Die Fürsorge für die Armen und Schwachen der eigenen Gemeinschaft, sowohl in materieller Form als auch als individuelle Handlung, ist in der religiösen Tradition des Judentums fest verankert. Der Begriff Zedaka (Gerechtigkeit) steht für ein umfassendes, auf sozialen Ausgleich zielendes Wohltätigkeitsverständnis. Als solche ist Wohltätigkeit eine zentrale religiöse Pflicht (Mizwa), die für Angehörige aller sozialen Schichten, also auch für die Armen selbst, und für beide Geschlechter gilt. In den Jahrhunderten der Diaspora, in einer latent bis offen feindlichen Umgebung, hatte sich vor diesem Hintergrund innerhalb der jüdischen Gemeinden ein soziales Unterstützungswesen herausgebildet, das bei individuellen wie kollektiven Notlagen aktiv wurde. Dazu gehörten verschiedene Einrichtungen und Unterstützungskassen, die sich um die Gemeindearmen, Kranken, aber auch um durchreisende Fremde kümmerten. All dies wurde zunächst von den Gemeinden organisiert und finanziert. In der frühen Neuzeit übernahmen dann nach und nach freiwillige, religiös-karitative Zusammenschlüsse diese Aufgabe. Die Beerdigungsbruderschaften (Chewra Kaddisha), die es im 17. und 18. Jahrhundert in allen größeren aschkenasischen Gemeinden gab, waren zwar zuvorderst mit der Krankenpflege und dem Bestattungswesen befasst, bildeten jedoch von dort ausgehend den Kern für weitere fürsorgerische Tätigkeiten. Ähnlich den Gilden waren die Chewrot exklusive Zusammenschlüsse der Gemeindeelite und hatten als solche eine wichtige soziale Funktion innerhalb der jüdischen Gemeinschaft inne. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während des langen Transformationsprozesses der jüdischen Bevölkerung, im Zuge also ihres sozialen Aufstiegs, ihrer Verbürgerlichung und Säkularisierung, veränderte sich auch das Wohlfahrtswesen: Die traditionellen Bruderschaften wichen modernen, allen Gemeindemitgliedern zugänglichen Vereinen, die sich ihrerseits funktional erheblich ausdifferenzierten. In ihrer spezifischen Verschränkung von traditionellen und modernen Elementen gelten die jüdischen Vereine, und hier besonders die Wohlfahrtsvereine, als die emblematischen Institutionen der deutschen Judenheit. In ihnen drückt sich das Bedürfnis nach Integration und Eigenständigkeit gleichermaßen aus.
In der NS-Zeit und nach 1945 konzentrierte sich die jüdische Wohlfahrt zunächst wieder auf konkrete Hilfestellungen. Vor allem wurden Sachmittel für den täglichen Bedarf zur Verfügung gestellt. Erst allmählich kamen Themen wie Bildung, Jugendarbeit und Freizeitgestaltung wieder hinzu.
Die Anzahl jüdischer Armer lässt sich für die frühe Neuzeit lediglich schätzen. Dabei ist zu bedenken ist, dass ein Großteil weit bis ins 18. Jahrhundert hinein ohnehin zu den sogenannten „Wanderarmen“ zählte, die in keiner Gemeinde sesshaft werden konnten, solange diesen das Recht zustand, über die Aufnahme neuer Gemeindemitglieder zu bestimmen. Dies war auch in Hamburg der Fall, wo das Judenreglement von 1710 sowohl die Rechte (Steuern, Finanzen, Jurisdiktion) als auch die Pflichten der Gemeinde (Armenfürsorge, Kultus und Schulwesen) festschrieb. Die aus den Steuerlisten der Gemeinde errechneten Sozialdaten zeigen, dass dennoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts mindestens zwei Drittel der Gemeindemitglieder als arm galten. Ihr Anteil sank zwar in den nächsten Jahrzehnten stetig, betrug aber in der Mitte des Jahrhunderts immerhin noch 40, und zur Zeit der Reichsgründung zwischen 20 und 30 Prozent. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Zahl der Fürsorgebedürftigen weiter gesunken, um dann, infolge von Krieg und Inflation in den 1920er-Jahren, wieder anzusteigen und während der Zeit des Nationalsozialismus zum Massenphänomen zu werden. Auch nach 1945 lebten die Überlebenden in äußerst prekären Verhältnissen, nur sehr langsam und bei weitem nicht allen gelang der Aufstieg in die Mittelschicht. Ähnliches gilt für die Familien aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die sich seit den 1990er-Jahren in Hamburg niedergelassen haben und mit der Auswanderung fast immer einen sozialen Abstieg in Kauf nahmen.
