Wissenschaft lässt sich in der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte nur unscharf von religiöser Gelehrsamkeit trennen. Rabbinische Schriften oder religionsgesetzliche Polemiken etwa sind Zeugnisse einer vertieften Auseinandersetzung mit jüdischen Quellen. Im Zuge der Aufklärung veränderte sich die Herangehensweise an die Quellen und eine Reflektion über das methodische Vorgehen setzte ein. Damit trennten sich die Wege – wissenschaftliche Untersuchungen beanspruchten nun, sich in Wesen und Methode von religiösen Abhandlungen zu unterscheiden. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden philologische Studien im Rahmen der Orientalistik von der vorherrschenden christlichen Theologie gelöst und jüdische Quellen als historische Dokumente erforscht. In diesem Zusammenhang entstand die Wissenschaft des Judentums, eine intellektuelle Strömung, deren Zentrum in Berlin lag, während in Hamburg ebenfalls Ansätze dieser historisch-kritischen Erforschung des Judentums zu erkennen waren. Um Wissenschaft über das Judentum in dieser Stadt und im Raum Hamburg zu beschreiben, bietet sich eine Suche nach Zeugnissen der Gelehrsamkeit sowohl unter Nichtjuden, als auch unter Juden an, die hebräische Texte analysierten, Abhandlungen über religionsgesetzliche Fragen veröffentlichten oder rabbinische Literatur sammelten. Polemiken und Studien sowie Bibliotheken und Handschriftensammlungen, die lange vor der Gründung der Universität Hamburg im Jahr 1919 entstanden und eingerichtet wurden, verweisen auf das wissenschaftliche Leben in der Stadt. Hinweise auf außeruniversitäre Forschungstätigkeiten, die auf nichtjüdischer Seite unternommen wurden, geben die Orientalistik und christlich geprägte Hebraistik am Akademischen Gymnasium, der hebräische und arabische Buchdruck oder die Einrichtung von Bibliotheken und Sondersammlungen. Hamburg kann darüber hinaus auf eine Geschichte der jüdischen Gelehrsamkeit zurückblicken – Gemeindebibliotheken und private Sammlungen wurden in Synagogen, Beträumen und Klausen jüdisches Lehrhaus, Schule, jüdischen Schulen, Druckereien und Buchhandlungen, später in Logen und Vereinsheimen angelegt und genutzt. Auch sind innerjüdische, religionsgesetzliche Auseinandersetzungen, die in Hamburg geführt wurden, weit über die Stadt hinaus bekannt geworden. Im 19. Jahrhundert war die Hansestadt somit eine Sammelstelle für die deutschlandweit blühende Wissenschaft des Judentums, die hier recht zögerlich und später als in anderen Reichsstädten institutionell verankert wurde. Diese Entwicklung, die Ansätze zur Ausbreitung der Wissenschaft des Judentums zeigte, brach während der nationalsozialistischen Herrschaft ab, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler emigrieren mussten oder deportiert und ermordet wurden. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als deutlich wurde, welch geistige Schöpfungskraft verloren gegangen war, wurden Einrichtungen an Universitäten gegründet, An-Institute aufgebaut sowie Kurz- und Langzeitprojekte durchgeführt, um die Forschungen im Rahmen der Judaistik und Jüdischen Studien in der Bundesrepublik neu zu gestalten.
