Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldeten sich in den Tagen einer nahezu einmütigen nationalen Begeisterung viele Deutsche, unter ihnen zahlreiche Juden, freiwillig zum Heeresdienst. Große Teile der jüdischen Bevölkerung verbanden damit die Hoffnung, durch besondere Pflichterfüllung und Opferbereitschaft ihre Vaterlandsliebe zu bezeugen und das nicht nur in antisemitischen und konservativen Kreisen verbreitete Vorurteil von ihrer angeblichen Untauglichkeit für den Kriegsdienst zu widerlegen und damit eine der immer noch faktisch bestehenden Barrieren zu überwinden. Und tatsächlich wurden im Krieg im preußischen Heer erstmals Juden zu Offizieren befördert. Bereits im Herbst 1914 verflog jedoch deren anfängliche Euphorie. Antisemitische Ressentiments machten sich verstärkt im Heer bemerkbar. An der Front mehrten sich Anzeichen einer zunehmenden Absonderung jüdischer Soldaten. Im Frühjahr 1915 sahen sich etliche jüdische und deutsch-jüdische Organisationen veranlasst, einen gemeinsamen „Ausschuß für Kriegsstatistik“ zu etablieren. Dieser stand unter der Leitung des Direktors des Statistischen Amtes der Stadt Berlin, Professor Dr. Heinrich Silbergleit, und sollte verlässliches Material über die tatsächliche Beteiligung der deutschen Juden am Krieg sammeln.
Beim preußischen Kriegsministerium mehrten sich indes zumeist anonyme Klagen über angebliche jüdische Drückebergerei. Schließlich ordnete der damalige preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn am 11.10.1916 eine Zählung aller jüdischen Kriegsteilnehmer an der Front, in der Etappe und in den Garnisonen an, wobei er sich ausdrücklich auf die laufend beim Kriegsministerium eingehenden „Klagen“ der Bevölkerung bezog. Diese „Judenzählung“ bedeutete zweifellos ein Nachgeben gegenüber der anschwellenden antisemitischen Stimmung im Heer und öffnete ihr gleichsam ein Ventil, wenn auch das statistische Material angeblich dazu dienen sollte, den zahllosen antijüdischen Angriffen und Diffamierungen den Boden zu entziehen. Das Unterfangen des preußischen Kriegsministers war in seiner Zielsetzung ebenso fragwürdig und umstritten wie in seiner Durchführung dilettantisch. Jüdische Verbände und einzelne jüdische Persönlichkeiten intervenierten mit Veröffentlichungen und persönlichen Einsprüchen beim Kriegsministerium und bei der Reichsleitung. Ein ergänzender Durchführungserlass vom 11.11.1916 sowie die Ablösung des Kriegsministers und die Geheimhaltung des statistischen Materials konnten den angerichteten Schaden keineswegs wieder beheben, zumal eine öffentliche Anerkennung der von deutschen Juden erbrachten Leistungen durch das Kriegsministerium unterblieb.
Alfred Roth, Autor des Pamphletes „Die Juden im Heere“, hatte an dieser Radikalisierung des Antisemitismus im Kaiserreich und im Weltkrieg sowie dann in der frühen Nachkriegszeit entscheidenden Anteil, zunächst als Bildungs- und Sozialreferent in der Hamburger Zentrale des „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes“ (DHV), als Schriftführer und Bundeswart des Reichshammerbundes sowie als Vorstandsmitglied im Alldeutschen Verband. 1919 avancierte Roth zum Hauptgeschäftsführer des Deutschen und späteren Deutschvölkischen Schutz und Trutz-Bundes (1919–1922), einer der bedeutendsten völkisch-antisemitischen Sozialisationsagenturen in der Weimarer Republik. Die Hauptgeschäftsstelle sowohl des Reichshammerbundes als auch die des Schutz- und Trutz-Bundes befand sich in Hamburg. Roth konnte bei der Niederschrift auf die statistischen Unterlagen und Briefwechsel im Kriegsministerium zurückgreifen, die ihm durch Indiskretion zugänglich gemacht worden waren, obwohl den jüdischen Organisationen beziehungsweise Persönlichkeiten seitens des Kriegsministers seinerzeit versichert worden war, dass die Akten im Archiv unter Verschluss bleiben würden. Darüber hinaus verfügte Roth über zahlreiche Zeitungsmeldungen bezüglich des Verhaltens von Juden im Krieg, deren Sammlung sich der Reichshammerbund bereits mit Kriegsbeginn zur Aufgabe gemacht hatte.
