Die Begriffspaare „Erinnern – Vergessen“, „Erinnerung – Identität“ und „Erinnern – Gedenken“ stellen ein Phänomen der neueren Zeit dar, denn in früheren Jahrhunderten wurde „vergessen“, was nicht mehr relevant oder opportun war. Doch heute gilt das Sprichwort „Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wohin er geht.“ War im Kaiserreich und der Weimarer Republik eher ein personenbezogenes Gedenken üblich, das Vorbilder ehrte bzw. schaffen sollte, so änderte sich dies bereits im Laufe der Weimarer Republik, vor allem aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die „Heldenverehrung“ (hier im Sinne von Vorbild gemeint) wandelte sich nach der Schoah zum opferzentrierten Gedenken. Dies bezieht sich vor allem auf die Erinnerungskultur der Mehrheitsgesellschaft, aber auch die jüdische Minderheit gedachte in vielfältiger Weise des Judenmords. Darüber hinaus bewahrt sie ihre Geschichte seit jeher in der religiösen Überlieferung. Sie erinnert und gedenkt im Rahmen der Religionsausübung wie auch als Teil der Gesamtgesellschaft.
Erinnert wird seit jeher öffentlich wie privat. Private Erinnerung macht sich weniger an den historischen Zäsuren, sondern an den Lebensabschnitten wie Geburt, Schulbesuch, Heirat, Eintritt ins Erwachsenenleben oder Verlust von nahen Verwandten fest. Wenn allerdings Ereignisse wie Krieg, Hungersnot, Wirtschaftskrise oder Verfolgung, oder – positiv – ein wirtschaftlicher Aufschwung, das individuelle Leben verändern, fallen die zeitlichen Wegmarken zusammen. In der Regel verbleibt die private Erinnerung im nichtöffentlichen Bereich. Nur bisweilen fließt sie in die Öffentlichkeit ein und wird Teil der Erinnerungskultur, etwa durch publizierte Familienchroniken oder Tagebücher.
Die jüdische Religion enthält viele Feier- und Gedenktage, die die Erinnerung an die Geschichte des Volkes wachhalten, wenn sich auch deren Inhalt und Form im Laufe der Jahrtausende verändert hat: So bezieht sich Pessach auf den Auszug der Juden aus Ägypten, das heißt das Ende der Sklaverei; Sukkot, das Laubhüttenfest, entstand eigentlich aus einem Erntefest, wandelte sich später zur Erinnerung an den Zug durch die Wüste nach dem babylonischen Exil; mit Chanukka, dem Lichterfest, feiert die jüdische Gemeinschaft die Neueinweihung des Tempels und an Purim die Rettung des jüdischen Volkes vor dem Vernichtungsplan des persischen Ministers Haman (356 v. d. Z.).
Auch die fünf Fasten- und Trauertage, die zu Reue und Buße auffordern, entstanden aus historischem Anlass, jeder steht für ein unheilvolles Ereignis wie Belagerung, Niederlage oder Vertreibung. Ursprünglich als „nationale Trauertage“ im Gedenken an die Zerstörung des Tempels entstanden, knüpften daran auch lokale Bräuche an. Im Hamburg der Weimarer Zeit entstand beispielsweise der Fasttag des „Henkeltöpfchen-Tumults“: Er bezog sich auf die heute im jüdischen wie nichtjüdischen Bewusstsein kaum noch präsenten antijüdischen Ausschreitungen wegen eines zerbrochenen Henkelkrugs ab dem 26.8.1730. Zum reichsweiten Fasttag wollten 1940 die führenden jüdischen Repräsentanten der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland einen Trauertag anlässlich der Deportation der badischen Juden am 22. Oktober des Jahres erklären, was das NS-Regime unterband. Ein Jahr später rief Hamburgs Oberrabbiner Joseph Carlebach anlässlich der ersten Deportation der Hamburger Juden einen regionalen Fasttag aus, was keine Sanktionen nach sich zog. In der Gegenwart wird der ursprünglich israelische Gedenktag Jom HaSho’a, der an die Opfer des nationalsozialistischen Judenmords und die jüdischen Widerstandskämpfer erinnert, auch in der Bundesrepublik von Teilen der jüdischen wie nichtjüdischen Bevölkerung begangen.
