Dieser von einem unbekannten Journalisten für die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter verfasste Artikel wurde anlässlich des zwanzigsten Jahrestages der Novemberpogrome am 10. November 1958 veröffentlicht. Er befindet sich heute im digitalen Archiv der Kungliga Biblioteket. Unter der Überschrift „Synagogapå Biblioteksgatan räddad från ‘Kristallnatten‘“ (Die vor der „Kristallnacht“ gerettete Synagoge in der Biblioteksgata) erklärt der Artikel, wie die ursprünglich in der Hamburger Heinrich-Barth-Straße befindliche Synagoge 1939 nach Stockholm kam und wie sie anschließend zur orthodoxen Synagoge Adat Jeschurun wurde.
Der Artikel beschreibt nicht nur die transnationale Verlegung der Einrichtung eines Gotteshauses, er erläutert auch die Rolle, welche die Synagoge in Stockholm als Raum für überlebende Opfer der Shoah spielte, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren und für kurze oder längere Zeit in der schwedischen Hauptstadt lebten. Insofern steht die Synagoge Adat Jeschurun, die bis heute existiert, nicht nur für eine Geschichte über die Odyssee eines Gotteshauses von Hamburg nach Stockholm, sondern auch für die Migration von Holocaust-Überlebenden in der Nachkriegszeit und die daraus resultierende Wiederbelebung religiöser Rituale, welche diese einst in ihren Heimatstädten erlernt hatten.
Nachdem die Synagoge dank ihrer Unterbringung in einem Mietshaus die Pogrome in Hamburg überstanden hatte organisierten der Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach und der in Leipzig geborene deutsch-schwedische Geschäftsmann Hans Lehmann den Transport ihrer Einrichtungsgegenstände – Bänke, Aron Hakodesh, Leuchter, Bimah, sowie die Bibliothek – als Holzladung in die schwedische Hauptstadt. Die Schiffsladung traf in Bruchstücken ein und war durch Hakenkreuze geschändet worden, doch wurde sie repariert und die Synagoge Adat Jeschurun konnte schließlich eingeweiht und in verschiedenen Wohnungen im Stadtzentrum untergebracht werden.
Die Geschichte des Transports der Synagoge aus der Heinrich-Barth-Straße wurde innerhalb der weltweiten jüdischen Gemeinde der Holocaust-Überlebenden wieder und wieder erzählt. Zuerst erschien sie 1947 in einem von Hans Lehmanns Sohn Bert Lehmann verfassten Artikel in der jüdischen Zeitschrift Aufbau, die unter einer deutschsprachigen jüdischen Leserschaft vertrieben wurde. Im Laufe späterer Gedenktage an die Novemberpogrome in Stockholm und Hamburg von den 1970er bis 1990er Jahren wurde die Geschichte von jüdischen Zeitungen wie der Jerusalem Post und Nordstjernan wieder aufgegriffen. Ihre Veröffentlichung in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter scheint jedoch die einzige an eine nicht-jüdische Öffentlichkeit gerichtete Darstellung zu sein, wobei die schwedische Sprache die Möglichkeiten für deren weltweite Verbreitung einschränkte.
Dagens Nyheter druckte begleitend zum Artikel zwei Bilder ab. Das eine zeigt die hölzerne Aron Hakodesh aus den 1780er Jahren eingehüllt in dunklen Stoff und mit gravierten Tafeln auf der Oberseite, die sich in einer Wohnung mit einem weißen Kachelofen befindet. Das zweite Foto zeigt eine Nahaufnahme der hölzernen Informationstafel, auf der das deutsche Wort „Uhr“ sowohl auf die deutschen Wurzeln der Synagoge hinweist als auch den Beginn des täglichen Gebets anzeigt. Die Gottesdienste selbst waren ebenfalls der deutsch-jüdischen orthodoxen Tradition verpflichtet.