Die Vertreibung der jüdischen Gemeinden von der Iberischen Halbinsel und die Eroberung Antwerpens durch die spanische Armee im Jahr 1585 führten unter anderem dazu, dass sefardische Gelehrte, Ärzte und Rabbiner in den deutschsprachigen Raum, nach Hamburg und in die religiösen Freistätten Altona und Wandsbek zogen. Aschkenasen, von den Sefarden als Tudescos („Deutsche“) bezeichnet, zogen nach. Einige herausragende Gelehrte waren im Hamburger Raum als spirituelle Führer, Lehrer, Übersetzer oder als Drucker tätig und machten die Stadt als einen Ort jüdischer Gelehrsamkeit in der Frühmoderne bekannt. Rabbinische Studien wurden in der frühen Neuzeit bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Klaus jüdisches Lehrhaus, Schule betrieben, einer Stiftung vermögender Gemeindemitglieder. Der berühmte Rechtsgelehrte Zwi Hirsch ben Jacob Aschkenasi etwa leitete die Chacham-Zwi-Klaus in Altona. Eine weitere Grundlage für religiöse Gelehrsamkeit waren Druckereien, die eine Stadt oft weit über ihre Grenzen hinaus bekannt machten. Jakob Israel ben Zwi Emden, der Sohn des eben erwähnten Rabbiners war Privatgelehrter und Buchdrucker zugleich. Seine Druckerei genoss hohes Ansehen – Emden besaß Drucksätze mit der Raschischrift, aber auch mit den Quadratbuchstaben, vervielfältigte eigene Werke, Streitschriften und rabbinische Schriften. Sein Machzor Gebetbuch für die Feiertage war überregional bekannt und wurde in Shitomir und Lemberg nachgedruckt. Neben der Einrichtung von Lehrstätten und Druckereien geben private und gemeindeeigene Bücherbestände Hinweise auf eine jüdische Gelehrsamkeit. Bibliotheken waren in Synagogen, Beträumen und Klausen jüdisches Lehrhaus, Schule, jüdischen Schulen, Druckereien, Buchhandlungen, später Logen und Vereinsheimen zu finden. Zumeist sammelten wohlhabendere Familien religiöse und weltliche Bücher, Hebraica und andere wertvolle Drucke. Darunter waren die beiden größten jüdischen Privatbibliotheken, die Sammlungen David Oppenheimers und Heimann J. Michaels, die jedoch nicht in Hamburg verblieben, sondern 1829 nach Oxford und London zu einem „lächerlich“ Peter Freimark, Jüdische Bibliotheken und Hebraica-Bestände in Hamburg, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 20 (1991), S. 459–467, hier S. 460. niedrigen Preis verkauft wurden. In Hamburg verblieb die Sammlung Levy, die mit Bibelkommentaren, liturgischen, kabbalistischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Texten, Lyrik und Prosa recht breit gefächert ist. Die Stadtbibliothek erwarb diese Sammlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Christliche Gelehrtenschulen verfolgten vor allem ein protestantisch-theologisches Interesse an der jüdischen Geschichte und Literatur, das nicht selten in der Judenmission begründet war. Mit dem Hamburgischen Akademischen Gymnasium unterhielt auch die Hansestadt eine solche Schule. Diese im 17. und 18. Jahrhundert überregional angesehene Einrichtung richtete unter anderem eine Professur für morgenländische Sprachen ein. Die Lehrkräfte prägten die hiesige Hebraistik, wie der Sammler hebräischer Literatur Johann Christoph Wolf, der ab 1712 als Professor für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium tätig war.
Porträt von Johann Christoph
Wolf, unbekannter Künstler, vor 1779
Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei, bereitgestellt durch Staats- und Universitätsbibliothek
Hamburg Carl von Ossietzky.
Seine Privatbibliothek, die (Uffenbach-)Wolfsche Bibliotheca Hebraea, die ca. 25.000 Bände umfasste, ging um 1750 in die Hamburger Stadtbibliothek über. Die Sammlung kostbar illuminierter Handschriften ist ein wertvolles historisches Zeugnis der christlichen Hebraistik. Hamburg bildete, jedenfalls zur Blütezeit des Akademischen Gymnasiums, neben den Lehrstühlen in Leipzig, Jena, Halle, Göttingen und Berlin einen der Knotenpunkte der Orientalistik in den deutschen Ländern. Das Akademische Gymnasium war Teil einer für Hamburg typischen „Wissenschaft ohne Zentrum“ Rainer Nicolaysen, Wissenschaft ohne Zentrum. Über das Ende des Akademischen Gymnasiums 1883 und den schwierigen Weg zur Gründung einer Universität 1919, in: Dirk Brietzke / Franklin Kopitzsch / Rainer Nicolaysen (Hrsg.), Das Akademische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613–1883, Berlin / Hamburg 2013, S. 213–236., eines dezentral strukturierten Zusammenhangs von weiterführenden Lehranstalten und Sammlungen – der Stadtbibliothek, dem Botanischen Garten, der Hamburger Sternwarte, der Sammlung Hamburgische Altertümer, dem Museum für Völkerkunde und dem Chemischen Staats-Laboratorium. Juden war der Zugang zum Akademischen Gymnasium verwehrt, das auf das Studium an einer Universität vorbereitete. Allein nach der Konversion zum Christentum war es erlaubt, die Vorlesungen in den Freien Künsten zu besuchen. Im 19. Jahrhundert schwand das humanistische Gelehrtenideal des homo trilinguis, der die klassischen Sprachen Hebräisch, Latein und Griechisch beherrschte: Das Hebräische, das zentraler Bestandteil theologischer Forschung gewesen war, spielte fortan für christlich-neuhumanistische Studien kaum mehr eine Rolle. Und auch das Themenspektrum verengte sich: Alte Geschichte wurde allein auf griechische Geschichte reduziert. Die verbliebenen hebräischen und alttestamentlichen Studien an den deutschen Universitäten verfolgten missionarische Zwecke, wie das 1880 gegründete Institutum Judaicum Delitzschianum in Leipzig und das drei Jahre später eröffnete Institutum Judaicum in Berlin.