Daneben existieren auch traditionelle Formen des Gedenkens wie das einwöchige Shiwe sitzen nach einem Todesfall, die Bestattung und das Totengedenken durch die (auch im Christentum begangene) Jahrzeit, das heißt der ritualisierten Erinnerung an einen Verstorbenen am Jahrestag des Todes.
Eine Besonderheit der jüdischen Genealogie ist die Verknüpfung der Familiengeschichte mit der Geschichte des jüdischen Volkes. Familien wie etwa die sefardischen Shealtiels betten ihre in die Jahrtausende alte Geschichte des Volkes Israel ein und pflegen zugleich familiäre Traditionen und den Zusammenhalt, obwohl die Mitglieder über den Erdball verstreut sind. Andere Familien oder Individuen beschränken sich auf Erzählungen, Fotos, Familienbücher und Erbstücke, die das Wissen um Personen, Ereignisse und Entwicklungen wenigstens über einige Generationen im familiären Gedächtnis bewahren.
Eine der ältesten jüdischen Gedenktraditionen, die ungeachtet der jeweiligen Herrschaftsformen der Mehrheitsgesellschaft bis in die Gegenwart reicht, stellen die Memorbücher dar. Sie halten die Namen der Gemeindemitglieder fest, die wegen ihrer Religion einen gewaltsamen Tod erlitten, sei es durch Pogrome, Kreuzfahrer oder im Holocaust. Oft wurden auch die Ereignisse beschrieben, die zu diesem Schicksal geführt hatten. Miriam Gillis-Carlebach schlägt beispielsweise im Vorwort des Gedenkbuchs für die während des Holocaust ermordeten Schleswig-Holsteiner Juden den Bogen zum ersten bekannten Memorbuch, das 1296 in Nürnberg erstellt wurde.
So pflegen Juden privat ebenso wie als Gemeinschaft eigene Erinnerungs- und Gedenkanlässe mit teils langen Traditionen. Sie trugen und tragen aber auch durch Feiern, Kundgebungen, Artikel und andere Ausdrucksformen die Gedenktage der Mehrheitsgesellschaft mit bzw. setz(t)en dort eigene Akzente. Das betraf die Sedanfeiern Gedenktag zur Niederlage der französischen Armee im deutsch-französischen Krieg 1870 der Kaiserzeit, 1928 die Einführung des Muttertages, 1930 die Feiern zur „Befreiung“ des Rheinlandes oder die Errichtung von Ehrenmalen für jüdische Soldaten des Ersten Weltkrieges. Der im Krieg gefallenen Juden zu gedenken, bot während der Weimarer Republik vor allem der Volkstrauertag („Heldengedenktag“) immer wieder Gelegenheit. Er diente über die nationalsozialistische Machtergreifung hinaus bis in die Mitte der 1930er-Jahre als Möglichkeit, in Reden bei „Jüdischen Heldengedenkfeiern“ auf den Beitrag und die Opfer der jüdischen Gemeinschaft im Ersten Weltkrieg hinzuweisen.
Nicht nur die Hamburger Juden bewahren die Erinnerung an herausragende Persönlichkeiten (meist Männer) aus ihren Reihen in ehrenden Reden bzw. Artikeln anlässlich des Todes oder der Jahrestage desselben. Eine andere (von christlichen Gepflogenheiten kaum zu unterscheidende) Erinnerungskultur sind Jubiläen von Stiftungen, Vereinigungen oder Institutionen, die Anlass bieten, Entwicklungen aufzuzeigen und Verdienste zu würdigen.
