Vorbereitungen zu Pessach in Zeiten von COVID-19

Robert Jütte

Quellenbeschreibung

Die Or­tho­do­xe Rab­bi­ner­kon­fe­renz Deutsch­land (ORD) hat im März 2020 einen Leit­fa­den ver­öf­fent­licht und per E-​Mail an ihre Mit­glie­der ver­sandt. Darin geht es an­ge­sichts des be­vor­ste­hen­den Pes­sach­fes­tes des Jah­res 5780 / 2020 um Emp­feh­lun­gen für den Ein­kauf von nicht mit dem be­son­de­ren Koscher-​Zer­ti­fi­kat für Pes­sach aus­ge­zeich­ne­ten Le­bens­mit­teln auf­grund „der ak­tu­el­len Not­si­tua­ti­on“.

  • Robert Jütte

Die jüdische Tradition in der Bekämpfung von Seuchen


In einer Zeit, in der Wohn­vier­tel, in denen viele or­tho­do­xe Juden leben, be­son­ders von COVID-​19 heim­ge­sucht wer­den, ist es an­ge­ra­ten, sich daran zu er­in­nern, dass das Ju­den­tum schon früh Aus­nah­me­re­geln mit Blick auf die an­sons­ten strikt ein­zu­hal­ten­den 613 Ge­bo­te und Ver­bo­te fest­ge­legt hat. Auch mo­dern an­mu­ten­de so­zi­al­hy­gie­ni­sche Maß­nah­men, dar­un­ter auch sol­che in Zei­ten von Epi­de­mien, fin­det man be­reits im Tal­mud. So heißt es im Trak­tat Baba Qamma 60b: „Die Rab­ba­nan leh­ren: Ist eine Seu­che in der Stadt, so halte deine Schrit­te zu­rück, denn es heißt: kei­ner von euch soll bis mor­gens früh zur Tür sei­ner Woh­nung hin­aus­ge­hen.“ Und wei­ter wird dort von Sei­ten der Rechts­ge­lehr­ten die War­nung aus­ge­spro­chen: „Ist eine Seu­che in der Stadt, so gehe man nicht in der Mitte der Stra­ße, weil der To­des­en­gel in der Mitte der Stra­ßen um­her­geht.“ Selbst der Syn­ago­gen­be­such wird in Zei­ten einer Epi­de­mie spe­zi­ell ge­re­gelt: „Ist eine Seu­che in der Stadt, so gehe man nicht ein­zeln in ein Bet­haus, weil der To­des­en­gel darin seine Ge­rä­te ver­wahrt. Diese je­doch nur dann, wenn da­selbst keine Schul­kin­der die Schrift lesen und keine Zehn der für einen öf­fent­li­chen Got­tes­dienst er­for­der­li­che Min­jan von 10 Män­nern das Gebet ver­rich­ten.“ Be­reits in der Spät­an­ti­ke nah­men also jü­di­sche Rechts­ge­lehr­te eine An­ste­ckungs­ge­fahr durch­aus ernst.

Als 1831 über­all in Eu­ro­pa die Cho­le­ra gras­sier­te, wurde einer der da­mals füh­ren­den jü­di­schen Rechts­ge­lehr­ten, Rabbi Akiva Eger (1761–1837), um Rat ge­fragt, wie man es mit grö­ße­ren An­samm­lun­gen, bei­spiels­wei­se zum ge­mein­sa­men Gebet in der Syn­ago­ge hal­ten solle. Sein rab­bi­ni­sches Gut­ach­ten sieht die Re­ge­lung vor, dass die Got­tes­diens­te zeit­lich ge­staf­felt wer­den und sich je­weils nicht mehr als 15 männ­li­che Per­so­nen gleich­zei­tig zum Gebet ein­fin­den sol­len. Bei einem zu gro­ßen Zu­strom an Men­schen dürfe man sogar Si­cher­heits­per­so­nal ein­set­zen oder die Po­li­zei rufen. Diese Ver­hal­tens­an­wei­sung brach­te ihm nach Ab­flau­en der Epi­de­mie ein hohes Lob sei­tens der Ge­sund­heits­be­hör­den ein.

