Der Künstler Gunter Demnig begann in den 1990er-Jahren seine Kunst (Art of Remembrance/Street Art) im öffentlichen Raum zu entwickeln, die schließlich in der Stolperstein-Aktion ihre heutige Form fand. Mehr als 60.000 solcher Steine (Stand August 2016) verlegte er in Deutschland und vielen anderen Ländern. Sie sollen individualisiertes Gedenken an das NS-Unrecht im alltäglichen Raum ermöglichen. Demnig definiert die sich über ganz Europa erstreckende Kunstaktion als „soziale Skulptur“ beziehungsweise als „größtes dezentrales Mahnmal der Welt“. Dabei setzt er von vornherein auf die Partizipation der örtlichen Bevölkerung. Wie bei den sechs Stolpersteinen in der Brahmsallee 13 erforschen dann ehrenamtliche Rechercheure die Biografien, ganz gleich, ob es sich – wie hier – um deportierte Jüdinnen und Juden, im KZ umgekommene Homosexuelle, Zeugen Jehovas, hingerichtete Widerstandskämpfer, Deserteure oder der Sabotage beschuldigte Zwangsarbeiter handelt, um nur einige der Verfolgtengruppen zu nennen, und ungeachtet dessen, ob diese Person in einem Lager umgekommen ist, Selbstmord begangen hat oder an den Folgen der Verfolgung gestorben ist. Stehen die Daten für den Stein fest und ist die Finanzierung über eine Patenschaft gesichert, erwirken die örtlichen Organisatoren bei den zuständigen Behörden die Erlaubnis, den Stolperstein auf öffentlichem Grund zu verlegen. Der Stolperstein kann am letzten frei gewählten Wohnort oder an der Stätte des Wirkens verlegt werden. Dies hängt auch von den Absichten der Paten ab, die entweder im Wohngebiet oder aber beispielsweise vor einer Schule an einen Lehrer, vor einem Theater an einen Schauspieler oder vor dem Rathaus an einen Politiker erinnern wollen. Manchen Personen sind so mehrere Steine gewidmet wie Erna Bertha Bacharach geborene Strauss, für die 2010 auch ein Stolperstein in ihrer Geburtsstadt Michelstadt verlegt wurde. Ist der Stolperstein einmal gesetzt, geht er ins Eigentum der jeweiligen Kommune über, die damit dafür zuständig ist, Beschädigungen oder die Entfernung strafrechtlich verfolgen zu lassen.
Der Kunstsammler Peter Hess brachte die Stolperstein-Aktion im Jahr 2002 nach Hamburg. Nach anfänglichem Widerstand insbesondere der zuständigen Ämter fand er politische Zustimmung und breite öffentliche Unterstützung. 2016 wurde der 5.000ste Stolperstein in der Hansestadt verlegt. Mehr als 90 Prozent der Hamburger Stolpersteine – wie die sechs abgebildeten – erinnern an Juden, gefolgt von solchen, die für Homosexuelle, „Euthanasie-Opfer“ und politisch Verfolgte gesetzt worden sind. Die restlichen verteilen sich auf andere Gruppen. 2006 riefen Rita Bake (Landeszentrale für politische Bildung) und Beate Meyer (Institut für die Geschichte der deutschen Juden) das Projekt „Stolpersteine in Hamburg – biographische Spurensuche“ ins Leben. Die Beteiligten, zusammengerechnet bisher weit über 300 Personen, erforschen unter wissenschaftlicher Anleitung die Biografien derer, für die in ihrem Stadtteil Stolpersteine verlegt worden sind. Zurzeit (2016) arbeiten drei Gruppen parallel, zwei davon bezogen auf das Grindelgebiet, dem früheren Hauptwohngebiet der Hamburger Juden. In einer dieser Arbeitsgruppen entstanden die biografischen Texte zu den Ehepaaren Fels, Schragenheim und Bacharach, die im Band „Stolpersteine in Hamburg – Grindel I“ 2016 veröffentlicht wurden. Mittlerweile haben die Projektleiterinnen und Beteiligten insgesamt 17 stadtteilbezogene Biografie-Bände veröffentlicht, sechs weitere sind in Arbeit. Die circa 3.000 Lebensgeschichten, die bisher in diesem Projekt erforscht und in den Bänden veröffentlicht worden sind, können auch unter www.stolpersteine-hamburg.de nachgelesen werden.