Nach 1933 tilgte der NS-Staat die Zeichen jüdischen Lebens nicht nur aus der städtischen Hamburger Topografie und dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Auch darauf reagierte die jüdische Gemeinschaft mit historischen Rückblicken. Angesichts der immer umfassenderen Aktivitäten der Nationalsozialisten, alle positiven / ehrenden Erinnerungen an jüdische Existenz auszulöschen, bemühte sich die jüdische Gemeinschaft verzweifelt um deren Erhaltung, Bewahrung und Sicherung. Das bereits 1905 gegründete „Gesamtarchiv der Juden in Deutschland“, wie es sich ab 1935 nennen musste, sammelte in Berlin Gemeinde-, Vereins- und Stiftungsakten, Geburts-, Sterbe- und Friedhofsregister oder Memorbücher. Sein Leiter Jacob Jacobson rief ab Mitte der 1930er-Jahre immer dringlicher dazu auf, auch familiengeschichtliche Unterlagen und Torawimpel, Fotos von Sakralbauten oder Kultusgegenständen etc., kurz: alles, was Auskunft über Jahrhunderte jüdischen Lebens in Deutschland geben konnte, ins vermeintlich noch sichere Gesamtarchiv in Berlin abzugeben. Dort beschlagnahmte die Gestapo 1938 das gesammelte Material, die genealogischen Unterlagen gingen ans Reichssippenamt, wo sie der Überprüfung der „arischen“ Abstammung dienten. Die Hamburger Jüdische Gemeinde allerdings hatte sich dieser Sicherungsmaßnahme verweigert und ihr eigenes Archiv weitergeführt. So überstanden Akten zu 400 Jahren jüdischen Lebens die NS- und Kriegszeit. Nach dem Krieg forderte die Vorgängerin des heutigen Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem deren Übergabe nach Jerusalem, weil sie sie als Teil jüdischer Geschichte betrachtete. Ein mehrjähriges Gerichtsverfahren endete 1959 mit der einvernehmlichen Lösung, dass ein Teil des Bestandes im Hamburger Staatsarchiv verblieb, ein Teil nach Jerusalem überführt wurde, der jeweils andere Teil an beiden Orten in Kopie zugänglich ist. Die Stadt Hamburg gründete zur Auswertung der Dokumente 1964 das dann 1966 eröffnete Institut für die Geschichte der deutschen Juden.
Die Erinnerungskultur ist in den letzten Jahren vielgestaltiger geworden: Sie zeigt sich in der Topografie der Stadt wie im medialen, kollektiven und privaten Gedächtnis. Konkret bedeutet dies: über Stand- und Baudenkmäler, Straßen-, Platz- oder Gebäudebenennungen, in Gedenkstätten, auf Gedenkwänden oder -schwellen, in Wander- und Open-Air-Ausstellungen, szenischen Lesungen im öffentlichen Raum, über dezentrale Tafeln an Hauswänden oder Stolpersteine im Gehweg, in Büchern, Online-Artikeln und Veranstaltungen, bei Namensverlesungen, Umzügen und vieles mehr. Althergebrachte Formen wie Feierstunden mit Reden und Musik existieren weiter, werden durch neue ergänzt oder abgelöst.
Das Bodenmosaik visualisiert das Deckengewölbe der ehemaligen
Bornplatzsynagoge (heute: Joseph-Carlebach-Platz)
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, NEU00023,
Foto: Margit Kahl, vermutl. 1988, © 2017 Forum für
Künstlernachlässe, Hamburg.
Erinnert wird traditionell an verdienstvolle Personen oder Ereignisse in der Vergangenheit, die für die Gegenwart als relevant und für die Zukunftsgestaltung als maßgeblich empfunden werden, sei es, dass sie einen noch zu verwirklichenden „Überschuss“ (Bloch) enthalten wie etwa Freiheitsrechte, sei es, dass sie an Unrecht erinnern, das nicht in Vergessenheit geraten und vor allem nicht wiederholt werden soll. In autoritären Regimen oder Diktaturen wird die Erinnerung von oben gelenkt und alle nicht erwünschten oder nicht integrierbaren Spuren vergangener Erinnerungskultur neu interpretiert oder ausgelöscht. In Demokratien wie der Weimarer Republik, der Bundesrepublik oder der Berliner Republik geschieht das Erinnern pluralistischer, bisweilen anarchisch und ungleichzeitig, wird initiiert von oben wie von unten. Welche Form der Erinnerung im öffentlichen Raum platziert werden kann, wird zwischen Initiatoren und staatlichen Akteuren wie Politikern oder auch Verantwortlichen in Ämtern und Behörden ausgehandelt.
