Die Ärztin Rahel Liebeschütz-Plaut. Abbruch einer wissenschaftlichen Karriere wider Willen

Doris Fischer-Radizi

Quellenbeschreibung

Rahel Plaut habilitierte sich 1923 als erste Frau an der Medizinischen Fakultät Hamburg und als dritte Frau in Deutschland überhaupt mit einer Arbeit über isometrische Kontraktionen am Skelettmuskel. In dem vorliegenden Auszug aus ihrem Tagebuch von 1922 beschreibt sie ihren Besuch des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin im April 1922 in Wiesbaden. Der Kongress der Internisten war einer der wichtigsten Kongresse des wissenschaftlichen Austausches. 1922 hielt nur eine Frau, die Internistin Klotilde Meier, einen Vortrag. Rahel Plaut konnte mit der Hilfe Otto Kestners (ehem. Cohnheim), der ihr seine Zeit für einen Diskussionsbeitrag ließ, ihre Forschungsergebnisse vortragen, die auch bei den Kollegen Anerkennung fanden. Die Aufzeichnungen sind in dem 19. Tagebuch von insgesamt 73 enthalten, die Rahel Liebeschütz-Plaut von ihrem achten bis 98. Lebensjahr verfasst hat. Sie waren ihr wichtiger als ihre wissenschaftlichen Arbeiten. Letztere hat sie nicht mit in die Emigration genommen. Die Tagebücher wurden nicht kontinuierlich geschrieben. Manche Jahrgänge weisen große Lücken von ein bis zwei Monaten auf, manche sind Tag für Tag eng beschrieben. Über ihre Gefühle gibt sie selten Auskunft, ihre Ansichten über andere Menschen fallen manchmal recht hart aus. Ihre Tagebücher sind eine Fundgrube erlebter Geschichte und geben Einblick in Persönliches, Berufliches und Politisches ebenso wie in das Innere von Institutionen wie dem Eppendorfer Krankenhaus. Die Tagebücher dienten ihr als Quelle für ihre biografischen Aufzeichnungen über ihren Vater sowie ihr Manuskript über ihre Zeit in Hamburg von 1932 bis 1938, das sie im Alter von 85 Jahren für ihre Enkelkinder geschrieben hat. Die 73 Tagebücher befinden sich mit vielen anderen Aufzeichnungen im Familienarchiv in Winchester. Maggie Carver hat mir freundlicherweise die Tagebücher nicht nur zur Digitalisierung, sondern auch zur weiteren Verwendung überlassen.

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Die Wissenschaftlerin Rahel Plaut – Biografisches


Rahel Plaut Da in diesem Text eine Zeit vor der Heirat von Rahel Plaut mit Hans Liebeschütz beschrieben wird, benutze ich ihren Geburtsnamen. stammte aus einer jüdischen Familie, deren Mitglieder die Möglichkeiten der Judenemanzipation im 19. Jahrhundert genutzt und es zu Wohlstand gebracht hatten. Ihre Eltern gehörten der liberalen, jüdischen Tempelgemeinde an. Der Vater Hugo C. Plaut leitete das Pilzinstitut am Krankenhaus Eppendorf und war ein international anerkannter Forscher auf diesem Gebiet. Die Mutter kam aus einer vermögenden Familie, die ursprünglich aus Alzey kam und jetzt in Hamburg lebte. Rahel Plaut trat in die Fußstapfen des Vaters und studierte ebenfalls Medizin. Nach kurzer klinischer Tätigkeit war sie seit 1919 wissenschaftliche Mitarbeiterin, ab 1923 Privatdozentin im Physiologischen Institut des Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf, das von Otto Kestner geleitet wurde. Sie gehörte zur zweiten Generation von Frauen, die studieren und einer akademischen Tätigkeit nachgehen konnten.

