Die Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße und die transnationalen Verbindungen zwischen Stockholm und Hamburg

Maja Hultman

Quellenbeschreibung

Die­ser von einem un­be­kann­ten Jour­na­lis­ten für die schwe­di­sche Ta­ges­zei­tung Da­gens Ny­he­ter ver­fass­te Ar­ti­kel wurde an­läss­lich des zwan­zigs­ten Jah­res­ta­ges der No­vem­ber­po­gro­me am 10. No­vem­ber 1958 ver­öf­fent­licht. Er be­fin­det sich heute im di­gi­ta­len Ar­chiv der Kun­g­li­ga Bi­blio­te­ket. Unter der Über­schrift „Synagogapå Bi­blio­teks­gatan räddad från ‘Kris­tall­nat­ten‘“ (Die vor der „Kris­tall­nacht“ ge­ret­te­te Syn­ago­ge in der Bi­blio­teks­gata) er­klärt der Ar­ti­kel, wie die ur­sprüng­lich in der Ham­bur­ger Heinrich-​Barth-Straße be­find­li­che Syn­ago­ge 1939 nach Stock­holm kam und wie sie an­schlie­ßend zur or­tho­do­xen Syn­ago­ge Adat Je­schu­run wurde.

Der Ar­ti­kel be­schreibt nicht nur die trans­na­tio­na­le Ver­le­gung der Ein­rich­tung eines Got­tes­hau­ses, er er­läu­tert auch die Rolle, wel­che die Syn­ago­ge in Stock­holm als Raum für über­le­ben­de Opfer der Shoah spiel­te, die aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben wor­den waren und für kurze oder län­ge­re Zeit in der schwe­di­schen Haupt­stadt leb­ten. In­so­fern steht die Syn­ago­ge Adat Je­schu­run, die bis heute exis­tiert, nicht nur für eine Ge­schich­te über die Odys­see eines Got­tes­hau­ses von Ham­burg nach Stock­holm, son­dern auch für die Mi­gra­ti­on von Holocaust-​Überlebenden in der Nach­kriegs­zeit und die dar­aus re­sul­tie­ren­de Wie­der­be­le­bung re­li­giö­ser Ri­tua­le, wel­che diese einst in ihren Hei­mat­städ­ten er­lernt hat­ten.

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Eine Zeitungsmeldung mit weltweiter Resonanz


Nach­dem die Syn­ago­ge dank ihrer Un­ter­brin­gung in einem Miets­haus die Po­gro­me in Ham­burg über­stan­den hatte or­ga­ni­sier­ten der Ham­bur­ger Ober­rab­bi­ner Jo­seph Car­le­bach und der in Leip­zig ge­bo­re­ne deutsch-​schwedische Ge­schäfts­mann Hans Leh­mann den Trans­port ihrer Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de – Bänke, Aron Ha­ko­desh, Leuch­ter, Bimah, sowie die Bi­blio­thek – als Holz­la­dung in die schwe­di­sche Haupt­stadt. Die Schiffs­la­dung traf in Bruch­stü­cken ein und war durch Ha­ken­kreu­ze ge­schän­det wor­den, doch wurde sie re­pa­riert und die Syn­ago­ge Adat Je­schu­run konn­te schließ­lich ein­ge­weiht und in ver­schie­de­nen Woh­nun­gen im Stadt­zen­trum un­ter­ge­bracht wer­den.


Die Ge­schich­te des Trans­ports der Syn­ago­ge aus der Heinrich-​Barth-Straße wurde in­ner­halb der welt­wei­ten jü­di­schen Ge­mein­de der Holocaust-​Überlebenden wie­der und wie­der er­zählt. Zu­erst er­schien sie 1947 in einem von Hans Leh­manns Sohn Bert Leh­mann ver­fass­ten Ar­ti­kel in der jü­di­schen Zeit­schrift Auf­bau, die unter einer deutsch­spra­chi­gen jü­di­schen Le­ser­schaft ver­trie­ben wurde. Im Laufe spä­te­rer Ge­denk­ta­ge an die No­vem­ber­po­gro­me in Stock­holm und Ham­burg von den 1970er bis 1990er Jah­ren wurde die Ge­schich­te von jü­di­schen Zei­tun­gen wie der Je­ru­sa­lem Post und Nord­stjer­n­an wie­der auf­ge­grif­fen. Ihre Ver­öf­fent­li­chung in der schwe­di­schen Ta­ges­zei­tung Da­gens Ny­he­ter scheint je­doch die ein­zi­ge an eine nicht-​jüdische Öf­fent­lich­keit ge­rich­te­te Dar­stel­lung zu sein, wobei die schwe­di­sche Spra­che die Mög­lich­kei­ten für deren welt­wei­te Ver­brei­tung ein­schränk­te.