Wie angedeutet, unterliegt die Erinnerung der Individuen, die ihrer Gemeinschaft und der Gesellschaft einem steten Wandel. Sie wird modernisiert, Teile fallen weg, andere rücken in den Vordergrund. In neuen Herrschafts- und Gesellschaftsformen werden eigene Ideale, Vorbilder und Gedenkanlässe geschaffen. Während Gedenkveranstaltungen anders konzipiert und begangen werden, bedeutet dies für (Bau-)Denkmäler meist eine Umgestaltung, Ergänzung, Umplatzierung oder gar die Zerstörung. Manchmal verschwinden sie auch einfach wie eine Bestandsaufnahme der Kulturdenkmäler in Schleswig-Holstein jüngst ergab, wo 3.000 von 16.000 solcher Stätten nicht mehr existieren , weil sie abgerissen, überbaut oder anderweitig genutzt werden, ohne dass dies von den Verantwortlichen bemerkt oder irgendwo Protest erhoben worden wäre.
Die „Heldenverehrung“ des 18. / 19. Jahrhunderts – sei es aufgrund von Kriegsverdiensten, staatsmännischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder anderen Leistungen bzw. beim erfolgreichen Einsatz für Emanzipation und Bürgerrechte – stellt nicht nur in der deutschen Erinnerungskultur mittlerweile ein auslaufendes Modell dar. Es wurde nach 1945 tendenziell durch das Opfergedenken im weitesten Sinne abgelöst, das heißt „die historischen Verletzungen, die Menschen erlitten und andere Menschen verursacht haben“ rückten sukzessive in den Vordergrund. Dieser Wertewandel bewirkte einerseits einen rasanten zahlenmäßigen Anstieg der Denkmäler im weitesten Sinne. Andererseits befinden sich diese mittlerweile, örtlich gesehen, nicht nur an zentralen Standorten der Stadt, sondern vielfach auch dezentral. Dieser „Siegeszug der Opferperspektive“ beherrscht angesichts der Einzigartigkeit des Holocaust insbesondere die Erinnerung der Mehrheitsgesellschaft an das Wirken, Leben und Leiden von Juden mittlerweile weitgehend. Das Geschehen „Holocaust“ wird inzwischen gar universal als „europäischer Gedächtnisort“ betrachtet, der vor Ort seine nationale und regionale Ausprägung erhält. Die Opferperspektive beschränkt sich nicht nur auf Verfolgte, sondern reicht bis weit in die Täterwelt hinein, sodass bisweilen ermordete Juden mit gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges oder den Opfern alliierter Luftangriffe als „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ zusammengefasst werden.
Die Opferorientierung ist nicht nur Zeichen eines Wertewandels, sondern – so Kritiker – entlastet die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft von ambivalenten Erinnerungen und enthält ein Zugehörigkeitsangebot an Nachgeborene. Lange wurde darum gerungen, ob in Deutschland überhaupt ein zentrales Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichtet werden sollte. Als dieses verwirklicht worden war, folgten zentrale Denkmäler für andere Opfergruppen, und schließlich – als Reaktion auf den Standort in der Hauptstadt und die unpersönliche Form der Erinnerung – deren dezentrale Ergänzung durch Stolpersteine für Individuen, die den Opferzahlen einzelne Namen bzw. Schicksale hinzufügen (oder entgegensetzen).
Auch in Hamburg künden Denkmäler vom Wandel erinnerungskultureller Prioritäten wie beispielsweise das zerstörte und wieder neu geschaffene Heinrich-Heine-Denkmal. Es zeigt jetzt den nachdenklichen Heine und erläuternde Texte weisen auf die Bücherverbrennungen 1935 und die Zerstörung der ersten Heine-Statue hin. Oftmals bringen auch künstlerische Ergänzungen den gesellschaftlichen Wertewandel zum Ausdruck wie beim Kriegerdenkmal am Dammtorbahnhof, dem Alfred Hrdlicka im Auftrag der Stadt zwei weitere Denkmäler hinzufügte, die den Hamburger Feuersturm 1943 und den Massentod der Neuengammer KZ-Häftlinge in der Neustädter Bucht durch alliierte Bombardierung 1945 zum Inhalt haben. Die meist während der Weimarer Zeit nach Juden benannten Straßen und Plätze sind bis auf wenige Ausnahmen rückbenannt und heben die Namensgeber als bedeutende Musiker, Architekten, Bankiers oder Staatsmänner heraus.