Der 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 1922 in Wiesbaden


In dem hier abgedruckten Auszug aus ihrem Tagebuch geht es um Rahel Plauts Teilnahme am 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin vom 24. bis 27.4.1922 in Wiesbaden. Dieser Kongress ist bis heute eine wichtige Institution der internistischen Fortbildung. 700 Ärzte kamen 1922 nach Wiesbaden, 126 Vorträge wurden gehalten, um die neuesten Erkenntnisse der medizinischen Forschung vorzutragen und zu diskutieren. Aus dem Eppendorfer Krankenhaus reisten neben Rahel Plaut acht Kollegen nach Wiesbaden, unter anderem ihr Chef, Otto Kestner und Fritz Rabe, ein Internist, mit dem sie einen Artikel zur eiweißarmen Ernährung veröffentlicht hatte. Der ärztliche Direktor des Eppendorfer Krankenhauses, Ludolph Brauer, in dessen 1. Medizinischer Abteilung Rahel Plaut vor ihrem Wechsel in das Physiologische Institut gearbeitet hatte, hielt in seiner Funktion als erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin die Festrede zu Beginn des Kongresses.

Rahel Plaut hatte gleich am ersten Kongresstag, am 24. April, die Gelegenheit, in einem Diskussionsbeitrag ihre Forschungsergebnisse über die „Wärmeregulierung der Leber“ vorzutragen. Otto Kestner hatte sich zu Wort gemeldet und ihr seine Redezeit überlassen. „Meine Sache macht bei den Beteiligten Eindruck. (L.R. Müller, [unleserliches Material], Grafe)“ schrieb sie in ihr Tagebuch. Rahel Plaut, TB 1922, 24. April. „Ihre Sache“ wurde von Erich Grafe, Internist aus Rostock, und Ludwig Robert Müller, Internist aus Erlangen, für interessant befunden. Beide hatten Vorträge zu Stoffwechsel und Innervation der Leber gehalten. Mit Müller aus Erlangen, Schenk und Walter Arnoldi (1881–1960), Internist an der Charité, den sie aus Berlin kannte, traf sie sich am nächsten Tag nach den ersten Vorträgen zum gemeinsamen Frühstück. Sie wurde in den kollegialen, fachlichen Austausch einbezogen.

Die einzige Frau, die auf dem Kongress einen Vortrag hielt, war Klotilde Meier. Sie sprach über das Thema: „Oberflächenveränderungen der Erythrozyten unter dem Einfluss des elektrischen Stroms“. In ihrem Tagebuch erwähnt Rahel Plaut ihre Kollegin Klotilde Meier nicht. Es ist anzunehmen, dass sie auf dem Kongress keinen Kontakt miteinander hatten. Erst als Klotilde Meier 1932 die Leitung des Instituts für experimentelle Pharmakologie und Balneologie der Universität Hamburg übernahm, suchte Rahel Plaut sie auf, um ihren medizinischen Rat zur Behandlung der Herzinsuffizienz ihrer Mutter einzuholen. Anschließend notierte sie in ihrem Tagebuch: „Sie macht sehr guten Eindruck und rät zu etwas Digitalis, salzarme[r] Kost & kein Trinken nach 5 Uhr abends“. Rahel Liebeschütz-Plaut, TB, 1932, 8. Februar.
Über weitere Begegnungen ist nichts bekannt.

Am dritten Kongresstag in Wiesbaden hielt Arthur Biedl, Internist aus Prag, einen Vortrag über die Hypophyse. „Glänzend“ notierte Rahel Plaut in ihrem Tagebuch. Biedl gilt als Begründer der Endokrinologie. Und Biedl, so schrieb sie, hielt den Vortrag von Otto Kestner zum Thema „Gaswechsel bei Hypophysenerkrankungen“ für den wichtigsten Vortrag zum Thema. Sie war mit ihren eigenen Arbeiten zur Hypophyse zwar nicht auf dem Kongress präsent, aber doch ganz nah an einem neuen Forschungsthema, der Endokrinologie. Rahel Plaut, TB, 1922, 26. April.

Der inoffizielle Kongress


Neben dem offiziellen Austausch spielten die inoffiziellen Treffen in den Kaffeepausen und das Abendessen eine wichtige Rolle. Ob außer Rahel Plaut und Klotilde Meier noch weitere Frauen am Kongress teilnahmen, ist nicht bekannt. Für die Männer war es ungewohnt, auf ihren beruflichen Wegen Frauen zu begegnen. Frauen konnten erst ab 1900 in Deutschland studieren, an der Charité in Berlin erst 1909. 1922 hatten sich erst zwei Frauen habilitiert. Die nächste würde Rahel Plaut sein.