Mit der Zeit der Aufklärung (Haskala) und Emanzipation wurde Berlin zum intellektuellen Zentrum der deutschen Juden. Moses Mendelssohn und seine Anhänger veränderten nun wesentlich das Ideal jüdischer Gelehrsamkeit: Das Studium der Tora war nicht mehr ihr einziger Kern, die säkularen Fächer und europäische Sprachen wie Deutsch und Französisch gewannen an Bedeutung. Darüber hinaus wurde zunehmend Wert auf die Bildung der jüdischen Mädchen gelegt, die freilich nur den wohlhabenden Familien möglich war. Die Verbreitung aufklärerischer Schriften, Pamphlete und Aufrufe durch Druckereien und Buchhandlungen wurde durch die Pressezensur im gesamten Deutschen Bund erschwert. Doch unterstanden die Gemeinden Altona und Wandsbek dem Herzogtum Holstein bzw. der dänischen Krone und verfolgten eine liberalere Judenpolitik als die Hamburgische Bürgerschaft und die preußischen Städte. So wurde Altona zu einem Ort jüdischer Gelehrsamkeit, wo 1726 erstmalig ein Jude das Druckerprivileg erhielt. Ein Großteil der über 500 hebräischen Bücher, die vom 16. bis in das 19. Jahrhundert erschienen, wurde in Altona gedruckt. Berühmt für ihre künstlerische Gestaltung waren die Bücher der Druckerei des Israel ben Abraham Halle in Wandsbek und später Altona. Auch einige Christen druckten seit dem 16. Jahrhundert bis in die 1820er-Jahre aus humanistischen Motiven hebräische Bücher, wie zum Beispiel Elias Hutter oder Jakob und Georg Rebenlin. Im Zuge der Verschärfung der Zensur waren die Städte Altona und später auch Hamburg Refugien der Presse- und Publikationsfreiheit – sie boten Ausweichmöglichkeiten für die Publikation aufklärerischer Schriften.
Im 18. und 19. Jahrhundert rückte die historisch vergleichende Erforschung der jüdischen Tradition in den Vordergrund, die umfassende Sichtung und Inventarisierung der Überlieferung sowie eine hebräische und arabische Philologie als critica, also einer eigenständigen Disziplin. Die Anhänger der „Wissenschaft des Judentums“ vertraten einen historisch-kritischen Ansatz, der die Tradition, Gesetze und Bräuche als wandelbar begriff und sie in ihrer geschichtlichen Bedingtheit untersuchte.
Titelseite der Zeitschrift für die Wissenschaft des
Judenthums, Berlin 1822
Quelle: Goethe Universität Frankfurt am Main, Digitale
Sammlungen, Judaica, Compact Memory.