Der religionsgesetzliche Hintergrund


In­wie­fern han­delt es sich bei den hier vor­lie­gen­den Ein­kaufs­emp­feh­lun­gen nun um ein so­ge­nann­tes Schlüs­sel­do­ku­ment, das „the­ma­ti­sche Schlag­lich­ter auf zen­tra­le Aspek­te der jü­di­schen Ge­schich­te“ wirft? Der Zeit­his­to­ri­ker würde diese Frage selbst­ver­ständ­lich be­ja­hen, denn be­kannt­lich ist für die De­fi­ni­ti­on einer Quel­le das For­schungs­in­ter­es­se des je­wei­li­gen His­to­ri­kers maß­geb­lich. Und warum sonst sam­melt die welt­be­rühm­te Wi­de­ner Li­bra­ry der Har­vard Uni­ver­si­ty sogar Wer­be­bei­la­gen is­rae­li­scher Ta­ges­zei­tun­gen?

Das jü­di­sche Ge­setz, die Ha­lacha, re­gelt bis ins kleins­te De­tail, wie Juden das Pes­sach­fest fei­ern, das an den Aus­zug aus Ägyp­ten er­in­nert. Die ein­schlä­gi­gen Vor­schrif­ten fin­det man unter an­de­rem im Schul­chan Aruch, einer von Josef Karo im frü­hen 16. Jahr­hun­dert und spä­ter von an­de­ren jü­di­schen Rechts­ge­lehr­ten immer wie­der über­ar­bei­te­ten au­to­ri­ta­ti­ven Zu­sam­men­fas­sung re­li­giö­ser Vor­schrif­ten, die auch die asch­ke­na­si­sche Rechts­aus­le­gung be­rück­sich­tigt. Die ge­gen­wär­ti­ge COVID-​19-​Pandemie stellt die tra­di­tio­nel­le Feier des Pes­sach­fes­tes nicht nur in Deutsch­land vor große Schwie­rig­kei­ten. So be­dür­fen Ab­wei­chun­gen von den stren­gen Koscher-​Vor­schrif­ten, die für die­ses Fest gel­ten, einer be­son­de­ren Recht­fer­ti­gung, die von der Ha­lacha, dem jü­di­schen Re­li­gi­ons­ge­setz, vor­ge­ge­ben sind.

An ers­ter Stel­le kommt die Regel, dass die Ret­tung von Men­schen­le­ben das obers­te Gebot im Ju­den­tum ist. Diese ethi­sche Ver­pflich­tung wird als pi­kuach ne­fesch wört­lich: Ret­tung der Seele be­zeich­net. So heißt es bei­spiels­wei­se in der Misch­na im Trak­tat über den Ver­söh­nungs­tag Jom Kip­pur: „Wer Hals­schmer­zen hat, dem darf man auch am Sab­bat Me­di­zin geben, weil er mög­li­cher­wei­se in Le­bens­ge­fahr ist, und jede Le­bens­ge­fahr bricht [= ver­drängt] den Sab­bat“ (Joma 8.6.). Aus­nah­men von die­ser ge­ne­rel­len Regel gel­ten nicht im Falle von Göt­zen­dienst, Un­zucht und Mord. Diese Ver­bo­te dür­fen also kei­nes­falls mit einer sol­chen Be­grün­dung über­tre­ten wer­den.

An zwei­ter Stel­le ran­giert das tal­mu­di­sche Prin­zip Dina de-​malchuta dina: „Das Ge­setz des Lan­des ist Ge­setz“. Für Juden, die in der Dia­spo­ra leben, be­deu­tet das, dass sie grund­sätz­lich ver­pflich­tet sind, die Ge­set­ze des Lan­des, in dem sie leben, zu re­spek­tie­ren und zu be­fol­gen. Das kann dazu füh­ren, dass die Lan­des­ge­set­ze in be­stimm­ten Fäl­len sogar vor­ran­gig vor den Rechts­grund­sät­zen der Ha­lacha sein kön­nen. Al­ler­dings lau­tet die über­wie­gen­de Lehr­mei­nung, dass dies nur für die so­ge­nann­ten ma­mo­na (Fra­gen des Zivil-​, Steu­er und Fi­nanz­recht) und nicht für den re­li­giö­sen Be­reich gelte.