Schon das Geleitwort verdeutlicht, worauf die gesamte Darstellung abzielt, nämlich die angeblich tieferen Ursachen herauszustellen, warum der Weltkrieg trotz „Heldenkraft und Heldensinn“ der Deutschen mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs endete, und gleichzeitig die sogenannte Judenfrage insgesamt zur „Schicksalsfrage unseres Volkes“ hochzustilisieren. Dabei greift der Autor auf ein in der antisemitischen Propaganda weit verbreitetes Feindbild zurück, indem die Juden als „blutsaugende Ungeziefer am Volkskörper“ dargestellt werden. In ähnlicher Weise schließt das Fazit. Dort verwendet der Verfasser nicht nur eine alte antisemitische Bezeichnung des den Juden ewig anheftenden „Nomadentums“, sondern bezieht sich auch auf ein ebenfalls von den Antisemiten immer wieder zitiertes Wort des Althistorikers Theodor Mommsen, der im dritten Band in seiner „Römischen Geschichte“ das Judentum als „ein wirksames Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Decomposition“ charakterisiert hatte Theodor Mommsen, Römische Geschichte, 3. Bd., Berlin 31861, S. 534., und macht damit letztendlich die Juden für den deutschen Zusammenbruch verantwortlich.
In der Folge zielen die gesamten Ausführungen darauf, die „unglaubliche Bevorzugung“ der Juden auf allen Ebenen anzuprangern. Roth wirft den Juden eine deutliche Unterrepräsentanz an der Front und bei den Verlusten vor, während sie bei den Zurückstellungen und bei der Verwendung in der Heimat „in ganz ungeheuerlicher Weise“ begünstigt worden seien. Das versucht Roth, durch manipulative Verwendung einzelner Zahlenreihen aus der sogenannten Judenstatistik sowie den Abdruck von zahlreichen Unterlagen aus dem Schriftwechsel des Kriegsministeriums und deren verunglimpfende Charakterisierung zu belegen. Zugleich will er damit von jüdischer Seite bereits veröffentlichten Darstellungen des jüdischen Beitrages im Kriegsgeschehen entgegentreten. Ihnen hält er eine „Verhimmelung“ der jüdischen Soldaten und ihrer Gefallenen sowie allgemein „Unverfrorenheit" und „wahnwitzige Überhebung“ angesichts der tatsächlich herrschenden „himmelschreienden Zustände“ vor.
An der Gültigkeit der Erhebung lässt Roth von vornherein keinerlei Zweifel zu. Immerhin deutet die globale Zurückweisung „absichtsvoller Gruppierungen“ im Abschnitt „Judenstatistik“ zumindest an, dass die Erhebungen möglicherweise unter fragwürdigen und kaum nachprüfbaren Bedingungen vonstatten gegangen waren. Lieferte somit die Erhebung schon eine kaum mehr tragfähige Basis, so war die Verarbeitung der erhobenen Daten nach dem Urteil des Soziologen Professor Dr. Franz Oppenheimer in seiner gründlichen Analyse „Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums“ von 1922 „die größte statistische Ungeheuerlichkeit, deren sich eine Behörde jemals schuldig gemacht hat“ Franz Oppenheimer, Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums, München 1922, S. 14.. So hat Roth zum Beispiel durchgehend den Anteil der Juden an der deutschen Bevölkerung wesentlich zu hoch angesetzt und im Gegenzug die Zahl der jüdischen Frontkämpfer deutlich klein gerechnet. Er unternimmt zudem nicht den geringsten Versuch, die deutschen Juden hinsichtlich ihrer besonderen demographischen, ökonomischen und sozialen Struktur in die deutsche Gesamtbevölkerung einzuordnen oder die Struktur der jüdischen Kriegsteilnehmer überhaupt in den Blick zu nehmen. Es findet kein Vergleich der Größen der entscheidenden wehrpflichtigen Kontingente zwischen 19 und 47 Jahren statt, die unter den Juden, unter anderem bedingt durch deren örtliche Verteilung, geringer ausfiel als unter den übrigen Deutschen. Darüber hinaus führten deutliche Unterschiede in Bildungsstand und Berufszugehörigkeit der Bevölkerungsgruppen dazu, dass Juden in größerer Zahl für notwendige Tätigkeiten in Handel, Bankwesen und Öffentlichkeitsarbeit reklamiert wurden, als Ärzte und Sanitätspersonal häufiger in der Etappe tätig waren sowie insgesamt vermehrt in der Heeresverwaltung eingesetzt wurden; für Roth alles nur weitere Belege für „jüdische Drückebergerei“. Und wo Roth nicht umhin konnte, einzuräumen, dass zahlreiche Juden sich als Kriegsfreiwillige gemeldet und jüdische Kriegsteilnehmer viele Auszeichnungen erhalten hätten, werden die Kriegsfreiwilligen in ihrer Motivation denunziert beziehungsweise die zahlreichen Auszeichnungen auf jüdische Machenschaften in der Verwaltung zurückgeführt. Roths manipulierende und diffamierende Vorgehensweise wird besonders deutlich bei seiner Darlegung der Verluste. Darin geht er mit 615.000 von einer viel zu hohen jüdischen Bevölkerungsziffer aus, die Zahl der jüdischen Deutschen betrug zu der Zeit nur etwa 550.000, und setzt die Verlustziffer unter den jüdischen Kriegsteilnehmer mit rund 6.000 viel zu niedrig an, eine Zahl, die Roth nach eigener Angabe auf Grund von jüdischen Quellen errechnet haben will. Am Ende wertet Roth die Nichtveröffentlichung der Statistik und das Ausbleiben einer offiziellen Ehrenerklärung als Indizien dafür, dass auch aus der Sicht des Kriegsministeriums die statistischen Unterlagen eindeutig den mangelnden Einsatz der deutschen Juden und ihren Defaitismus im Krieg belegen würden. Er endet mit Worten, die unverhohlen die Juden für den deutschen Zusammenbruch verantwortlich machen.