Leopold Zunz, Abraham Geiger, Moritz Steinschneider und andere bemühten sich, Lehrstühle für jüdische Geschichte und Literatur oder auch eine jüdisch-theologische Fakultät zur Ausbildung von Rabbinern an einer deutschen Universität zu begründen. Ihre Anstrengungen scheiterten am Unverständnis und zunehmenden Antisemitismus an den Hochschulen. Universitätsunabhängige Lehreinrichtungen der Wissenschaft des Judentums wurden in Padua, Breslau, Berlin und anderen Städten gegründet. In Hamburg entstand das Ortskomitee der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Vertreter waren z. B. der Pädagoge Immanuel Wohlwill, der an der Israelitischen Freischule unterrichtete. Er hatte bereits 1822 den Beitrag „Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“ in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums veröffentlicht. Daneben sind die Forschungen Max Grunwalds zu nennen, der 1898 die Gesellschaft für jüdische Volkskunde gemeinsam mit anderen Ethnologen ins Leben rief. Die Mitteilungen der Gesellschaft erschienen in Hamburg. Meyer Isler, Mitglied im Wissenschaftlichen Verein und Leiter der Stadtbibliothek von 1872 bis 1883 besuchte die Berliner Gesellschaften bei Leopold Zunz und Isaac Markus Jost. Diese Beispiele zeigen die ersten Blüten der Wissenschaft des Judentums, die auch in Hamburg auf Interesse stieß. Das entsprach der allgemeinen Tendenz: Zahlreiche wissenschaftliche Vereine entstanden, Sammlungen wurden vergrößert, während das Akademische Gymnasium in Hamburg geschlossen wurde. Seit der Gründung des Gymnasiums vergrößerte die Stadtbibliothek ihren Bestand hebräischer, arabischer, persischer und osmanischer Handschriften. Moritz Steinschneider verzeichnete nun die Sammlung hebräischer Manuskripte, die zu einer der größten Kollektionen an europäischen Bibliotheken angewachsen war. Lehranstalten zur Ausbildung von Rabbinern entstanden zeitgleich. Ihre Geschichte ist von der Wissenschaft des Judentums und der Entstehung der modernen jüdischen Gelehrsamkeit nicht zu trennen, denn die Auseinandersetzungen um den Stellenwert der jüdischen Tradition und ihre methodische Betrachtung blieben bei einer historisierenden Herangehensweise nicht aus. Die Vertreter der Rabbinerseminare und Jeschiwot talmudische Hochschule reformierten das Judentum oder bildeten eine gemäßigte Orthodoxie, lehrten gleichzeitig an Universitäten und setzten sich mit säkularen Ansätzen auseinander. Daher ist die Geschichte dieser Seminare mit der Entstehung der Wissenschaft des Judentums verwoben und auch im 19. Jahrhundert ist wissenschaftliche Tätigkeit nicht eindeutig von religiöser Gelehrsamkeit zu trennen.
Neben den älteren deutschen Universitäten wie Heidelberg, Würzburg, Leipzig, Rostock und Tübingen wurden im 19. Jahrhundert moderne Reformuniversitäten eingerichtet, die den konfessionellen Charakter der altehrwürdigen Hochschule aufbrachen. Neue Fächer und Lehrformen entstanden. Für die Hamburgische Bürgerschaft sprach der „schwerwiegende Geldpunct“ Rainer Nicolaysen, Wissenschaft ohne Zentrum. Über das Ende des Akademischen Gymnasiums 1883 und den schwierigen Weg zur Gründung einer Universität 1919, in: Dirk Brietzke/Franklin Kopitzsch/Rainer Nicolaysen (Hrsg.), Das Akademische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613–1883, Berlin/Hamburg 2013, S. 213–236, hier S. 223. gegen eine solche öffentliche Einrichtung, obwohl das Interesse am allgemeinen Vorlesungswesen stieg. Diese Vortragsreihen waren an die Öffentlichkeit gerichtet und wurden gern angenommen. Doch erst die Bemühungen des Senators Werner von Melle trugen zur Gründung der Universität bei, der gemeinsam mit dem Bankier Max Warburg 1907 die wohldotierte Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung einrichtete und damit die Idee einer Universität als Stiftungsuniversität verbreitete.
Max M.
Warburg aus der Mappe „Hamburgische Männer und Frauen am
Anfang des XX.
