraten. Dieser allgemeinen Kritik hatten sich auch vereinzelt Maskilim angeschlossen und Verbesserungsvorschläge gemacht.
In Hamburg war das jüdische Armenwesen im Zuge der Einrichtung der Allgemeinen Armenanstalt von 1788 durch die Patriotische Gesellschaft in Zugzwang geraten. Diese Einrichtung basierte zwar auf privater Initiative, verfügte aber durch seine angesehenen Initiatoren über einen großen Einfluss auf die städtische Politik. Da die Armenanstalt die Versorgung der Armen übernahm, war durch Ratsrezess das Betteln verboten worden. Das jüdische Armenwesen unterstand zwar nicht der Allgemeinen Armenanstalt, war aber durch das Bettelei-Verbot betroffen, so dass „die beteiligten Armen [nun] in eine missliche Lage versetzt“ wurden. StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, Nr. 281, S. 4. Die Armen-Vorsteher hatten es deshalb bald nach Erlass des allgemeinen Bettelverbots als ihre „Pflicht“ angesehen, „auch für unsere Armen Sorge zu tragen, dass dieselben nicht ganz verlassen und hoffnungslos dastehen“. StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, Nr. 281, S. 4 In der Neuordnung des jüdischen Armenwesens orientierten sie sich an der Organisation der Allgemeinen Armenanstalt. So richteten auch sie im November 1788 Verzeichnisse ein, in denen sich einmal die Geber mit ihren monatlichen Gaben, zum anderen die Armen mit ihren Familienmitgliedern eintragen konnten. Letzteres bezog sich auf alle Armen, „sowohl die zur Gemeinde gehörenden als auch [auf] die hier schon längere Zeit sich aufhaltenden fremden jüdischen Armen, welche bis zur Zeit ihr Brot in den Häusern oder auf öffentlicher Straße erbetteln“. StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, Nr. 281, S. 4 Der Kreis der berechtigten Armen wurde also sehr weit gefasst, so dass auch die „auswärtigen jüdischen Armen“ einbezogen wurden, allerdings mussten sie sich schon längere Zeit in der Stadt aufhalten. Im Prinzip achtete die Gemeinde darauf, dass sich keine auswärtigen jüdischen Bettler einschlichen. Die Gemeindemitglieder wurden davor gewarnt, fremden Juden, die keine Passier- oder Legitimationsscheine der Fremdenkommission besaßen, Schlafstellen zur Verfügung zu stellen. Die Armen-Deputierten richteten in der „Gemeindestube“ Sprechstunden ein, während derer sich die Armen anmelden konnten. Wer dies nicht tat, blieb von Versorgungen ausgeschlossen. Hier wird der allgemeine Disziplinierungscharakter der jüdischen Armenanstalt, der auch das öffentliche Armenwesen infolge aufgeklärter Reform nun bestimmte, deutlich. Die berechtigten Armen erhielten einen „Schein“, der sie zum Empfang der Unterstützung durch die Gemeinde berechtigte.
Die Neuorganisation machte deutlich, dass vor allem in Altona die Armen-Vorsorgung Schwierigkeiten bereitete. Bei einer Extra-Sammlung, die im Januar 1789 angesichts einer extremen Kältewelle stattfand, verlief diese zwar in den Hamburger Gemeinden erfolgreich, den Armen in Altona aber war keine Hilfe zuteil geworden, obgleich auch dort die Sammlung stattgefunden hatte. Da aber der größere Teil der Armen in Altona lebte, waren die Armen dort nach wie vor in einer schwierigen Situation. Mit dem Appell an die Hamburger, dass „wir doch eine Gemeinde bilden“, wurden diese zu einer Extra-Steuer aufgefordert. Aus dem Erlös sollten die Armen unter anderem mit Brennmaterial versorgt werden. StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, Nr. 281, S. 7 f. Für die Armen in Altona war die Situation insofern prekär, verglichen mit der in Hamburg, als sie hier auch zu dem Tribut, der an den Landesherren, den dänischen König, gezahlt werden musste, herangezogen wurden. Die dafür von dem einzelnen Armen zu entrichtende Summe wurde von seiner wöchentlichen Unterstützung abgezogen und einbehalten. Die Spendenaufrufe der Armen-Vorsteher, so nüchtern, aber drängend sie sich ausnehmen, verzichteten nicht auf eine religiöse Komponente, wie etwa: „Der Allmächtige wird unsere Gemeinde vor jedem Ungemach und Leiden beschirmen und Reichtum und Wohlstand ihr angedeihen lassen“. StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, Nr. 281, S. 8, 21f.