Abweichungen von den Kaschrut-Regeln für Pessach 5780 / 2020


Mit in­di­rek­tem Ver­weis auf den tal­mu­di­schen Rechts­satz Dina de-​malchuta dina er­klärt die ORD, dass die „be­hörd­li­chen Ausgangs-​ und Kon­takt­be­schrän­kun­gen […] für den Cha­mez-​Verkauf nicht ge­bro­chen wer­den“ dür­fen. Statt­des­sen solle man das Cha­mez bei­spiels­wei­se on­line „über die Seite der Or­tho­do­xen Rab­bi­ner­kon­fe­renz“ pro Forma ver­kau­fen. Die Ha­lacha ver­bie­tet den Be­sitz von Cha­mez (ge­säu­er­tes Back­werk) in den Pessach-​-​Tagen (2. Mose 13:6). Des­halb muss man sich recht­zei­tig vor Pes­sach von jeg­li­chem Cha­mez tren­nen. Das kann bei einer grö­ße­ren Menge durch einen meist sym­bo­li­schen Ver­kauf an einen Nicht­ju­den ge­sche­hen. Ein frü­her Beleg dafür fin­det sich in der To­sefta, ein rab­bi­ni­sches Sam­mel­werk aus dem 2. Jahr­hun­dert n.u.Z., wo es im Trak­tat Pes­sa­chim heißt, dass ein Jude einem Nicht­ju­den, wenn sich beide auf einem Schiff be­fin­den, „sei­nen Cha­mez ver­kau­fen“ darf, „je­doch muss die­ser ein rechts­wirk­sa­mer Ver­kauf sein.“ (To­sefta Pes­sa­chim 2:6). An­ders als bei einem nor­ma­len Ver­kauf, bei wel­chem der neue Be­sit­zer die ge­kauf­te Ware zu sich nimmt und den üb­li­chen Markt­wert be­zahlt, bleibt der Cha­mez im Be­sitz des Juden und es wird nur eine sym­bo­li­sche Summe ge­zahlt. Da die­ses „Ge­schäft“ nor­ma­ler­wei­se die Prä­senz bei­der Ver­trags­par­tei­en vor­aus­setzt, wird in die­sem Jahr auf­grund der von den Ge­sund­heits­be­hör­den er­las­se­nen Kon­takt­ver­bo­te dar­auf ver­zich­tet und das tra­di­ti­ons­rei­che Rechts­ge­schäft im In­ter­net ab­ge­wi­ckelt.