Jahrhunderts“, Fotograf:
Rudolph Dührkoop, 1905 (Heliogravüre, 21,00 x 15,50 cm)
Quelle: Staatliche Landesbildstelle
Hamburg, Europeana Collection, CC0, bereitgestellt durch Museum für Kunst und
Gewerbe, Hamburg.
Schließlich entsprach die sozialdemokratische Regierung Hamburgs im März 1919 einer Petition studentischer Kriegsheimkehrer und fasste den Gründungsbeschluss. In den 1920er-Jahren setzte eine allgemeine Tendenz zur Konsolidierung an deutschen Universitäten ein, wenn auch die Wissenschaft des Judentums nicht als eigenständige Disziplin anerkannt wurde. Hamburg vergab 1922 den ersten Lehrauftrag für Jiddisch an einer europäischen Universität. Die Universität Frankfurt setzte mit Martin Buber einen Honorarprofessor für Allgemeine Religionswissenschaft ein und vergab einen Lehrauftrag für Jüdische Religionsgeschichte und Ethik an Nahum Glatzer. Auch verfolgte das Berliner Institutum Judaicum ab 1925 unter Hugo Gressmann nicht mehr missionarische Absichten und warb vielmehr um die Anerkennung der Wissenschaft des Judentums. Anlaufpunkte der sich entfaltenden und nun ausdifferenzierenden Wissenschaft des Judentums waren Berlin, Wilna und schließlich Jerusalem: Dort wurde 1925 die Hebräische Universität gegründet, eine Forschungseinrichtung für eine wahrhaft universale Wissenschaft des Judentums. Darin wird das Selbstverständnis von zahlreichen Intellektuellen und Gelehrten deutlich, die sich weniger als Juden, vielmehr in einer religiös indifferenten Tradition verorteten. Zu dieser Zeit, besonders in den 1920er-Jahren blühten die Wissenschaften und Künste: In Hamburg waren zum Beispiel der Jurist Albrecht Mendelssohn Bartholdy, der Botaniker, Zionist und Mitbegründer der Hebräischen Universität Otto Warburg und der Kreis Neukantianer um Ernst Cassirer tätig. Nobelpreisträger waren der Chemiker Otto Stern oder der Biochemiker Otto Heinrich Warburg. Der Kunsthistoriker Aby Warburg, ein Kenner der Antike und der italienischen Frührenaissance, verstand sich als „Jude von Geburt, Hamburger im Herzen, im Geiste ein Florentiner“ „Ebreo di sangue, Amburghese di cuore, dʼanima Fiorentino“, zitiert in Werner Hofmann, Warburgs Konstellationen, in: ders., Die gespaltene Moderne. Aufsätze zur Kunst, München 2004, S. 72–79, hier S. 79. . Dieses Selbstverständnis stand im Hintergrund der jüdischen Gelehrsamkeit bis zum Zweiten Weltkrieg.
Die 1930er- und 1940er-Jahre waren an deutschen Universitäten von der Rassenforschung und der Verfolgung jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt. Die Universität Hamburg, die erste demokratische Universitätsgründung in Deutschland, berief in ihren jungen Jahren zahlreiche liberale und sozialdemokratische, auch jüdische Professoren – eine Praxis, die an deutschen Universitäten nicht üblich war. Gleichwohl war ein Rechtsruck schon früh an der Universität bemerkbar, die sich kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur „nationalen Revolution“ bekannte. Ein Fünftel des gesamten Lehrkörpers wurde nach dem Erlass des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zum Sommersemester 1933 suspendiert. Darunter waren der Sozialdemokrat und Pazifist Walter A. Berendsohn, außerplanmäßiger Professor für deutsche Literatur und Skandinavistik an der Universität Hamburg.
Porträt von Walter A. Berendsohn aus den 1970er-Jahren
Quelle: P. Walter Jacob
Archiv, Sammlung Walter A. Berendsohn und Stockholmer
Koordinationsstelle, Signatur: WAB/III/31.