Ungefähr 3.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich erreichten Schweden zwischen 1933 und 1939. Ab 1943 gewährte Schweden Juden, die aus Norwegen und Dänemark stammten oder dorthin geflohen waren, wie Walter A. Berendsohn, Schutz und Aufenthaltsrecht. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden zudem Opfer aus Bergen-Belsen mittels der Weißen Busse des Roten Kreuzes nach Schweden gebracht. Insgesamt kamen nach 1945 11.500 Juden nach Schweden. Adat Jeschurun diente somit anfänglich als Sammelpunkt für Überlebende der NS-Konzentrationslager und wurde später zum Besuchsziel für orthodoxe jüdische Touristen aus aller Welt. Unter dem norwegisch-jüdischen Flüchtling A.I. Jacobson als ihrem ersten Rabbi übernahm die neue Synagoge den Nusach – die Liturgie des Gottesdienstes – der westlichen jiddischen Tradition, die in Deutschland vor der Shoah existiert hatte: den Minhag Ashkenaz. Als „yekisheshul“ bezeichnet, fügte sie der religiösen Landschaft Stockholms eine weitere Gebetsstätte hinzu: ein Gotteshaus, das untrennbar mit einer neuen Gemeinde von Juden verbunden war, die in Schweden eine Heimat gefunden hatten.
Obwohl die jüdische Bevölkerung der Stadt vor 1939 aus nicht mehr als ca. 7.000 Juden bestand, verkörperte diese räumlich eine religiöse Vielfalt. Nachdem Juden 1774 das Aufenthaltsrecht im Königreich Schweden erhalten hatten, migrierten Juden aus Dänemark, Preußen und den Hansestädten nach Stockholm. Da die neu erbaute Synagoge eine Orgel enthielt, kam es innerhalb der Gemeinde zu einer religiösen Spaltung, die 1871 zu der Gründung der orthodoxen Synagoge Adat Jisrael führte. Einige der osteuropäischen Juden, die zwischen den 1860er und 1910er Jahren nach Stockholm gezogen waren, besuchten diese Synagoge, wo der Nusach der litauischen, nordöstlichen Tradition, der Minhag Polin, befolgt wurde.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existierten in Stockholm vier Minjanim. Diese unterschieden sich nach religiösen, kulturellen und sozialen Kategorien und waren geografisch über das Stadtgebiet verteilt. Ein Minjan argumentierte, dass seine Gottesdienste „polnisch“ seien und sich insofern von denen der Adat Jisrael unterschieden. Es lässt sich argumentieren, dass die Gemeindevorsteher auf kulturelle Unterschiede und den möglichen Gebrauch eines anderen Dialekts – Zentraljiddisch (polnisches Jiddisch) – anspielten. Allerdings war dieser Dialekt nicht gleichbedeutend mit den existierenden, rituell unterschiedlichen Gottesdiensten. Ein anderer Minjan wiederum beschrieb seine Mitglieder als arme Handwerker. Nichtsdestotrotz bildeten sie zusammen die Existenz verschiedener religiöser Gruppen in der schwedischen Hauptstadt ab und spiegelten so die verschiedenen Gruppen unter den jüdischen Migranten wider. Auch wenn die jüdische Bevölkerung Stockholms weitaus kleiner war als die der großen europäischen Metropolen, drückte sich in ihr dennoch eine religiöse Vielfalt aus. Der religiöse Pluralismus, der in Hamburg existierte, wurde zu einem gewissen Grad in Stockholm repliziert, wenn auch in kleinerem Maßstab. Mit ihrer Einweihung 1940 wurde Adat Jeschurun zu einer physischen Manifestation der Ankunft einer neuen Gruppe jüdischer Einwanderer, zunächst der Holocaust-Überlebenden und später den Vertretern deutscher orthodoxer religiöser Gebetsriten.