Doch ansonsten ist der „Held“ weitgehend ausgemustert, und auch das neue Opfergedenken unterliegt einem steten Wandel und gewissen Konjunkturen: Fanden – grob zugeordnet – in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre etliche Veranstaltungen zur Erinnerung an Verfolgung und Judenmord statt, so sank deren Zahl seit den 1950er-Jahren, bis sie ab den 1980er-Jahren wieder anstieg.
In der 1945 wiedergegründeten Jüdischen Gemeinde Hamburgs entfaltete sich eine Gedenkkultur, die einerseits an die Weimarer Zeit anknüpfte, also verdiente jüdische Persönlichkeiten wie Joseph Carlebach (100. Geburtstag), Gabriel Riesser (200. Geburtstag) oder jüngst Verstorbene wie Rav Gotthold (gest. 15.2.2009) ehrten und Jubiläen jüdischer Einrichtungen mit ausführlichen Berichten über deren Entstehung und Entwicklung begingen (wie etwa 100 Jahre Jüdischer Friedhof Ohlsdorf). Hinzu kamen zunächst drei regelmäßige jährliche Gedenktage, die bis heute existieren: der Jahrestag des Novemberpogroms 1938, eine Busfahrt nach Bergen-Belsen und die Teilnahme an einer Zeremonie anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers sowie der Jom HaSho’a, der an die Opfer des Judenmords erinnert. Die Vertreter und Mitglieder der Gemeinde reisten mehrere Jahre auch nach Neustadt, wo in der Lübecker Bucht die Neuengammer KZ-Häftlinge auf der Cap Arcona und ihren Schwesterschiffen umgekommen waren, und erinnerten an die im April 1945 ermordeten jüdischen Kinder in der Schule Bullenhuser Damm. Die gemeindeinterne Erinnerungsarbeit an die Schoah sollte „nicht Wunden aufreißen, sondern Vergessen verhindern“ .
Mahnmal in Hamburg-Schnelsen für die Kinder vom Bullenhuser Damm
Quelle:
Wikimedia Commons, Foto: Holgerjan, gemeinfrei.
Die Gemeinde beteiligte sich aktiv daran, Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein zu schaffen, unter anderem eine Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge in Friedrichstadt, eine Ausstellung über jüdisches Leben in Elmshorn in der dortigen Friedhofshalle oder die Restaurierung der ehemaligen Synagoge Rendsburgs. An der Hamburger Talmud Tora Schule wurde 1980 die Inschrift über dem Portal und im Innern eine Gedenktafel angebracht.
Die Jüdische Gemeinde griff seit den 1980er-Jahren auch in die Diskussionen um die städtische Gedenkkultur ein, kritisierte das Mahnmal auf der Moorweide, das keinen Hinweis auf die Deportationen enthielt (inzwischen gibt es erklärende Tafeln), mahnte eine Gedenkform für die zerstörte Hauptsynagoge auf dem Bornplatz an (ein künstlerisch gestalteter Grundriss wurde 1988 eingeweiht) und begrüßte die gelungene Plastik vor dem ehemaligen Tempel Oberstraße.
In den 1980er-Jahren nahm die Zahl der Feierlichkeiten zu und die Bezugspunkte veränderten sich: in der Kinder- und Jugendarbeit pflegten die Verantwortlichen nun auch die Erinnerung an das Judentum in Osteuropa, „dem einstigen Zentrums des Judentums“, neue Gedenktage wurden begangen: an die Staatsgründung Israels und ein Jahrestag für die gefallenen israelischen Soldaten (Jom Hasikaron). Seit dem Jahr 2000 bewirkte die Einwanderung von Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten eine weitere Neuausrichtung der gemeindlichen Erinnerungskultur: Jährlich finden nun Veteranenfeiern statt, an denen die jüdischen ehemaligen Soldaten der Roten Armee in Kooperation mit dem russischen und ukrainischen Konsulat, der Deutschen Kriegsgräberfürsorge und dem Verein der Ghetto-Überlebenden an den Sieg über NS-Deutschland erinnern. Auch öffnete sich die Gemeinde Erinnerungs- und Gedenkveranstaltungen und Projekten aus der nichtjüdischen Öffentlichkeit, zu denen in den Gemeindeblättern aufgerufen werden konnte. Dazu zählten der „March of the Living“ in Polen als Erinnerung an das Kriegsende, der „Zug der Erinnerung“, der die Ausstellung zu den Schicksalen deportierter jüdischer Kinder in die Hansestadt brachte, oder eine Tagung „Inszenierung der Erinnerung“ der Akademien der beiden christlichen Kirchen. Umgekehrt nehmen auch nichtjüdische Besucher an Veranstaltungen über Gemeindemitglieder wie Arie Goral oder Flora und Rudi Neumann teil, die außerhalb der Jüdischen Gemeinde hohes Ansehen genießen.