Ein deutsch-jüdisches Gotteshaus in Stockholm


Da­gens Ny­he­ter druck­te be­glei­tend zum Ar­ti­kel zwei Bil­der ab. Das eine zeigt die höl­zer­ne Aron Ha­ko­desh aus den 1780er Jah­ren ein­ge­hüllt in dunk­len Stoff und mit gra­vier­ten Ta­feln auf der Ober­sei­te, die sich in einer Woh­nung mit einem wei­ßen Ka­chel­ofen be­fin­det. Das zwei­te Foto zeigt eine Nah­auf­nah­me der höl­zer­nen In­for­ma­ti­ons­ta­fel, auf der das deut­sche Wort „Uhr“ so­wohl auf die deut­schen Wur­zeln der Syn­ago­ge hin­weist als auch den Be­ginn des täg­li­chen Ge­bets an­zeigt. Die Got­tes­diens­te selbst waren eben­falls der deutsch-​jüdischen or­tho­do­xen Tra­di­ti­on ver­pflich­tet.


Un­ge­fähr 3.000 jü­di­sche Flücht­lin­ge aus Deutsch­land und Ös­ter­reich er­reich­ten Schwe­den zwi­schen 1933 und 1939. Ab 1943 ge­währ­te Schwe­den Juden, die aus Nor­we­gen und Dä­ne­mark stamm­ten oder dort­hin ge­flo­hen waren, wie Wal­ter A. Be­rend­sohn, Schutz und Auf­ent­halts­recht. Gegen Ende des Zwei­ten Welt­kriegs wur­den zudem Opfer aus Bergen-​Belsen mit­tels der Wei­ßen Busse des Roten Kreu­zes nach Schwe­den ge­bracht. Ins­ge­samt kamen nach 1945 11.500 Juden nach Schwe­den. Adat Je­schu­run dien­te somit an­fäng­lich als Sam­mel­punkt für Über­le­ben­de der NS-​Konzentrationslager und wurde spä­ter zum Be­suchs­ziel für or­tho­do­xe jü­di­sche Tou­ris­ten aus aller Welt. Unter dem norwegisch-​jüdischen Flücht­ling A.I. Ja­cob­son als ihrem ers­ten Rabbi über­nahm die neue Syn­ago­ge den Nu­sach – die Lit­ur­gie des Got­tes­diens­tes – der west­li­chen jid­di­schen Tra­di­ti­on, die in Deutsch­land vor der Shoah exis­tiert hatte: den Min­hag Ash­kenaz. Als „ye­kis­hes­hul“ be­zeich­net, fügte sie der re­li­giö­sen Land­schaft Stock­holms eine wei­te­re Ge­bets­stät­te hinzu: ein Got­tes­haus, das un­trenn­bar mit einer neuen Ge­mein­de von Juden ver­bun­den war, die in Schwe­den eine Hei­mat ge­fun­den hat­ten.

Jüdische religiöse Vielfalt in Stockholm


Ob­wohl die jü­di­sche Be­völ­ke­rung der Stadt vor 1939 aus nicht mehr als ca. 7.000 Juden be­stand, ver­kör­per­te diese räum­lich eine re­li­giö­se Viel­falt. Nach­dem Juden 1774 das Auf­ent­halts­recht im Kö­nig­reich Schwe­den er­hal­ten hat­ten, mi­grier­ten Juden aus Dä­ne­mark, Preu­ßen und den Han­se­städ­ten nach Stock­holm. Da die neu er­bau­te Syn­ago­ge eine Orgel ent­hielt, kam es in­ner­halb der Ge­mein­de zu einer re­li­giö­sen Spal­tung, die 1871 zu der Grün­dung der or­tho­do­xen Syn­ago­ge Adat Jis­ra­el führ­te. Ei­ni­ge der ost­eu­ro­päi­schen Juden, die zwi­schen den 1860er und 1910er Jah­ren nach Stock­holm ge­zo­gen waren, be­such­ten diese Syn­ago­ge, wo der Nu­sach der li­taui­schen, nord­öst­li­chen Tra­di­ti­on, der Min­hag Polin, be­folgt wurde.