Das mit der Gründung der Hamburger Allgemeinen Armenanstalt 1788 säkularisierte städtische Fürsorgewesen schloss Juden explizit aus. Dennoch orientierte man sich von jüdischer Seite an der Struktur der staatlichen Armenpflege und baute, parallel zu den traditionellen Vereinen, 1817 / 18 mit der Israelitischen Armenanstalt ein modernes Wohlfahrtswesen auf: Ehrenamtliche Armenpfleger betreuten die Bedürftigen in den neueingeteilten Distrikten, nahmen ihre Anträge entgegen, über die eine Kommission nach gründlicher Prüfung jeweils entschied. Gleichzeitig gründeten sich zu dieser Zeit mehrere Institutionen bzw. Vereine, die sich spezifischen Problemen wie zum Beispiel der Bekämpfung der Straßenbettelei widmeten, Darlehen vergaben oder Schulkleidung an arme Kinder verteilten; daneben wurden ein Krankenhaus, Waisenhäuser sowie Alten- und Obdachlosenheime gegründet.
Paulinenstift für jüdische Waisenkinder, Laufgraben 37 in Hamburg, um 1937
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, BAU00048,
aus: Privatbesitz Ursula Randt.
Nachdem das Emanzipationsgesetz von 1864 zum einen den Gemeindezwang aufgehoben und zum anderen die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Hamburger festgeschrieben hatte, änderten sich auch die Parameter des jüdischen Wohlfahrtwesens grundsätzlich. Nunmehr waren die städtischen Einrichtungen auch für jüdische Bedürftige zuständig, ja der Staat drängte aus prinzipiellen Gründen auf eine Beendigung der separaten jüdischen Fürsorge. Die Gemeinde bestand jedoch erfolgreich auf deren Aufrechterhaltung auf freiwilliger Basis, und de facto wurde das jüdische Unterstützungswesen trotz staatlicher Zuständigkeit in den folgenden Jahrzehnten noch weiter ausgebaut, um schließlich alle Lebensbereiche und alle potenziellen Notlagen zu erfassen. Dabei setzte man, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, vor allem auf umfassende vorbeugende Maßnahmen: Gesundheitsfürsorge, Heimerziehung und -ausbildung, Berufsvermittlung und Darlehen sollten Notlagen von vorneherein verhindern. Hierin hatte man oftmals eine anerkannte Vorbildfunktion inne für ähnliche christliche oder nicht religiös gebundene Einrichtungen im Kaiserreich, mit denen man in vielen Bereichen durchaus erfolgreich zusammenarbeitete.
Trotz aller Parallelen besaß die Wohlfahrt, ob nun eher traditionell oder modern, für die jüdische Gemeinschaft immer auch eine zusätzliche und durchaus brisante Bedeutung. Fürsorge war hier nicht nur Prophylaxe gegen soziale Not, sondern auch gegen Vorurteile und Anfeindungen. Man kümmerte sich nicht zufällig besonders um diejenigen Gruppen, die dem Antisemitismus Angriffsflächen bieten könnten: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren dies der jüdische Hausierhandel bzw. die schon erwähnten „Straßenbettler“, in späteren Dekaden rückten Mädchenhandel und Prostitution in den Vordergrund. Ab 1880 kümmerte man sich seitens der Gemeinde zudem intensiv um die über den Hamburger Hafen auswandernden osteuropäischen Juden, wobei es auch hier vor allem darum ging, diese möglichst unauffällig und konfliktlos nach Übersee zu befördern.
Dieser Funktion des jüdischen Wohlfahrtswesens als Schutz (der Gemeinschaft insgesamt, aber auch des einzelnen Bedürftigen vor eventuell antisemitisch agierenden staatlichen Institutionen) nach außen entsprach seine Kohäsionskraft nach innen: Als explizit jüdische Einrichtungen wurden die meisten von ihnen nach dem jüdischen Religionsgesetz geführt, boten also koscheres Essen an, hielten Schabbatruhe und begingen die Feiertage. Als solche boten sie ein attraktives Betätigungsfeld für zwei Gruppen: Dies waren zum einen die Frauen, die weiterhin, trotz Reform und Liberalisierung, vom außerhäuslichen religiösen Leben ausgeschlossenen waren und hier ein Betätigungsfeld fanden, das sowohl religiös legitimiert als auch mit geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen vereinbar war. Als lokal verankerte und daher äußerst sichtbare Institutionen waren die zahlreichen Wohltätigkeitseinrichtungen zum anderen hochattraktiv für größere und kleinere Mäzene, die durch Spenden, Stiftungen und Legate allerlei jüdische Belange fördern und auf diese Weise zugleich ihre Verbundenheit mit ihrer Herkunftsgemeinschaft zum Ausdruck bringen konnten. Mit dem wachsenden Wohlstand und der fortschreitenden bürgerlichen Integration wurden zudem besonders solche Stiftungen attraktiv, die sich um jüdische und nichtjüdische Bedürftige kümmerten. Insgesamt profitierte so auch das allgemeine Hamburger Wohlfahrtswesen in außerordentlichem Maße von jüdischen Spendern.
Oppenheimer Wohnstift, Kielortallee in Hamburg
Quelle: abgedruckt in: Hamburg
und seine Bauten unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und
Wandsbek 1914. Bd. 1, hrsg. v. Architekten- und Ingenieur-Verein zu
Hamburg, Hamburg 1914, S. 342, URL: resolver.sub.uni-hamburg.de/goobi/PPN639579191_1914_1,
bereitgestellt durch die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von
Ossietzky, CC BY-SA 4.0.