Der Transfer religiöser Eigenheiten von Deutschland nach Schweden war ein gängiger Prozess innerhalb des schwedisch-jüdischen Lebens vor der Shoah, der innerjüdische Strukturen und soziale Hierarchien deutlich prägte. So erhielten beispielsweise die beiden Oberrabbiner der Gemeinde, Gottlieb Klein und Marcus Ehrenpreis im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert eine weltliche Bildung in Deutschland, wodurch das Reformjudentum in Stockholm gestärkt wurde. Insbesondere Ehrenpreis wurde zu einer zentralen Figur für die Ausgestaltung des räumlichen Ausdrucks religiöser Vielfalt in Stockholm. So beantragten die zuvor erwähnten Minjanim finanzielle Unterstützung von der liberalen Hauptgemeinde, um den Fortbestand ihrer Betgemeinschaften sichern zu können. Während die Entscheidung bei den aus Laien bestehenden Gemeindevorständen lag, wurde Ehrenpreis um Gutachten gebeten. Nachdem er z.B. den „polnischen“ Minjan besucht hatte, schrieb er, er könne „keine liturgischen Unterschiede finden […], obwohl ich nicht bestreiten will, dass es psychologische Gründe geben mag, die zum Teil das Interesse der Leute an diesem Minjan erklären können“. Die Gemeindevorsteher hörten auf ihn und verweigerten die finanzielle Unterstützung. In den 1920er Jahren wurde Ehrenpreis ebenfalls in der Frage der finanziellen Unterstützung für eine Mikveh für Adat Jisrael konsultiert. Er zitierte deutsche Rabbis als er argumentierte, „das rituelle Frauenbad ist eine althergebrachte jüdische Institution teilweise hygienischer und teilweise symbolischer Natur, welche nicht direkt in der Torah vorgeschrieben ist“. Das Geld wurde auch in diesem Fall verweigert.
Die Bedeutung von Statusträgern innerhalb der Gemeinde für die Übertragung, Kontinuität und potenzielle Stärkung verschiedener religiöser Stätten und traditioneller Riten wird durch das oben erwähnte Beispiel von Marcus Ehrenpreis deutlich. Ein weiteres Beispiel ist Jacob Ettlinger, Gemeindevorsitzender von Adat Jisrael von den 1920er bis 1940er Jahren. Trotz des Mangels an Geldern für die Mikveh war Ettlinger der einzige orthodoxe Gemeindevorsteher, dem es gelang, finanzielle Unterstützung für eine religiöse Gruppe abseits der reformierten Hauptgemeinde zu gewinnen. Er wurde 1880 in Mannheim geboren und war ein Enkel des Hamburger Rabbis Jacob Ettlinger, einem der wichtigsten Vertreter des modernen orthodoxen Judentums. Nachdem er als Metall- und Erzhändler nach Schweden ausgewandert war, siedelte Ettlinger sich in einem der neu bebauten, modernen Stadtviertel an und engagierte sich in verschiedenen mit der liberalen Hauptgemeinde verbundenen Organisationen wie der Armenhilfe und der Religionsschule. Für letztere gelang es ihm, Unterstützung für mehr Hebräischunterricht zu gewinnen. Im Vergleich zu anderen Führungsfiguren der Orthodoxen in Stockholm war Ettlinger der einzige mit einem deutschen Hintergrund und enger Bekanntschaft mit den liberalen Gemeindevorsitzenden, was ihm innerhalb der Gemeinde einen höheren Status verschaffte, durch den er besser in der Lage war, sich für Adat Jisrael stark zu machen. Als das Schächten 1937 in Schweden verboten wurde, schrieben sowohl Ettlinger als auch Ehrenpreis an deutsche Rabbis, um deren Rat einzuholen. Letzterer korrespondierte beispielsweise mit dem Oberrabbiner Joseph Carlebach in Hamburg.
Vor dem Hintergrund der Handlungen Marcus Ehrenpreis‘ und Jacob Ettlingers dient Hans Lehmann als weiteres Beispiel der transnationalen Übertragung religiöser Eigenheiten von Deutschland nach Schweden. Lehmanns Söhne betonten in mehreren Artikeln, dass die „guten“ Beziehungen ihres Vaters zu Oberrabbiner Joseph Carlebach den Transport der Synagoge über die Ostsee möglich gemacht hätten, wobei der neu gegründete Minjan des ersteren in seiner Wohnung vermutlich für letzteren von Interesse war. So zitiert der Artikel in Dagens Nyheter Carlebach mit den Worten „Ihr bekommt die ganze Synagoge, wenn ihr den Transport arrangieren könnt.“ Hans Lehmann wiederum nutzte sein Unternehmen, um die Synagoge als Holztransport zu verschiffen. Er zahlte für die Restaurierung der geschändeten Bänke, und die Synagoge aus der Heinrich-Barth-Straße wurde als Adat Jeschurun wiedererrichtet. Der Name soll von einer Synagoge in Halberstadt aus dem 18. Jahrhundert inspiriert gewesen sein, dies war die Heimatstadt eines Vorfahren Lehmanns, dem Hofjuden Behrend Lehmann. Einige Historiker/innen vermuten außerdem, dass die Synagogeneinrichtung zuerst in Lehmanns Minjan genutzt wurde und dort half, eine religiöse Flüchtlingsgemeinde „im Hamburger Geist“ aufzubauen, womit der Zusammenschluss von aschkenasischen und sephardischen Gemeinden gemeint ist. Insofern könnte der Status von Adat Jeschurun als Sammlungspunkt für Flüchtlinge das Resultat einer bewussten Entscheidung und Strategie Hans Lehmanns gewesen sein, der selbst die jüdische Gemeinde in Hamburg vor der Shoah erlebt hatte.