Auf der Fahrt nach Wiesbaden fuhr Rahel Plaut zwar mit vier Eppendorfer Kollegen im gleichen Zug, sie hatten aber keinen Kontakt miteinander. Von ihren Eppendorfer Kollegen war sie gewohnt, auf dem Gelände des Krankenhauses nicht gegrüßt zu werden. Sie führte das frauenfeindliche Verhalten auf den Einfluss der Burschenschaften zurück. Wegen des aggressiven Klimas, erzählte sie später in einem Interview, seien die Frauen lieber in die Allgemeinen Krankenhäuser Barmbek und St. Georg gegangen. Astrid Dageförde, Interview mit Rahel Liebeschütz-Plaut, o. O. 1985 [Typoskript, Hamburger Bibliothek für Universitätsgeschichte, Ordner Rahel Liebeschütz-Plaut]. Auch der Alltag im Eppendorfer Krankenhaus war geschlechtergetrennt organisiert. Im Ärztecasino aßen die männlichen Assistenzärzte. Rahel Plaut hingegen nahm ihre Mahlzeiten am Frauentisch in der allgemeinen Kantine ein, der neben dem großen Tisch der Medizinalassistenten, also der Ärzte in Ausbildung, stand.

Erst durch ihren Diskussionsbeitrag wurde sie von den männlichen Kongressteilnehmern wahrgenommen und Kollegen kamen auf sie zu. So saß sie am zweiten Konferenztag auch mit den Hamburger Kollegen Konrad Bingold und Emil Le Blanc beim Kaffee zusammen.

Von dem großen Festessen, das ebenfalls am zweiten Kongresstag stattfand, wurde sie jedoch ausgeschlossen. Trotz der wissenschaftlichen Qualifikation war sie kein vollwertiges Mitglied der tagenden Gemeinde der Wissenschaftler. Der offizielle gesellige Anteil auf Kongressen, der auch der beruflichen Vernetzung diente, blieb der weiblichen Kollegin verwehrt. Die Wissenschaftlerin Rahel Plaut war beim Damenessen für die begleitenden Ehefrauen eingeladen, zu dem „[d]ie Herren" spät und „in höchster Stimmung“ dazukamen, wie sie in ihr Tagebuch notiert. Rahel Plaut, TB 1922, 25. April.

Rahel Plauts wissenschaftliche Laufbahn


Nach ihrer Approbation und Promotion im Frühjahr 1918 und viermonatigen Tätigkeit als Medizinalassistentin bei Siegfried Korach (1855–1943), dem leitenden Arzt der internistischen Abteilung des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg, hatte Rahel Plaut ein Jahr in der I. Medizinischen Abteilung am Eppendorfer Krankenhaus gearbeitet. Sie betreute mit einem Kollegen vier Stationen, die von Frauen und Kindern belegt waren, und hatte am Physiologischen Institut nebenbei über die „Regelung der Milchsekretion“ geforscht. Aber bereits nach einem Jahr wurde ihr wie allen Frauen und den jungen Ärzten, die nicht als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, gekündigt, um den heimkehrenden Kriegsteilnehmern Platz zu machen.

Zeitgleich wurde Otto Kestner eine neue Assistentenstelle genehmigt, die er Rahel Plaut anbot. Am 1.11.1919 trat sie ihre Assistentenstelle am Physiologischen Institut im Krankenhaus Eppendorf an, das seit April 1919 auch eine Medizinische Fakultät hatte. Als Rahel Plaut im April 1922 zum Kongress nach Wiesbaden fuhr, hatte sie bereits zweieinhalb Jahre als Assistenzärztin am Physiologischen Institut gearbeitet. Dort hatte sie Kestner bei der Organisation der siebten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Physiologie im Mai 1920 in Hamburg unterstützt. Und sie konnte bereits ihre ersten Forschungsergebnisse über die „Einwirkung des Ovarialhormons auf das Becken“ vortragen. Bis zum Kongress in Wiesbaden hatte sie sieben Artikel zu verschiedenen Themen veröffentlicht. Am 24.1.1922 hatte sie die Ergebnisse ihrer Gaswechseluntersuchungen bei Erkrankungen der Hypophyse in der Biologischen Gesellschaft in einem unter Fachkollegen beachteten Vortrag vorgestellt. Rahel Plaut, TB 1922, 24. Januar. Zwei weitere Artikel zu dem Thema erschienen nach dem Wiesbadener Kongress.