Auch die städtische Erinnerung konzentrierte sich zunächst auf die Zeit bis zum Jahr 1938 (die erste Gedenkfeier dazu fand 1948 statt). Dort, wo der Tod im Konzentrationslager thematisiert wurde, benannten die Inschriften die Ermordeten nicht als Juden. Die „Urne des unbekannten Konzentrationärs“ aus Auschwitz wurde zwar bereits 1945 platziert und 1949 in eine Stele mit weiteren Urnen integriert, aber insgesamt entstanden bis in die 1960er-Jahre hinein nur wenige Mahnmale, meist auf Friedhöfen, die zudem selten an Juden erinnerten. Seit 1965 lädt der Senat regelmäßig emigrierte jüdische Hamburgerinnen und Hamburger ein (aber erst seit dem Jahr 2000 auch jüdische wie nichtjüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter). Ab Mitte der 1980er-Jahre setzte mit Bürgermeister Klaus von Dohnanys Aufforderung „Es ist Zeit für die ganze Wahrheit“ (1984) ein rasanter Anstieg der Aktivitäten zu Erinnerung und Gedenken ebenso wie ein inhaltlicher Wandel ein. Denn auch die Geschichtsschreibung hatte den Holocaust lange ausgespart, jetzt entbrannten, initiiert durch kritische außeruniversitäre Forscher und Gruppen und die neuen Geschichtswerkstätten, Auseinandersetzungen, ob Hamburg während des Nationalsozialismus „Mustergau“ oder eine vom Nationalsozialismus weitgehend unberührte Oase gewesen sei.
Die folgenden Forschungen befassten sich schwerpunktmäßig zuerst mit den „vergessenen Opfern“ und im zweiten Schritt mit dem Judenmord. Nun fanden einzelne Betroffene und auch das Geschehen in den Stadtteilen Aufmerksamkeit. Daraus folgten neue Erinnerungsorte und -formen, beispielsweise Rundgänge zum jüdischen Leben und jüdischer Verfolgung auch in Stadtteilen, die nicht zu den Hauptwohngebieten der Hamburger Juden gezählt hatten. Sie erinnerten auch an Leben und Leiden unbekannter Personen. Die Erinnerungskultur bezog nun den Holocaust sukzessive mit ein und rückte ihn schließlich in den Mittelpunkt des Gedenkens. Und sie wurde immer vielgestaltiger und internationaler. So finden Gedenkveranstaltungen zum Novemberpogrom bis in die Gegenwart statt, haben aber ihren Charakter geändert: Statt feierlicher Reden im Saal, „leuchtet der Grindel“ durch tausende Kerzen an den Stolpersteinen für die im Holocaust ermordeten Juden, Mahnwachen und wissenschaftliche Symposien werden abgehalten.
Platz der jüdischen Deportierten
Quelle: Foto: Beate Meyer
2006.
In den 1980er-Jahren führte das Hamburgische Denkmalschutzamt ein Tafelprogramm durch: Mehr als 40 Erinnerungstafeln an Hauswänden erinnern an stadtgeschichtlich bedeutsame Stätten (blaue Tafeln), Verfolgung und Widerstand (schwarze Tafeln) und Stätten jüdischen Lebens (bronzene Tafeln). Weitere Hinweistafeln entstanden auf bezirkliche und private Initiative und Kosten, zuletzt beispielsweise durch den Kunstsammler Peter Hess, der an vertriebene oder ermordete jüdische bildende Künstler erinnert. An den Landungsbrücken sind zwei Tafeln den Flüchtlingsschiffen „St. Louis“ und „Exodus“ gewidmet, die auf internationale Bezüge verweisen. Das erste Schiff durfte 1939 die 900 jüdischen Flüchtlinge nicht, wie zugesagt, in Kuba von Bord gehen lassen, sondern musste sie nach Europa zurückbringen. Auch die jüdischen DPs auf der „Exodus“, die 1947 in Palästina anlanden wollten, wurden zwangsweise zurücktransportiert.