In der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts exis­tier­ten in Stock­holm vier Min­janim. Diese un­ter­schie­den sich nach re­li­giö­sen, kul­tu­rel­len und so­zia­len Ka­te­go­rien und waren geo­gra­fisch über das Stadt­ge­biet ver­teilt. Ein Min­jan ar­gu­men­tier­te, dass seine Got­tes­diens­te „pol­nisch“ seien und sich in­so­fern von denen der Adat Jis­ra­el un­ter­schie­den. Es lässt sich ar­gu­men­tie­ren, dass die Ge­mein­de­vor­ste­her auf kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de und den mög­li­chen Ge­brauch eines an­de­ren Dia­lekts – Zen­tral­jid­disch (pol­ni­sches Jid­disch) – an­spiel­ten. Al­ler­dings war die­ser Dia­lekt nicht gleich­be­deu­tend mit den exis­tie­ren­den, ri­tu­ell un­ter­schied­li­chen Got­tes­diens­ten. Ein an­de­rer Min­jan wie­der­um be­schrieb seine Mit­glie­der als arme Hand­wer­ker. Nichts­des­to­trotz bil­de­ten sie zu­sam­men die Exis­tenz ver­schie­de­ner re­li­giö­ser Grup­pen in der schwe­di­schen Haupt­stadt ab und spie­gel­ten so die ver­schie­de­nen Grup­pen unter den jü­di­schen Mi­gran­ten wider. Auch wenn die jü­di­sche Be­völ­ke­rung Stock­holms weit­aus klei­ner war als die der gro­ßen eu­ro­päi­schen Me­tro­po­len, drück­te sich in ihr den­noch eine re­li­giö­se Viel­falt aus. Der re­li­giö­se Plu­ra­lis­mus, der in Ham­burg exis­tier­te, wurde zu einem ge­wis­sen Grad in Stock­holm re­pli­ziert, wenn auch in klei­ne­rem Maß­stab. Mit ihrer Ein­wei­hung 1940 wurde Adat Je­schu­run zu einer phy­si­schen Ma­ni­fes­ta­ti­on der An­kunft einer neuen Grup­pe jü­di­scher Ein­wan­de­rer, zu­nächst der Holocaust-​Überlebenden und spä­ter den Ver­tre­tern deut­scher or­tho­do­xer re­li­giö­ser Ge­bets­ri­ten.