Das angestrebte Ziel, die Gassenbettelei gemäß staatlicher Anordnung gänzlich zu verhindern, erreichte die jüdische Armen-Anstalt allerdings nicht – nicht anders erging es auch der öffentlichen Armenanstalt. Immer wieder führten Gemeindemitglieder Klage darüber, dass sie trotz ihrer Beiträge angebettelt würden. Neben den Beiträgen für die Armen spendeten die Bessergestellten auch während des Gottesdienstes in den öffentlichen Synagogen, unter anderem, wenn sie zur Tora-Lesung aufgerufen wurden oder aber bei Jahresfesten, wobei sie traditionsgemäß einen Taler zahlten. Die Einrichtung zahlreicher Klaussynagogen, an deren Gottesdiensten auch die Bessergestellten teilnahmen, schmälerte diese Einnahmen, so dass vom Vorstand ein Besuchsverbot für diese Synagogen erlassen wurde.
Die Aufrufe der Gemeinde wurden in den 1790er-Jahren deshalb wiederholt, wobei auch auf die staatlichen Strafen hingewiesen wurde. Verständlicherweise enthielten sich die Aufrufe einer Kritik dieses Verbots, ja sie unterstützten es, indem sie den mit den Behörden in Konflikt geratenen Bettlern jede Hilfe verweigerten. Eine wichtige Rolle spielte bei der Versorgung der jüdischen Armen in der Gemeinde die Sorge um Brennmaterial, wofür bereits im Juli gesammelt wurde. Nicht der einzelne Arme, sondern „die Verwalter des Vereins zur Verteilung von Torf an Arme“ „gingen [in der Gemeinde] umher, um die üblichen Spenden einzunehmen“. Neben den offiziellen Armen-Deputierten der Gemeinde agierte also auch ein „Verein“ zur Unterstützung der Armen, der sich noch zur Zeit der Dreigemeinde gebildet hatte. Wir können aus den Quellen nichts Genaueres über die Zusammensetzung dieses Vereins entnehmen, doch ist davon auszugehen, dass es sich um einen der sozialen Fürsorgevereine handelt, die sich im Zuge einer sozial engagierten Aufklärungsphilosophie analog zur Gesamtgesellschaft auch in den jüdischen Gemeinden gebildet hatten. Sie sind ein Zeichen für die Akkulturation der jüdischen Minderheit an die Strukturen der Gesamtgesellschaft, die unter anderem von den jüdischen Aufklärern, den Maskilim, betrieben wurde. In der Dreigemeinde existierten keine jüdischen Aufklärungszirkel, wie sie für Berlin oder Breslau überliefert sind, auch fehlte der Kontakt zur nicht-jüdischen Aufklärungsgesellschaft, doch es gab akkulturative Tendenzen.
Die Leitung der Dreigemeinde bemühte sich um eine Akkulturation im Sinne der Dohmschen Forderungen nach der „Verbesserung der Juden“ als Vorbedingung ihrer Emanzipation. Davon zeugt auch das Memoire an die Herren Staatsräte Grafen Chaban und Chevalier Faure [...] von 1811, das „vom großen Ausschuss der drei Gemeinden“ genehmigt worden war. StaHH, Jüdische Gemeinde 111, S. 23 (hier die folgenden Zitate). In ihm betonen die Verfasser die Sorge der Gemeinde um die Armen, vor allem um die Erziehung von deren Kindern, wofür man „nützliche Einrichtungen“ geschaffen habe. Es gelte für sie, andere Verdienstmöglichkeiten als den Trödelhandel zu schaffen. Das Memoire klagt zudem über die „sich mehrende Anzahl der Armen“ , für die die „Gemeindekassen, welche durch Vorsteher aus unserer Mitte unentgeltlich verwaltet werden“ , kaum noch aufkommen könnten. Nach dem Handelsboom während der 1790er-Jahre, bedingt durch die Schließung der holländischen Häfen während der Revolutionskriege, waren Hamburg und seine Nachbargemeinden durch die Elbblockade ab 1802 und schließlich durch die französische Besetzung der Elbmetropole 1806 in eine schwere Wirtschaftskrise geraten. Das hatte auch negative Folgen für die Spendenbereitschaft der begüterten Gemeindemitglieder.
Insgesamt bietet das jüdische Armenwesen in Hamburg in seiner Entwicklung von 1788 bis 1818 ein positives Bild. Es meisterte schwere Krisen wie die Vertreibung der Armen 1813 / 1814 und die Hungerkrise 1817. Die Mitglieder der Gemeinde bewiesen in dieser Zeit ein starkes soziales Engagement, das auch für die weitere Entwicklung des jüdischen Sozialwesens im 19. Jahrhundert typisch bleiben sollte. An die Stelle der Straßenbettelei der jüdischen Armen, die bis 1788 bestimmend war, trat in diesen 30 Jahren ein modernes jüdisches Sozialwesen.
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Arno Herzig, Prof. Dr. phil., geb. 1937, war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für deutsche Geschichte an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Protestverhalten von Unterschichten in der frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, deutsch-jüdische Geschichte, Konfessionalisierung in der frühen Neuzeit.
Arno Herzig, Armenerlass der Dreigemeinde (Altona – Hamburg – Wandsbek) vom 7.3.1789, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 15.08.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-122.de.v1> [21.12.2024].