Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) hat im März 2020 einen Leitfaden veröffentlicht und per E-Mail an ihre Mitglieder versandt. Darin geht es angesichts des bevorstehenden Pessachfestes des Jahres 5780 / 2020 um Empfehlungen für den Einkauf von nicht mit dem besonderen Koscher-Zertifikat für Pessach ausgezeichneten Lebensmitteln aufgrund „der aktuellen Notsituation“.
In einer Zeit, in der Wohnviertel, in denen viele orthodoxe Juden leben, besonders von COVID-19 heimgesucht werden, ist es angeraten, sich daran zu erinnern, dass das Judentum schon früh Ausnahmeregeln mit Blick auf die ansonsten strikt einzuhaltenden 613 Gebote und Verbote festgelegt hat. Auch modern anmutende sozialhygienische Maßnahmen, darunter auch solche in Zeiten von Epidemien, findet man bereits im Talmud. So heißt es im Traktat Baba Qamma 60b: „Die Rabbanan lehren: Ist eine Seuche in der Stadt, so halte deine Schritte zurück, denn es heißt: keiner von euch soll bis morgens früh zur Tür seiner Wohnung hinausgehen.“ Und weiter wird dort von Seiten der Rechtsgelehrten die Warnung ausgesprochen: „Ist eine Seuche in der Stadt, so gehe man nicht in der Mitte der Straße, weil der Todesengel in der Mitte der Straßen umhergeht.“ Selbst der Synagogenbesuch wird in Zeiten einer Epidemie speziell geregelt: „Ist eine Seuche in der Stadt, so gehe man nicht einzeln in ein Bethaus, weil der Todesengel darin seine Geräte verwahrt. Diese jedoch nur dann, wenn daselbst keine Schulkinder die Schrift lesen und keine Zehn der für einen öffentlichen Gottesdienst erforderliche Minjan von 10 Männern das Gebet verrichten.“ Bereits in der Spätantike nahmen also jüdische Rechtsgelehrte eine Ansteckungsgefahr durchaus ernst.
Als 1831 überall in Europa die Cholera grassierte, wurde einer der damals führenden jüdischen Rechtsgelehrten, Rabbi Akiva Eger (1761–1837), um Rat gefragt, wie man es mit größeren Ansammlungen, beispielsweise zum gemeinsamen Gebet in der Synagoge halten solle. Sein rabbinisches Gutachten sieht die Regelung vor, dass die Gottesdienste zeitlich gestaffelt werden und sich jeweils nicht mehr als 15 männliche Personen gleichzeitig zum Gebet einfinden sollen. Bei einem zu großen Zustrom an Menschen dürfe man sogar Sicherheitspersonal einsetzen oder die Polizei rufen. Diese Verhaltensanweisung brachte ihm nach Abflauen der Epidemie ein hohes Lob seitens der Gesundheitsbehörden ein.
Inwiefern handelt es sich bei den hier vorliegenden Einkaufsempfehlungen nun um ein sogenanntes Schlüsseldokument, das „thematische Schlaglichter auf zentrale Aspekte der jüdischen Geschichte“ wirft? Der Zeithistoriker würde diese Frage selbstverständlich bejahen, denn bekanntlich ist für die Definition einer Quelle das Forschungsinteresse des jeweiligen Historikers maßgeblich. Und warum sonst sammelt die weltberühmte Widener Library der Harvard University sogar Werbebeilagen israelischer Tageszeitungen?
Das jüdische Gesetz, die Halacha, regelt bis ins kleinste Detail, wie Juden das Pessachfest feiern, das an den Auszug aus Ägypten erinnert. Die einschlägigen Vorschriften findet man unter anderem im Schulchan Aruch, einer von Josef Karo im frühen 16. Jahrhundert und später von anderen jüdischen Rechtsgelehrten immer wieder überarbeiteten autoritativen Zusammenfassung religiöser Vorschriften, die auch die aschkenasische Rechtsauslegung berücksichtigt. Die gegenwärtige COVID-19-Pandemie stellt die traditionelle Feier des Pessachfestes nicht nur in Deutschland vor große Schwierigkeiten. So bedürfen Abweichungen von den strengen Koscher-Vorschriften, die für dieses Fest gelten, einer besonderen Rechtfertigung, die von der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, vorgegeben sind.
An erster Stelle kommt die Regel, dass die Rettung von Menschenleben das oberste Gebot im Judentum ist. Diese ethische Verpflichtung wird als pikuach nefesch wörtlich: Rettung der Seele bezeichnet. So heißt es beispielsweise in der Mischna im Traktat über den Versöhnungstag Jom Kippur: „Wer Halsschmerzen hat, dem darf man auch am Sabbat Medizin geben, weil er möglicherweise in Lebensgefahr ist, und jede Lebensgefahr bricht [= verdrängt] den Sabbat“ (Joma 8.6.). Ausnahmen von dieser generellen Regel gelten nicht im Falle von Götzendienst, Unzucht und Mord. Diese Verbote dürfen also keinesfalls mit einer solchen Begründung übertreten werden.
An zweiter Stelle rangiert das talmudische Prinzip Dina de-malchuta dina: „Das Gesetz des Landes ist Gesetz“. Für Juden, die in der Diaspora leben, bedeutet das, dass sie grundsätzlich verpflichtet sind, die Gesetze des Landes, in dem sie leben, zu respektieren und zu befolgen. Das kann dazu führen, dass die Landesgesetze in bestimmten Fällen sogar vorrangig vor den Rechtsgrundsätzen der Halacha sein können. Allerdings lautet die überwiegende Lehrmeinung, dass dies nur für die sogenannten mamona (Fragen des Zivil-, Steuer und Finanzrecht) und nicht für den religiösen Bereich gelte.