Transnationaler religiöser Transfer zwischen Deutschland und Schweden


Der Trans­fer re­li­giö­ser Ei­gen­hei­ten von Deutsch­land nach Schwe­den war ein gän­gi­ger Pro­zess in­ner­halb des schwedisch-​jüdischen Le­bens vor der Shoah, der in­ner­jü­di­sche Struk­tu­ren und so­zia­le Hier­ar­chien deut­lich präg­te. So er­hiel­ten bei­spiels­wei­se die bei­den Ober­rab­bi­ner der Ge­mein­de, Gott­lieb Klein und Mar­cus Eh­ren­preis im spä­ten 19. Jahr­hun­dert und frü­hen 20. Jahr­hun­dert eine welt­li­che Bil­dung in Deutsch­land, wo­durch das Re­form­ju­den­tum in Stock­holm ge­stärkt wurde. Ins­be­son­de­re Eh­ren­preis wurde zu einer zen­tra­len Figur für die Aus­ge­stal­tung des räum­li­chen Aus­drucks re­li­giö­ser Viel­falt in Stock­holm. So be­an­trag­ten die zuvor er­wähn­ten Min­janim fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung von der li­be­ra­len Haupt­ge­mein­de, um den Fort­be­stand ihrer Bet­ge­mein­schaf­ten si­chern zu kön­nen. Wäh­rend die Ent­schei­dung bei den aus Laien be­stehen­den Ge­mein­de­vor­stän­den lag, wurde Eh­ren­preis um Gut­ach­ten ge­be­ten. Nach­dem er z.B. den „pol­ni­schen“ Min­jan be­sucht hatte, schrieb er, er könne „keine lit­ur­gi­schen Un­ter­schie­de fin­den […], ob­wohl ich nicht be­strei­ten will, dass es psy­cho­lo­gi­sche Grün­de geben mag, die zum Teil das In­ter­es­se der Leute an die­sem Min­jan er­klä­ren kön­nen“. Die Ge­mein­de­vor­ste­her hör­ten auf ihn und ver­wei­ger­ten die fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung. In den 1920er Jah­ren wurde Eh­ren­preis eben­falls in der Frage der fi­nan­zi­el­len Un­ter­stüt­zung für eine Mik­veh für Adat Jis­ra­el kon­sul­tiert. Er zi­tier­te deut­sche Rab­bis als er ar­gu­men­tier­te, „das ri­tu­el­le Frau­en­bad ist eine alt­her­ge­brach­te jü­di­sche In­sti­tu­ti­on teil­wei­se hy­gie­ni­scher und teil­wei­se sym­bo­li­scher Natur, wel­che nicht di­rekt in der Torah vor­ge­schrie­ben ist“. Das Geld wurde auch in die­sem Fall ver­wei­gert.


Die Be­deu­tung von Sta­tus­trä­gern in­ner­halb der Ge­mein­de für die Über­tra­gung, Kon­ti­nui­tät und po­ten­zi­el­le Stär­kung ver­schie­de­ner re­li­giö­ser Stät­ten und tra­di­tio­nel­ler Riten wird durch das oben er­wähn­te Bei­spiel von Mar­cus Eh­ren­preis deut­lich. Ein wei­te­res Bei­spiel ist Jacob Ett­lin­ger, Ge­mein­de­vor­sit­zen­der von Adat Jis­ra­el von den 1920er bis 1940er Jah­ren. Trotz des Man­gels an Gel­dern für die Mik­veh war Ett­lin­ger der ein­zi­ge or­tho­do­xe Ge­mein­de­vor­ste­her, dem es ge­lang, fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung für eine re­li­giö­se Grup­pe ab­seits der re­for­mier­ten Haupt­ge­mein­de zu ge­win­nen. Er wurde 1880 in Mann­heim ge­bo­ren und war ein Enkel des Ham­bur­ger Rab­bis Jacob Ett­lin­ger, einem der wich­tigs­ten Ver­tre­ter des mo­der­nen or­tho­do­xen Ju­den­tums. Nach­dem er als Metall-​ und Erz­händ­ler nach Schwe­den aus­ge­wan­dert war, sie­del­te Ett­lin­ger sich in einem der neu be­bau­ten, mo­der­nen Stadt­vier­tel an und en­ga­gier­te sich in ver­schie­de­nen mit der li­be­ra­len Haupt­ge­mein­de ver­bun­de­nen Or­ga­ni­sa­tio­nen wie der Ar­men­hil­fe und der Re­li­gi­ons­schu­le. Für letz­te­re ge­lang es ihm, Un­ter­stüt­zung für mehr He­bräisch­un­ter­richt zu ge­win­nen. Im Ver­gleich zu an­de­ren Füh­rungs­fi­gu­ren der Or­tho­do­xen in Stock­holm war Ett­lin­ger der ein­zi­ge mit einem deut­schen Hin­ter­grund und enger Be­kannt­schaft mit den li­be­ra­len Ge­mein­de­vor­sit­zen­den, was ihm in­ner­halb der Ge­mein­de einen hö­he­ren Sta­tus ver­schaff­te, durch den er bes­ser in der Lage war, sich für Adat Jis­ra­el stark zu ma­chen. Als das Schäch­ten 1937 in Schwe­den ver­bo­ten wurde, schrie­ben so­wohl Ett­lin­ger als auch Eh­ren­preis an deut­sche Rab­bis, um deren Rat ein­zu­ho­len. Letz­te­rer kor­re­spon­dier­te bei­spiels­wei­se mit dem Ober­rab­bi­ner Jo­seph Car­le­bach in Ham­burg.