Die sechs Stolpersteine enthalten nur wenige Eckdaten des Lebens und Sterbens der Genannten. Ein erster Blick lässt schon vermuten, dass es sich um Ehepaare handelt, und die Deportationsziele Theresienstadt und Minsk sowie die Nennung des Vernichtungslagers Auschwitz lassen auf die Verfolgung als Jüdinnen beziehungsweise Juden schließen, ohne diese zu benennen. Die biografische Spurensuche fördert Weiteres zutage: Gretchen Fels geborene Hildesheimer stammte aus Peine. Sie hatte 1905 den Hamburger Kaufmann John/Jona Fels geheiratet. Als dieser aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, bezog das Ehepaar mit Tochter Edith die Wohnung in der Brahmsallee 13, wo die Familie 15 Jahre lebte. John Fels arbeitete als Geschäftsführer, Gretchen als Prokuristin der Fa. Gerson, die John Fels ab 1934 dann als Metall- und Chemikalienmakler fortführte. John Fels vermied 1938 den Zwangsnamen „Israel“, indem er seinen Vornamen in den erlaubten „jüdischen“ Jona umwandeln ließ. Seine geräumige Wohnung musste das Ehepaar aus finanziellen Gründen verlassen. Eine versuchte Emigration zur Tochter, die inzwischen nach Palästina ausgewandert war, scheiterte. Nach mehreren Umzügen wurde das Ehepaar aus einem „Judenhaus“ in der Dillstraße am 15.7.1942 ins „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert, wo Jona nach einem Vierteljahr verstarb. Gretchen Fels wurde nach Auschwitz weiterdeportiert und dort im Gas ermordet. Der gebürtige Hamburger Bruno Schragenheim und seine Ehefrau Irma geb. Löwenberg wohnten neun Jahre in der Brahmsallee 13. Die Ehe blieb kinderlos und Irma war offensichtlich nicht berufstätig. Bruno Schragenheim, der seine Dienste als selbständiger Bücherrevisor anbot, litt zwar unter den antijüdischen Maßnahmen, konnte seine Tätigkeit jedoch bis 1938 ausüben. Danach arbeitete er bis zur Deportation am 8.11.1941 als Buchhalter bei der jüdischen Gemeinde Hamburgs. Im Getto Minsk verliert sich die Spur der beiden. Auf dem Stolperstein befindet sich deshalb nur der Hinweis „ermordet“, kein Todesdatum. Da kaum Unterlagen aus dem Getto Minsk überliefert sind, ist dieses bei fast allen nach Minsk Deportierten Hamburgerinnen und Hamburgern nicht bekannt. Das Ehepaar Bacharach lebte nur knapp vier Jahre in Hamburg. Moritz Bacharach stammte aus Seligenstadt. Er heiratete die in Michelstadt gebürtige Erna Bertha geborene Strauss. Das Ehepaar lebte zunächst in Hanau, wo die Söhne Albrecht und Walter zur Welt kamen, dann in Salzwedel. Nach Hamburg ging die Familie erst in der NS-Zeit, als Moritz seinem Beruf in ländlichen Gebieten nicht mehr nachgehen konnte. Mutter Erna Bertha Bacharach und Söhne Albrecht und Walter Bacharach emigrierten im Juli 1938 in die Niederlande. Der Vater Moritz Bacharach folgte 1939. Doch die deutschen Truppen holten die deutsch-jüdischen Emigranten ein. Aus Hilversum wurden sie ins Durchgangslager Westerbork gebracht, fast zwei Jahre später am 25.2.1944 ins Getto Theresienstadt und von dort am 1.10.1944 nach Auschwitz deportiert, wo Erna Bertha Bacharach ermordet wurde. Der Stolperstein nennt kein Todesdatum, weil für die Ankömmlinge ihres Transportes keines registriert wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie am Ankunftstag oder am Tag darauf getötet wurden. Moritz, Albrecht und Walter wurden in Auschwitz zur Zwangsarbeit bestimmt und nach Taucha/Sachsen gebracht. Dort schweißten sie für die Rüstungsproduktion der HASAG. Im April 1945 mussten die Häftlinge einen Todesmarsch antreten. Moritz Bacharach wurde dabei vor den Augen seiner Söhne erschossen, die beide überlebten. Als die Anwohner der Brahmsallee Walter Zwi Bacharach (gestorben 2014), der inzwischen als Professor für Moderne Geschichte an der israelischen Universität in Bar Ilan lehrte, 2007 über ihre Absicht informierten, für seine Eltern Moritz und Erna Bertha Bacharach Stolpersteine zu setzen, reagierte er verhalten und stellte klar: „Das ist eure Sache“, um darauf hinzuweisen, dass diese Form des Gedenkens von den Nachfahren der Täter initiiert wurde. Später jedoch trat der Aspekt hinter der Tatsache zurück, dass an die Namen seiner Eltern erinnert wird. 2010 nahmen er und seine Ehefrau an der Verlegung des Stolpersteines für seine Mutter in Michelstadt teil und sie suchten mehrfach den Stein in der Brahmsallee auf.