Mit indirektem Verweis auf den talmudischen Rechtssatz Dina de-malchuta dina erklärt die ORD, dass die „behördlichen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen […] für den Chamez-Verkauf nicht gebrochen werden“ dürfen. Stattdessen solle man das Chamez beispielsweise online „über die Seite der Orthodoxen Rabbinerkonferenz“ pro Forma verkaufen. Die Halacha verbietet den Besitz von Chamez (gesäuertes Backwerk) in den Pessach--Tagen (2. Mose 13:6). Deshalb muss man sich rechtzeitig vor Pessach von jeglichem Chamez trennen. Das kann bei einer größeren Menge durch einen meist symbolischen Verkauf an einen Nichtjuden geschehen. Ein früher Beleg dafür findet sich in der Tosefta, ein rabbinisches Sammelwerk aus dem 2. Jahrhundert n.u.Z., wo es im Traktat Pessachim heißt, dass ein Jude einem Nichtjuden, wenn sich beide auf einem Schiff befinden, „seinen Chamez verkaufen“ darf, „jedoch muss dieser ein rechtswirksamer Verkauf sein.“ (Tosefta Pessachim 2:6). Anders als bei einem normalen Verkauf, bei welchem der neue Besitzer die gekaufte Ware zu sich nimmt und den üblichen Marktwert bezahlt, bleibt der Chamez im Besitz des Juden und es wird nur eine symbolische Summe gezahlt. Da dieses „Geschäft“ normalerweise die Präsenz beider Vertragsparteien voraussetzt, wird in diesem Jahr aufgrund der von den Gesundheitsbehörden erlassenen Kontaktverbote darauf verzichtet und das traditionsreiche Rechtsgeschäft im Internet abgewickelt.
Aktuell erweist es sich für religiöse Juden, die normalerweise die strengen Speisevorschriften für Pessach befolgen, also als schwierig, das Verbot zu befolgen, Chamez im Besitz bzw. im Haus zu haben. Hinzukommt: auch der Erwerb von Nahrungsmitteln, die speziell für den Verzehr für Pessach durch ein entsprechendes Kaschrut-Zertifikat als erlaubt bezeichnet werden, birgt aufgrund von Lieferengpässen und Grenzsperren Herausforderungen. Deshalb dürfe man auch ausnahmsweise solche Lebensmittel verzehren, die nur den regulären Hechscher Koscher-Stempel haben. Unter den Nahrungsmitteln, die in der gegenwärtigen Ausnahmesituation laut der ORD-Liste auch ohne Kascher-le-Pessach-Zertifikat gekauft werden dürfen, sind unter anderem frisches Obst und Gemüse (mit Ausnahme von bestimmten Hülsenfrüchten, sogenannten kitnijot, diese allerdings nur nach aschkenasischer Tradition). Weiterhin sind Eier, frischer Fisch und frisches Fleisch erlaubt. Während des restlichen Jahres gilt hinsichtlich Kaschrut das Prinzip batel be-schischim. Das heißt, wenn eine Speise weniger als 1/60 einer verbotenen Substanz enthält und diese für Geschmack und Konsistenz der Speise nicht relevant ist, wird diese trotzdem als koscher angesehen. Allerdings darf diese Regel an Pessach nicht auf Backwaren angewandt werden. Während dieser Zeit macht die kleinste Menge Chamez das Gebackene unrein. Und was hat es mit dem Hinweis in der Liste auf sich, möglichst nur weiße Eier zu verwenden? Dahinter verbirgt sich die Erfahrung, dass braune Eier häufiger Blutspuren im Dotter haben, weil diese bei der standardmäßigen Durchleuchtung leichter übersehen werden.
Die hier dokumentierte Empfehlungsliste für den Einkauf zu Pessach im Jahr 5780 ist ein bemerkenswertes zeitgenössisches Zeichen für die religiöse Sorgfaltspflicht mit Blick auf die Einhaltung der halachischen Vorschriften für den Pessach--Einkauf in Corona-Zeiten. Sie verweist auf die alltäglichen Bedürfnisse der modernen Lebenswelt und bringt gleichzeitig zum Ausdruck, worauf ein Verzicht auch in Krisenzeiten undenkbar scheint. Und zugleich verweist sie auf eine besondere Flexibilität von rabbinischer Seite unter dem Zwang staatlicher Hygienevorschriften. Die gegenwärtigen Regelungen haben nämlich auch gravierende Auswirkungen auf die Anlieferung und Bereitstellung streng koscherer Konsumgüter und Lebensmittel in einem Land wie Deutschland, in dem Juden Teil einer Mehrheitsgesellschaft sind.
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Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Robert Jütte ist seit 1990 Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Er war von 1983 bis 1989 Dozent, dann Professor für Neuere Geschichte an der Universität Haifa/Israel und lehrt seit 1991 an der Universität Stuttgart. 2018 erhielt er den Honorary degree „Doctor of Hebrew Letters“ vom Spertus Institute for Jewish Learning and Leadership, Chicago. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin, Geschichte der Alternativen Medizin, Alltags- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, jüdische Geschichte.
Robert Jütte, Vorbereitungen zu Pessach in Zeiten von COVID-19, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 08.04.2020. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-262.de.v1> [22.12.2024].