Vor dem Hin­ter­grund der Hand­lun­gen Mar­cus Eh­ren­preis‘ und Jacob Ett­lin­gers dient Hans Leh­mann als wei­te­res Bei­spiel der trans­na­tio­na­len Über­tra­gung re­li­giö­ser Ei­gen­hei­ten von Deutsch­land nach Schwe­den. Leh­manns Söhne be­ton­ten in meh­re­ren Ar­ti­keln, dass die „guten“ Be­zie­hun­gen ihres Va­ters zu Ober­rab­bi­ner Jo­seph Car­le­bach den Trans­port der Syn­ago­ge über die Ost­see mög­lich ge­macht hät­ten, wobei der neu ge­grün­de­te Min­jan des ers­te­ren in sei­ner Woh­nung ver­mut­lich für letz­te­ren von In­ter­es­se war. So zi­tiert der Ar­ti­kel in Da­gens Ny­he­ter Car­le­bach mit den Wor­ten „Ihr be­kommt die ganze Syn­ago­ge, wenn ihr den Trans­port ar­ran­gie­ren könnt.“ Hans Leh­mann wie­der­um nutz­te sein Un­ter­neh­men, um die Syn­ago­ge als Holz­trans­port zu ver­schif­fen. Er zahl­te für die Re­stau­rie­rung der ge­schän­de­ten Bänke, und die Syn­ago­ge aus der Heinrich-​Barth-Straße wurde als Adat Je­schu­run wie­der­errich­tet. Der Name soll von einer Syn­ago­ge in Hal­ber­stadt aus dem 18. Jahr­hun­dert in­spi­riert ge­we­sen sein, dies war die Hei­mat­stadt eines Vor­fah­ren Leh­manns, dem Hof­ju­den Beh­rend Leh­mann. Ei­ni­ge His­to­ri­ker/innen ver­mu­ten au­ßer­dem, dass die Syn­ago­gen­ein­rich­tung zu­erst in Leh­manns Min­jan ge­nutzt wurde und dort half, eine re­li­giö­se Flücht­lings­ge­mein­de „im Ham­bur­ger Geist“ auf­zu­bau­en, womit der Zu­sam­men­schluss von asch­ke­na­si­schen und se­phar­di­schen Ge­mein­den ge­meint ist. In­so­fern könn­te der Sta­tus von Adat Je­schu­run als Samm­lungs­punkt für Flücht­lin­ge das Re­sul­tat einer be­wuss­ten Ent­schei­dung und Stra­te­gie Hans Leh­manns ge­we­sen sein, der selbst die jü­di­sche Ge­mein­de in Ham­burg vor der Shoah er­lebt hatte.

Transnationalismus als jüdische moderne Erfahrung


Als 1988 in Stock­holm der Opfer der No­vem­ber­po­gro­me ge­dacht wurde, fiel dem Nef­fen Jo­seph Car­le­bachs, Alex­an­der Car­le­bach, das re­la­tiv rei­che schwedisch-​jüdische Leben dort auf: der jü­di­sche Kin­der­gar­ten und die Vor­schu­le und Schu­le, die ver­schie­de­nen Syn­ago­gen sowie das An­ge­bot an ko­sche­ren Le­bens­mit­teln. Zu die­sem Zeit­punkt hatte Adat Je­schu­run ihre „ye­kis­he“ Iden­ti­tät ver­lo­ren und fun­gier­te – wie sie es bis heute tut – als Syn­ago­ge mit einer Mi­schung ver­schie­de­ner Nu­sa­chim. Als ein aus Ham­burg im­por­tier­tes Got­tes­haus spiel­te Adat Je­schu­run je­doch eine wich­ti­ge Rolle für die Kon­ti­nui­tät tra­di­tio­nell jü­di­schen Le­bens in Schwe­den wäh­rend der 1940er bis 1960er Jahre. Die Mi­gra­ti­on des re­li­giö­sen Rau­mes – ma­te­ri­el­le Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de, lit­ur­gi­sche Tra­di­tio­nen und prak­ti­zie­ren­de Gläu­bi­ge –aus Deutsch­land nach Schwe­den war, wie zuvor be­schrie­ben, ein nor­ma­ler Be­stand­teil der schwedisch-​jüdischen Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts, wel­cher die Struk­tur des jü­di­schen Ge­mein­de­le­bens in Stock­holm präg­te. Eben­so waren die Ent­wick­lung des schwe­di­schen Zio­nis­mus sowie mo­der­ner kul­tu­rel­ler In­sti­tu­tio­nen wie des Kaf­fee­hau­ses, des Feuil­le­tons und der Fo­to­gra­fie ab­hän­gig von jüdisch-​deutschen-schwedischen Kon­tak­ten.