Mitte und Ende der 1980er-Jahre wurden auch die Gedenksteine auf dem „Platz der Deportierten“ in Altona von Sol LeWit (seit den 1990er-Jahren durch eine erklärende Tafel ergänzt), der Gedenkstein zur Erinnerung an die 1938 abgeschobenen polnischstämmigen Juden oder in Fuhlsbüttel die Gedenkstätte im Torhaus des ehemaligen Hamburger Konzentrationslagers eingeweiht, um nur einige Beispiele zu nennen. Bis in die Gegenwart hinein werden neue Denk- und Mahnmale errichtet wie 2015 ein Denkmal für die Kindertransporte 1938 / 39 am Dammtor-Bahnhof, das an die Rettung der etwa 1.000 Hamburger jüdischen Kinder durch Großbritannien erinnert.
Das Dokumentenhaus der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, wo vor allem ausländische jüdische wie nichtjüdische Häftlinge Zwangsarbeit leisteten und in Massen starben, wurde erst nach langem Kampf (vor allem der Häftlingsverbände) 1981 eröffnet, Gedenksteine und Gedenkstätten für die Außenlager folgten. Von dort war es noch ein langer Weg bis zur Einweihung der heutigen KZ-Gedenkstätte 2005 und ein noch längerer, bis der fast vergessene Hannoversche Bahnhof, von dem aus die Hamburger Juden, Sinti und Roma deportiert worden sind, zum Gedenkort Lohseplatz gestaltet sein wird.
Anders als die zentralen Stätten der Erinnerung bewirken die mehr als 5.000 Stolpersteine (2016) dezentralisiertes Erinnern in alltäglichen Räumen. Der Kunstsammler Peter Hess holte die Aktion des Kölner Künstlers Gunter Demnig nach Hamburg. Finanziert „von unten“ ermöglichen die Stolpersteine Gedenken, das vom kurzen Innehalten bis hin zur feierlichen Stunde oder einer jährlich wiederkehrenden kleinen Zeremonie reicht. Die einhergehende biografische Forschung ermöglicht es, Einzelpersonen aus der Masse der Opfer kenntlich zu machen.
Verlegung des 5.000sten Stolpersteins für Bela
Feldheim am 29. März
2016
Quelle: Foto: Beate Meyer, 2016.
Zu den derzeitigen Stätten der Erinnerung und des Gedenkens in Hamburg führt das Internetportal www.gedenkstaetten-in-Hamburg.de, auf dem über 100 Denkmale und Gedenkstätten und zehn mit Ausstellungen versehene Lernorte beschrieben werden.
Aus dem Wandel der Erinnerungskultur und der Fokussierung auf den Holocaust entstand einerseits ein geschärftes Bewusstsein für die Stätten jüdischer Verfolgung und ihre Geschichte. Aber daraus resultierten andererseits auch Bemühungen, die Reste des jüdischen Erbes der Stadt zu bewahren, ohne die Bedeutung des Holocaust zu leugnen. Noch existierende Denkmäler jüdischen Lebens werden ebenso wieder sichtbar gemacht wie ein Gefühl für die „Orte der Leere“ geschaffen wird, die durch die Zerstörungen durch Nationalsozialismus oder städtebauliche Planung der Nachkriegszeit entstanden sind. Die in den letzten 20 Jahren entstandene virtuelle Rekonstruktion jüdischer Stätten wie etwa die dreidimensionale Computer-Visualisierung der Bornplatzsynagoge (im Film „Shalom Hamburg“) bietet hier neue Möglichkeiten. In den Anstrengungen um die Erhaltung des jüdischen Erbes verbinden sich Regionalität wie Internationalität, so beispielsweise in der Erforschung jüdischer Friedhöfe oder der Stationen jüdischer Wanderung lange vor 1933 oder 1945.
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Beate Meyer (Thema: Erinnern und Gedenken), Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Ihre Forschungsinteressen sind: deutsch-jüdische Geschichte, Nationalsozialismus, Oral History, Geschlechtergeschichte und Erinnerungskultur.
Beate Meyer, Erinnern und Gedenken, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-221.de.v1> [21.11.2024].