Während die meisten Städte und Gemeinden Demnigs Aktion unterstützen
und der Künstler Ehrungen und Preise erhält, lehnen einige, allen voran
München, die
Verlegung ab, weil diese Form der Erinnerung nicht den Vorstellungen der
Stadtoberen und der Jüdischen
Gemeinde von einem würdigen Gedenken entspricht. Durch die
Platzierung auf den Gehwegen sehen sie das Andenken der Ermordeten im wahrsten
Sinne des Wortes mit Füßen getreten und beschmutzt, während der Künstler Gunter Demnig davon ausgeht, die Passanten würden
sich vor den Opfern verneigen, wenn sie die Inschriften der Stolpersteine läsen.
Aus demselben Grund lehnt die Rom
und Cinti Union in Hamburg die Erinnerung
an ermordete „Zigeuner“ mittels Stolpersteinen ab. Bereits verlegte Steine
mussten 2009 entfernt werden. Andere Kritiker haben
Vorbehalte gegen die Stolperstein-Aktion, weil das Prinzip des Gedenkens „von
unten“, nämlich dass Paten die einzelnen Steine initiieren und finanzieren,
nicht garantiert, dass aller Ermordeten gedacht wird. Sie würden lieber „von
oben“ eine Form festlegen, in der alle Namen an einem Erinnerungsort versammelt
sind. In München
sind derzeit Stehlen mit eingelassenen Namen im Gespräch. In Städten wie
Kassel oder
Göttingen,
wurde erst nach jahrelangen kontroversen Diskussionen 2013 beziehungsweise 2015 die Zustimmung
zur Verlegung der Stolpersteine erteilt. In Oldenburg werden zwar
Stolpersteine für politisch Verfolgte oder „Euthanasie-Opfer“ verlegt, während
die Stadt mit Rücksicht auf die ablehnende Haltung der Jüdischen Gemeinde
Stolpersteine für Juden nicht genehmigt und stattdessen an einem zentralen Ort
eine Gedenkwand mit den Namen aller ermordeten Oldenburger Jüdinnen und Juden
errichtet hat. Das individualisierte Gedenken evoziert immer wieder Konflikte
mit Angehörigen. Dies geschieht insbesondere, wenn die Ermordeten Gruppen
angehörten, deren Lebensweise oder Verhalten von gesellschaftlichen Normen
abwich und für die sich Verwandte nach wie vor schämen oder die ihnen peinlich
sind (beispielsweise „Euthanasie“-Opfer, Deserteure, Homosexuelle). Manchmal
bestehen auch aktuelle Ängste, beispielsweise dass die jüdische Abstammung
heutiger Namensträger durch den Stolperstein offenkundig wird. Auf Vorbehalte
der Angehörigen, die im Vorwege bekannt sind, nehmen die örtlichen Organisatoren
generell Rücksicht. Entsteht der Kontakt zu Verwandten erst nach der Verlegung
der Steine oder sind die Nachfahren in dieser Frage uneins, bemühen sich die
Beteiligten, einvernehmliche Lösungen zu suchen. 2014
gaben Inschriften des Künstlers Gunter Demnig,
die die Verfolgungsgründe für ein NS-Opfer mit Begrifflichkeiten der NS-Justiz
benannten, („Gewohnheitsverbrecherin“, „Rassenschande“), Anlass zu medialer
Kritik, der sich einige Historiker anschlossen. Sie gehen
davon aus, dass die diskriminierenden Termini die Opfer ein zweites Mal
entwürdigen und zweifeln daran, dass die heutige Öffentlichkeit versteht, dass
damit auf justizielles Unrecht aufmerksam gemacht werden soll. Da hier ein
Konflikt zwischen der Freiheit des Künstlers Gunter
Demnig und der Political
Correctness beziehungsweise pädagogischer Absicht besteht, der
jedoch nicht gelöst werden kann, wird es um diese und ähnliche Fragen künftig
sicher weiter Diskussionen geben – die hoffentlich ihrerseits zu einem
vertieften Wissen über die NS-Zeit führen werden.
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Beate Meyer (Thema: Erinnern und Gedenken), Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Ihre Forschungsinteressen sind: deutsch-jüdische Geschichte, Nationalsozialismus, Oral History, Geschlechtergeschichte und Erinnerungskultur.
Beate Meyer, Die Stolpersteine in der Brahmsallee 13: Von den Geschichten hinter den Namen und den Hürden des Erinnerns, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-171.de.v1> [20.11.2024].