Der Philosoph Ernst Cassirer, einer der ersten jüdischen Rektoren einer Universität in Deutschland, emigrierte nach England. Erwin Panofsky ist ein weiteres Beispiel. Der Kunsthistoriker war 1920 in Hamburg habilitiert worden; 1935 nahm er einen Ruf an die Universität Princeton an und wurde für seinen revolutionären ikonologischen Ansatz bekannt. Hamburg verlor mit Machtantritt der Nationalsozialisten seine kunsthistorische Schule um Panofsky, Aby Warburg, Fritz Saxl, Charles de Tolnay und Edgar Wind. Entlassen wurde auch die Leiterin des Psychologischen Instituts Martha Muchow. Sie wurde als Marxistin diffamiert und ihrer Ämter enthoben – das Institut um seinen Direktor William Stern galt als „jüdisches Institut“. Fächer und Fachrichtungen wurden geschlossen, ein Lehrstuhl für Rassenkunde ersetzte die Professur für Philosophie. Somit hielt die antisemitische NS-Judenforschung auch in Hamburg Einzug, durch Forderungen der Studentenverbindungen sogar recht früh.
Das Fach Judaistik ist durch die Gründung der Institute in Berlin, Köln und Frankfurt in den Jahren 1963 bis 1969 an deutschen Universitäten etabliert worden. In Hamburg eröffnete 1966 das universitätsunabhängige Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) unter Heinz Mosche Graupe, das mit dem Aufbau einer heute umfangreichen Bibliothek begann. Forschungen am Institut sind überwiegend der deutsch-jüdischen Geschichte gewidmet.
Frontansicht auf das Gebäude Beim Schlump 83, in dem das
Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg untergebracht
ist, 2012
Quelle: An-d, Own work, Wikimedia Commons, CC
BY-SA 3.0.
Darüber hinaus entstanden in Hamburg weitere Knotenpunkte in einem Netzwerk zur Erforschung der jüdischen Geschichte und Kultur: In Kooperation mit dem IGdJ fördert die Hermann-Reemtsma-Stiftung die epigrafische und ikonografische Erforschung des Jüdischen Friedhofs Altona. Der 2008 eingerichtete Sonderforschungsbereich „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“ erfasst unter anderem hebräische Manuskripte und stellt sie der Öffentlichkeit zur Verfügung. 2014 wurde eine Professur für Jüdische Philosophie und Religion an der Universität Hamburg geschaffen, der ein Jahr später ein Forschungskolleg zu jüdischer Skepsis, das „Maimonides Centre for Advanced Studies“ angegliedert wurde. Die Vielzahl von Disziplinen mit der traditionsgemäß philologischen und kulturhistorischen Prägung erneuerte die Wissenschaft des Judentums an den deutschen Universitäten. Nach der Schoah ist die Judaistik darum bemüht, als unabhängige Disziplin aufzutreten und sich von der Rolle als Ancilla Theologiae Magd der Theologie zu lösen. Forschungen zu den Quellen des Judentums sind nun nicht mehr, wie bis in das 18. und 19. Jahrhundert hinein, der Ausbildung von Theologen vorbehalten. Mit dem Studium des nachbiblischen Hebräisch, der Auseinandersetzung mit der rabbinischen und mystischen Literatur und mit der mittelalterlichen und modernen jüdischen Philosophie setzen die Judaistik / Jüdischen Studien neben der Jiddistik einen eigenen Schwerpunkt an den Theologischen, Orientalischen oder Philosophischen Fakultäten. Die Erneuerung ist immer auch eine Suche nach dem Verlorenen: Internationale Forschungen stützen sich bis heute auf den Reichtum der Studien christlicher und jüdischer Gelehrter aus dem deutschsprachigen Raum, in dem Bewusstsein, dass diese nicht zu einem deutsch-jüdischen „Gespräch“ Gershom Scholem, Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, in: Judaica 2, Frankfurt am Main 1987, pp. 7–11. unter Gleichen geführt haben.
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Lilian Türk (Thema: Wissenschaft), Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Philosophie und Religion der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: jiddische Religionsphänomenologie, jiddische Sprache und Literatur, jiddische Presse in sozialen Bewegungen 1850-1950 und nonkonforme jüdische Identitäten mit besonderer Beachtung des religiösen Anarchismus.
Lilian Türk, Wissenschaft, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-226.de.v1> [06.12.2024].