Der fort­be­stehen­de Kon­takt der jü­di­schen Mi­gran­ten über Lan­des­gren­zen hin­aus sowie die spä­te­re Mi­gra­ti­on re­li­giö­ser und kul­tu­rel­ler Ein­flüs­se und An­re­gun­gen war in der Tat eine jü­di­sche Mo­der­ni­täts­er­fah­rung, für wel­che die Ver­la­ge­rung der Syn­ago­ge aus der Heinrich-​Barth-Straße nur ein Bei­spiel dar­stellt. Ob­wohl der Kon­takt mit Ham­burg durch die Shoah ab­brach und die jü­di­sche Be­völ­ke­rung Ham­burgs nach 1945 ihre re­li­giö­se und kul­tu­rel­le Um­welt wie­der­auf­bau­en muss­te – ihre erste Syn­ago­ge nach der Shoah wurde erst 1960 ein­ge­weiht – il­lus­triert der Ar­ti­kel in Da­gens Ny­he­ter, wie ein klei­ner Teil des frü­he­ren jü­di­schen Le­bens in Ham­burg auf der an­de­ren Seite der Ost­see über­leb­te. Der Ar­ti­kel gibt Auf­schluss über ein bis­her nicht er­forsch­tes Ka­pi­tel in der Ge­schich­te schwedisch-​deutsch-jüdischer Be­zie­hun­gen und zeigt, in­wie­fern der enge Kon­takt zwi­schen Ham­burg und Stock­holm vor dem Zwei­ten Welt­krieg so­wohl das Über­le­ben eines deut­schen jü­di­schen Got­tes­hau­ses als auch die Ein­rich­tung eines spi­ri­tu­el­len Zu­fluchts­or­tes für Holocaust-​Überlebende in Stock­holm er­mög­lich­te, die dem tra­di­tio­nel­len Ritus des mit Deutsch­land as­so­zi­ier­ten Nu­sach Min­hag Ash­kenaz folg­ten. In­so­fern do­ku­men­tiert er, wie die jü­di­sche mo­der­ne Er­fah­rung trans­na­tio­na­ler Ver­bin­dun­gen ge­nutzt wurde, um jü­di­sches Leben zu mo­bi­li­sie­ren und an­ge­sichts und trotz der Zer­stö­rung zu be­wah­ren.

Auswahlbibliografie


Anders Hammarlund, En bönförmoderniteten: Kultur och politik i Abraham Baers värld, Stockholm 2013.
Maja Hultman, A Trio of Case Studies Challenging the Assumption that the Jewish Community in Stockholm was Spatially Separated, 1933-1940s, in: Emergence 8 (2016), S. 53-66.
Clemens Maier-Wolthausen, Zuflucht im Norden. Die schwedischen Juden und die Flüchtlinge 1933-1941, Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 50, Göttingen 2018.
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Zur Autorin

Maja Hultman ist Doktorandin an der University of Southampton, affiliiert mit dem Parkes Institute for Jewish/non-Jewish Relations, und Doktorandin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Ihre Forschungsinteressen sind: Jüdische Räume des 19. und 20. Jahrhunderts, Stadtgeschichte, Migration und Transnationalität sowie digitale Geisteswissenschaften.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Maja Hultman, Die Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße und die transnationalen Verbindungen zwischen Stockholm und Hamburg (übersetzt von Insa Kummer), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 09.07.2019. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-252.de.v1> [29.03.2025].

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