Den hetzerischen Ausführungen Roths, die auch in öffentlichen Versammlungen und durch zahllose Handzettel- und Flugblattaktionen seines Schutz- und Trutz-Bundes propagiert wurden, traten sofort etliche und nicht nur jüdische Stimmen mit eigenständig erhobenen Daten entgegen. So gab der „Ausschuß für Kriegsstatistik“ 1921 im Berliner Philo-Verlag eine vom Statistiker Dr. Jacob Segall, Leiter des „Bureaus für Statistik der Juden“ in Berlin, verfasste statistische Studie über „Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914–1918“ heraus, die auf einer wenn auch nicht umfassenden doch einwandfreien Erhebung und einer validen nachprüfbaren Auswertung beruht. Danach entsprachen die Anteile der deutschen Juden mit circa 100.000 Kriegsteilnehmern, circa 80.000 Frontkämpfern und circa 12.000 Gefallenen in etwa denen der Nichtjuden. Diese Ergebnisse wurden nach sorgfältiger Überprüfung in dem 1932 vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten herausgegebenen Gedenkband „Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914–1918“ von dem Bundesvorsitzenden Leo Löwenstein in dem erläuternden Nachwort bekräftigt.
Doch alle sachliche Information und Aufklärung änderten nichts an der Ausbreitung
des Vorurteils von der „jüdischen Drückebergerei“. „Militärische Unbrauchbarkeit
und Drückebergerei“ war den Juden von antisemitischer Seite schon in den Befreiungskriegen 1813/15 und vor allem während
des Deutsch-Französischen
Krieges vorgeworfen worden; Roth weist in seiner Schrift
ausdrücklich darauf hin. Nun verfestigte der Vorwurf sich zunehmend insbesondere
in Verbindung mit der sogenannten Dolchstoßlegende. In dieser Form wurde er zu
einem von völkischen, nationalsozialistischen und konservativen Kreisen vielfach
propagierten antisemitischen Argumentationsmuster. Ernst von Wrisberg, als
ehemaliger Direktor des Allgemeinen
Kriegsdepartements an der Durchführung der „Judenstatistik“
maßgeblich beteiligt, veröffentlichte 1921 im zweiten
Band seiner „Erinnerungen an die Kriegsjahre im Königlich Preußischen
Kriegsministerium“ die Daten der „Judenstatistik“ und untermauerte
damit seine Überzeugung, wonach den Juden ein außerordentlicher Anteil an dem
deutschen Zusammenbruch zukomme. Erich Ludendorff, im Krieg Erster
Generalquartiermeister, machte im Hitlerputsch-Prozess vor dem
Volksgericht in München
1924 die „jüdische Drückebergerei“ mit verantwortlich
für die deutsche Niederlage, und auch Adolf Hitler sah im ersten
Band von „Mein Kampf“ darin eine wesentliche Ursache für Auflösungserscheinungen
im deutschen Heer. Der jüdische Abwehrkampf in Wort und Schrift dagegen, wie zum
Beispiel durch den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten auf regionaler und
reichsweiter Ebene, dauerte bis zum Ende der Weimarer Republik und
darüber hinaus an. Er blieb weitgehend chancenlos gegenüber einer in Politik und
Gesellschaft sich vertiefenden Kluft, deren verhängnisvollen Anfang die
„Judenzählung“ markierte.
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Uwe Lohalm, Dr. phil., *1939, war von 1987 bis 2004 Studiendirektor/Wissenschaftlicher Direktor an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Er schrieb zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der völkischen Bewegung und der Judenverfolgung sowie zur Verwaltungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik Hamburgs im 20. Jahrhundert.
Uwe Lohalm, „Die Juden im Heere“ – von der Entstehung und Ausbreitung eines Vorurteils, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-120.de.v1> [20.11.2024].