Noch vor ihrem Aufenthalt in Berlin und vor dem Kongress in Wiesbaden hatte Rahel Plaut Grund zu hoffen, dass sie wieder in die Innere Abteilung zurück wechseln könnte, die sie 1919 nur ungern verlassen hatte. Im Februar 1922 machte Ludolph Brauer ihr ein verlockendes Angebot: eine Assistentenstelle mit eigener Abteilung. Sie müsse aber noch abwarten. Für den bevorstehenden Aufenthalt in Berlin bei Max Cremer und Peter Rona solle sie sich mit der neuen Methode des Electrocardiogramms und Alkaleszenzbestimmung beschäftigen.

Am 7. März begann sie ihre Hospitation bei Prof. Max Cremer, Leiter des Physiologischen Instituts an der Tierärztlichen Hochschule Berlin und arbeitete an der Methode zur Messung des Aktionsstroms von Nerven, Kestners Vorschlägen entsprechend, obwohl sie noch Hoffnungen hatte, in die Klinik zurückkehren zu können. Erst am 17. Juni schrieb sie in ihr Tagebuch: „Brauers Sache ziemlich aussichtslos. Werde wohl zu Kestner zurück.“ Zurück in Hamburg blieb sie bei Kestner, mit dem sie in den kommenden Jahren wichtige Arbeiten durchführen und Berichte veröffentlichen sollte, Und sie verfasste ihre Habilitationsschrift über isometrische Muskelkontraktion, die sie 1923 veröffentlichte.

Ausblick


Ihre wissenschaftliche Tätigkeit musste Rahel Plaut wider Willen beenden, als sie 1924 Hans Liebeschütz heiratete. Als Privatdozentin hielt sie weiter Vorlesungen, bis ihr 1933 als Jüdin die Lehrerlaubnis von den Nationalsozialisten entzogen wurde. Sie emigrierte 1938 mit ihrer Familie nach Großbritannien und kehrte nach 1945 nur noch zu Besuchen nach Hamburg zurück. Zur 100-Jahrfeier des Universitäts Krankenhauses Hamburg-Eppendorf wurde sie, inzwischen 95-jährig, als Ehrengast eingeladen. Der ärztliche Direktor und Sprecher des Fachbereichs Medizin, Prof. Karl Heinz Hölzer entschuldigte sich in einer Veranstaltung zu ihren Ehren persönlich für das Unrecht, das ihr angetan wurde und Prof. Rumberger vom Physiologischen Institut hielt einen Vortrag über ihre Forschungen. Rahel Liebeschütz-Plaut verbrachte ihre letzten Lebensjahre bei ihrer Tochter Elisabeth. Sie verstarb fast 100-jährig am 22.12.1993.

Auswahlbibliografie


Ludolf Brauer / Anton Géronne (Hrsg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Vierunddreissigster Kongress, gehalten zu Wiesbaden, vom 24.–27. April, München 1922.
Eva Brinkschulte (Hrsg.), Spurensuche. Erste Ärztinnen in Hamburg und am UKE, Hamburg 2014.
Astrid Dageförde, Interview mit Rahel Liebeschütz-Plaut, o. O. 1985 [Typoskript, Hamburger Bibliothek für Universitätsgeschichte, Ordner Rahel Liebeschütz-Plaut].
Doris Fischer-Radizi, Vertrieben aus Hamburg, in: Hamburger Ärzteblatt (2019), S. 34-35.
Doris Fischer-Radizi, Vertrieben aus Hamburg. Die Ärztin Rahel Liebeschütz-Plaut, Göttingen 2019.

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Zur Autorin

Doris Fischer-Radizi, geb. 1956, Fachärztin für Allgemeinmedizin, bis 2013 niedergelassen in Hamburg. Sie promovierte über Ehe und Sexualberatungsstellen in der Weimarer Republik und hat durch die ehrenamtliche Mitarbeit am Medizinhistorischen Museum des Universitätskrankenhauses Eppendorf wieder an medizinhistorische Themen angeknüpft. In ihren Veröffentlichungen beschäftigt sie sich mit Ärztinnen und Genderaspekten in der Medizin sowie der Wahrnehmung des weiblichen Körpers durch die medizinische Wissenschaft.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Doris Fischer-Radizi, Die Ärztin Rahel Liebeschütz-Plaut. Abbruch einer wissenschaftlichen Karriere wider Willen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 17.06.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-276.de.v1> [21.11.2024].

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