Ak­tu­ell er­weist es sich für re­li­giö­se Juden, die nor­ma­ler­wei­se die stren­gen Spei­se­vor­schrif­ten für Pes­sach be­fol­gen, also als schwie­rig, das Ver­bot zu be­fol­gen, Cha­mez im Be­sitz bzw. im Haus zu haben. Hin­zu­kommt: auch der Er­werb von Nah­rungs­mit­teln, die spe­zi­ell für den Ver­zehr für Pes­sach durch ein ent­spre­chen­des Ka­sch­rut-​Zertifikat als er­laubt be­zeich­net wer­den, birgt auf­grund von Lie­fer­eng­päs­sen und Grenz­sper­ren Her­aus­for­de­run­gen. Des­halb dürfe man auch aus­nahms­wei­se sol­che Le­bens­mit­tel ver­zeh­ren, die nur den re­gu­lä­ren Hech­scher Koscher-​Stem­pel haben. Unter den Nah­rungs­mit­teln, die in der ge­gen­wär­ti­gen Aus­nah­me­si­tua­ti­on laut der ORD-​Liste auch ohne Kascher-​le-Pessach-Zertifikat ge­kauft wer­den dür­fen, sind unter an­de­rem fri­sches Obst und Ge­mü­se (mit Aus­nah­me von be­stimm­ten Hül­sen­früch­ten, so­ge­nann­ten kit­ni­jot, diese al­ler­dings nur nach asch­ke­na­si­scher Tra­di­ti­on). Wei­ter­hin sind Eier, fri­scher Fisch und fri­sches Fleisch er­laubt. Wäh­rend des rest­li­chen Jah­res gilt hin­sicht­lich Ka­sch­rut das Prin­zip batel be-​schischim. Das heißt, wenn eine Spei­se we­ni­ger als 1/60 einer ver­bo­te­nen Sub­stanz ent­hält und diese für Ge­schmack und Kon­sis­tenz der Spei­se nicht re­le­vant ist, wird diese trotz­dem als ko­scher an­ge­se­hen. Al­ler­dings darf diese Regel an Pes­sach nicht auf Back­wa­ren an­ge­wandt wer­den. Wäh­rend die­ser Zeit macht die kleins­te Menge Cha­mez das Ge­ba­cke­ne un­rein. Und was hat es mit dem Hin­weis in der Liste auf sich, mög­lichst nur weiße Eier zu ver­wen­den? Da­hin­ter ver­birgt sich die Er­fah­rung, dass brau­ne Eier häu­fi­ger Blut­spu­ren im Dot­ter haben, weil diese bei der stan­dard­mä­ßi­gen Durch­leuch­tung leich­ter über­se­hen wer­den.

Die hier do­ku­men­tier­te Emp­feh­lungs­lis­te für den Ein­kauf zu Pes­sach im Jahr 5780 ist ein be­mer­kens­wer­tes zeit­ge­nös­si­sches Zei­chen für die re­li­giö­se Sorg­falts­pflicht mit Blick auf die Ein­hal­tung der ha­la­chi­schen Vor­schrif­ten für den Pessach-​-​Einkauf in Co­ro­na-​Zeiten. Sie ver­weist auf die all­täg­li­chen Be­dürf­nis­se der mo­der­nen Le­bens­welt und bringt gleich­zei­tig zum Aus­druck, wor­auf ein Ver­zicht auch in Kri­sen­zei­ten un­denk­bar scheint. Und zu­gleich ver­weist sie auf eine be­son­de­re Fle­xi­bi­li­tät von rab­bi­ni­scher Seite unter dem Zwang staat­li­cher Hy­gie­ne­vor­schrif­ten. Die ge­gen­wär­ti­gen Re­ge­lun­gen haben näm­lich auch gra­vie­ren­de Aus­wir­kun­gen auf die An­lie­fe­rung und Be­reit­stel­lung streng ko­sche­rer Kon­sum­gü­ter und Le­bens­mit­tel in einem Land wie Deutsch­land, in dem Juden Teil einer Mehr­heits­ge­sell­schaft sind.

Auswahlbibliografie


Avraham Steinberg, Encyclopedia of Jewish medical ethics. A compilation of Jewish medical law on all topics of medical interest, translated by Fred Rosner, 3 Bde., Jerusalem 2003.
Robert Jütte, Leib und Leben im Judentum, Berlin 2016.
Robert Jütte / Andreas Kilcher (Hg.), Themenheft „Judentum und Krankheit“, Aschkenas 29 (2019).
Adolf Wiener, Die jüdischen Speisegesetze nach ihren verschiedenen Gesichtspunkten: zum ersten Male wissenschaftlich-methodisch geordnet und kritisch beleuchtet, Breslau 1895.

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Zum Autor

Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Robert Jütte ist seit 1990 Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Er war von 1983 bis 1989 Dozent, dann Professor für Neuere Geschichte an der Universität Haifa/Israel und lehrt seit 1991 an der Universität Stuttgart. 2018 erhielt er den Honorary degree „Doctor of Hebrew Letters“ vom Spertus Institute for Jewish Learning and Leadership, Chicago. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin, Geschichte der Alternativen Medizin, Alltags- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, jüdische Geschichte.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Robert Jütte, Vorbereitungen zu Pessach in Zeiten von COVID-19, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 08.04.2020. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-262.de.v1> [19.07.2025].

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