Als 1988 in Stockholm der Opfer der Novemberpogrome gedacht wurde, fiel dem Neffen Joseph Carlebachs, Alexander Carlebach, das relativ reiche schwedisch-jüdische Leben dort auf: der jüdische Kindergarten und die Vorschule und Schule, die verschiedenen Synagogen sowie das Angebot an koscheren Lebensmitteln. Zu diesem Zeitpunkt hatte Adat Jeschurun ihre „yekishe“ Identität verloren und fungierte – wie sie es bis heute tut – als Synagoge mit einer Mischung verschiedener Nusachim. Als ein aus Hamburg importiertes Gotteshaus spielte Adat Jeschurun jedoch eine wichtige Rolle für die Kontinuität traditionell jüdischen Lebens in Schweden während der 1940er bis 1960er Jahre. Die Migration des religiösen Raumes – materielle Einrichtungsgegenstände, liturgische Traditionen und praktizierende Gläubige –aus Deutschland nach Schweden war, wie zuvor beschrieben, ein normaler Bestandteil der schwedisch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, welcher die Struktur des jüdischen Gemeindelebens in Stockholm prägte. Ebenso waren die Entwicklung des schwedischen Zionismus sowie moderner kultureller Institutionen wie des Kaffeehauses, des Feuilletons und der Fotografie abhängig von jüdisch-deutschen-schwedischen Kontakten.
Der fortbestehende Kontakt der jüdischen Migranten über Landesgrenzen hinaus sowie die spätere Migration religiöser und kultureller Einflüsse und Anregungen war in der Tat eine jüdische Modernitätserfahrung, für welche die Verlagerung der Synagoge aus der Heinrich-Barth-Straße nur ein Beispiel darstellt. Obwohl der Kontakt mit Hamburg durch die Shoah abbrach und die jüdische Bevölkerung Hamburgs nach 1945 ihre religiöse und kulturelle Umwelt wiederaufbauen musste – ihre erste Synagoge nach der Shoah wurde erst 1960 eingeweiht – illustriert der Artikel in Dagens Nyheter, wie ein kleiner Teil des früheren jüdischen Lebens in Hamburg auf der anderen Seite der Ostsee überlebte. Der Artikel gibt Aufschluss über ein bisher nicht erforschtes Kapitel in der Geschichte schwedisch-deutsch-jüdischer Beziehungen und zeigt, inwiefern der enge Kontakt zwischen Hamburg und Stockholm vor dem Zweiten Weltkrieg sowohl das Überleben eines deutschen jüdischen Gotteshauses als auch die Einrichtung eines spirituellen Zufluchtsortes für Holocaust-Überlebende in Stockholm ermöglichte, die dem traditionellen Ritus des mit Deutschland assoziierten Nusach Minhag Ashkenaz folgten. Insofern dokumentiert er, wie die jüdische moderne Erfahrung transnationaler Verbindungen genutzt wurde, um jüdisches Leben zu mobilisieren und angesichts und trotz der Zerstörung zu bewahren.
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Maja Hultman ist Doktorandin an der University of Southampton, affiliiert mit dem Parkes Institute for Jewish/non-Jewish Relations, und Doktorandin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Ihre Forschungsinteressen sind: Jüdische Räume des 19. und 20. Jahrhunderts, Stadtgeschichte, Migration und Transnationalität sowie digitale Geisteswissenschaften.
Maja Hultman, Die Synagoge in der Heinrich-Barth-Straße und die transnationalen Verbindungen zwischen Stockholm und Hamburg (übersetzt von Insa Kummer), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 09.07.2019. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-252.de.v1> [26.12.2024].