Nach dem Ersten Weltkrieg geriet dieses System allgemein in die Krise, da durch die Inflation zahlreiche Legate und Stiftungen vollständig an Wert verloren hatten. Dem stand nun eine wachsende Zahl an Bedürftigen gegenüber, sodass die Wohlfahrt in den Jahren der Weimarer Republik zum zentralen Thema des Gemeindelebens wurde. Um dies effektiver zu gestalten, entschloss man sich 1924, die bislang nebeneinander existierenden Entscheidungsgremien, die Armenkommission und die Wohlfahrtskommission, zu einer zentralen Kommission zusammenzulegen. Angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Not vor allem nach 1929 verwaltete diese etwa ein Drittel des Gemeindehaushalts. Obgleich man stolz darauf war, dass die Hamburger Einrichtungen seit Jahren nach dem Maßstäben moderner Sozialfürsorge geführt wurden, sah man sich nun gezwungen, auch wieder auf ältere Hilfsangebote zurückzugreifen, so etwa in der Gründung des Winterhilfswerks, das Sachspenden wie Mäntel oder Schuhe an Bedürftige verteilte.
Spendenaufruf der Jüdischen Winterhilfe zur
sogenannten „Eintopf Sammlung“.
Quelle: Gemeindeblatt der
Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu Hamburg, 1937-1938. Zeichner: Hans Rudolf
Growald; mit freundlicher Genehmigung von Ernest G. Growald.
Die Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Staates führten nach 1933 dazu, dass sich diese Situation, mehr Bedürftige aus ständig sinkenden Mitteln versorgen zu müssen, weiter dramatisch verschärfte. Gleichzeitig beförderte es eine weitere Zentralisierung der jüdischen Wohlfahrt, da man auch in Hamburg immer enger mit den reichsweiten Berliner Einrichtungen zusammenarbeiten musste. Insgesamt galt die Maxime, alle Rechtsansprüche an staatlichen Zuwendungen, solange es diese noch gab, auch durchzusetzen und gleichzeitig die Angebote der jüdischen Selbsthilfe, vor allem für spezifisch jüdische Belange – Berufsumschichtung, Auswanderung – auszubauen. Als große und immer noch wohlhabende Gemeinde wurde Hamburg in den 1930er-Jahren zudem in wachsendem Maße Anlaufstelle für verarmte Familien aus den Schleswig-Holsteinischen Kleinstgemeinden. Nach 1938 wurden sämtliche Fürsorgeeinrichtungen der Gemeinde aufgelöst und ausgeplündert, mit Ausnahme des Israelitischen Krankenhauses, das auch nach dem Ende der Deportationen unter Gestapokontrolle für die Betreuung der sogenannten „Mischfamilien“ zuständig blieb.
Aus diesem Kreis rekrutierte sich auch die erste Selbsthilfeorganisation der Hamburger Juden nach dem Krieg, die schon im Mai 1945 gegründete Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen, die zunächst ad hoc Hilfe wie Lebensmittel oder Brennmaterial für die wenigen Überlebenden organisierte und sich später vor allem um die rechtliche Vertretung ihrer Ansprüche kümmerte. Weitere Hilfe kam in den ersten Jahren vor allem von jüdischen Organisationen aus dem Ausland, dem American Jewish Distribution Committee und dem britischen Jewish Committee for Relief Abroad. Die im Herbst 1945 wiedergegründete jüdische Gemeinde in Hamburg war von Anfang an Mitglied der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland, die in den ersten Jahren den Wohlfahrtsetat der Gemeinde stellte. Die Sozialarbeiterinnen kümmerten sich vor allem um die hilfsbedürftigen älteren, durch Verfolgung und Not verarmten und traumatisierten Gemeindemitglieder, für die das Krankenhaus neu errichtet und 1958 ein Altersheim gegründet werden konnte, das bis in die 1990er-Jahre bestand. Daneben legte man besonderen Wert auf die Kinder- und Jugendarbeit, organisierte Ferienlager und eröffnete in den 1960er-Jahren einen eigenen Kindergarten, der allerdings 1979 wieder geschlossen wurde. Durch die Zuwanderung nach 1990 wurden neue Anforderungen an die sozialen Einrichtungen der Gemeinde gestellt, aber auch neue Chancen kreiert: So wurde in den 2000er-Jahren zunächst ein Kindergarten, später eine jüdische Schule (wieder-)gegründet, wobei die finanziellen Mittel hierfür zum einen staatlicher Provenienz sind, zum anderen nun vor allem US-amerikanisch-jüdische Organisationen und Stiftungen wie die Womenʼs International Zionist Organisation, Chabad oder die Lauder-Foundation in sozialen Belangen auch in Hamburg aktiv sind.
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Stefanie Schüler-Springorum (Thema: Soziale Fragen und Wohlfahrtswesen), Prof. Dr. phil., ist seit Juni 2011 Leiterin des Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und vertritt diese seit 2012 im Direktorium des Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Von 2001 bis 2011 war sie Direktorin des Institut für die Geschichte der deutschen Juden.
Stefanie Schüler-Springorum, Soziale Fragen und Wohlfahrtswesen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-212.de.v1> [21.11.2024].