Die Hamburgerin Hertha Herrmann (1897–1970) war bis 1933 eine anerkannte Sportjournalistin und in ihrer Freizeit eine leidenschaftliche Motorsportlerin. Anfang der 1930er-Jahre galt sie als Deutschlands erfolgreichste Motorradfahrerin. Ende 1937 wurde sie von SA-Männern überfallen und misshandelt; kurz darauf verließ sie Hamburg fluchtartig Richtung New York. Der vorliegende Artikel erschien am 1.4.1931 in den Altonaer Nachrichten auf einer Beilagenseite mit dem Titel „Die moderne Frau in Beruf und Leben“ und dem Untertitel „Sie erobert sich immer weitere Gebiete – und bleibt doch Frau“. Darin wendet sich Hertha Herrmann als selbsternannte Vertreterin autofahrender Frauen an autofahrende Männer. Amüsiert beschreibt sie deren verzweifelte Versuche, sich die „Vorherrschaft“ auf den Straßen nicht von auto- oder motorradfahrenden Frauen nehmen zu lassen und endet mit dem Appell an alle Leserinnen und Leser, Frauen im Straßenverkehr als kompetente Fahrerinnen anzuerkennen. Zweifellos lagen dem Text Hertha Herrmanns eigene Erfahrungen zugrunde. Zugleich ist der Artikel, der in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aufbewahrt wird und über die Europeana zugänglich ist, ein zeithistorisches Dokument, das Einblick in gesellschaftliche Diskurse und Fragen von Gleichberechtigung gibt.
Hertha Herrmann war die Tochter von Gustav und Elise Behrens, geborene Halberstadt. Sie hatte fünf Geschwister, darunter den Zwillingsbruder Max, ebenfalls ein Sportjournalist. Der Vater arbeitete als Redakteur beim auflagenstarken Hamburger Anzeiger, die Familie lebte im Grindelviertel. Nach dem Besuch einer Handelsakademie fand Hertha Behrens eine Stelle als Sekretärin bei dem Chemikalienmakler August Herbold, anschließend bei dem Ingenieur Hans Kretschmer. 1920 heiratete sie den Ingenieur Oscar Herrmann; das gemeinsame Kind starb direkt nach der Geburt. 1929 folgte die Scheidung. Bereits 1925 hatte Hertha Herrmann ihren sicheren Büroarbeitsplatz für die unsichere Tätigkeit als „feste freie“ Mitarbeiterin in der Sportredaktion des Hamburger Anzeigers aufgegeben, die ihr Vater ihr vermittelt hatte. Offensichtlich förderte er den Berufswechsel.
Hertha Herrmann spezialisierte sich auf die Themen Motorrad- und Autosport. Gehörte sie schon als Journalistin zu einer Minderheit, so galt dies umso mehr für den Bereich Motorsport, der ein Interesse für Technik voraussetzte und in dem Frauen die absolute Minderheit darstellten. Schnell schrieb sie nicht nur für den Hamburger Anzeiger, sondern auch für andere Zeitungen im Deutschen Reich wie beispielsweise das Danziger Tageblatt oder wie es dieser Artikel zeigt für die Altonaer Nachrichten, die von 1850 bis zu ihrem Verbot 1941 täglich erschienen. Weitere Aufträge erhielt sie vom Mittel- und Nordeuropäischen Kraftfahrer-Verband für sein Branchenblatt PS; außerdem arbeitete sie regelmäßig als Sportreporterin für den Nordischen Rundfunk. Da sie als erfolgreiche Motorsportlerin bei Auto- und Motorradfirmen wie Opel und Zündapp bekannt war, stellten diese ihr neue Produkte zur Verfügung, die sie sachkundig testete, um dann in einem lebendigen und temperamentvollen Stil darüber zu berichten. Mit ihrer Spezialisierung stellte sie eine absolute Ausnahme unter den berufstätigen Frauen jener Zeit dar. Ende der Weimarer Republik betrug der Anteil der Frauen im Journalismus nur fünf Prozent und nach wie vor schrieben die wenigen Journalistinnen fast ausschließlich für die „weichen“ Ressorts Kultur, Unterhaltung und Soziales. Im Sportressort waren sie so gut wie überhaupt nicht vertreten. Vgl. Susanne Kinnebrock, Frauen und Männer im Journalismus. Eine historische Betrachtung, in: Martina Thiele (Hrsg.), Konkurrierende Wirklichkeiten. Wilfried Scharf zum 60. Geburtstag, Göttingen, 2005, S. 101–132, hier S. 118–119; vgl. Marcus Bölz, Sportjournalistik, Wiesbaden, 2018, S. 73.
Hertha Herrmann nutzte ihre öffentliche Wirkung als angesehene Journalistin, um durch feuilletonistisch geschriebene Texte auf den „Frauenseiten“ verschiedener Zeitungen auch Leserinnen direkt anzusprechen und sie zu ermutigen, sich von geschlechtstypischen Rollenzuschreibungen zu lösen und „neue Gebiete zu erobern“. So im Untertitel der Frauen-Seite, Altonaer Nachrichten, 1.4.1931. 1931 etwa beschwerte sie sich in den Altonaer Nachrichten unter der Überschrift „Weg mit den Damenpreisen!” zunächst über die Ungleichbehandlung von Frauen bei Motorsportwettbewerben: „Haben wir es nötig, uns einfach vom Vorstand eines jeweiligen Klubs oder Verbandes als ,gesondert‘ gewertet verurteilen zu lassen? […] Wir meldeten uns für eine Konkurrenz, in der gleiches Können aller verlangt wird. Berechtigung zum Mit-Start haben wir nur, wenn wir uns stark genug fühlen, männlicher Konkurrenz gewachsen zu sein. Sonst fort aus dem Sport! Als Zierpuppe im Wagen zu sitzen, ziemt sich für einen Schönheitswettbewerb, nicht für eine ernste Autosportleistung.” Altonaer Nachrichten, 13.5.1931. Schließlich rief sie die – allerdings sehr wenigen – Hamburger Motorsportlerinnen auf, sich gemeinsam bei den Verbänden für die Abschaffung der „Damenpreise“ einzusetzen.
Mit dem Motorsport hatte Hertha Herrmann ein äußerst ungewöhnliches Hobby für Frauen gewählt. Nach dem Ersten Weltkrieg war zumindest in bürgerlichen Kreisen die körperliche Ertüchtigung von Frauen nur zum Zwecke der Vorbereitung auf Ehe und Mutterschaft anerkannt. Vgl. Gertrud Pfister, Frauen in Bewegung, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, online unter: digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/frauen-bewegung [Zugriff 8.2.2023]. Dadurch sah sich die Motorradfahrerin Hanni König einmal auf die Frage, ob Motorradfahren für Frauen schädlich sei, zu der ironischen Antwort veranlasst: „Zweifellos! Besonders für den Charakter. Es erzieht die Frau zur Selbständigkeit.“ Central Garage Automuseum (Hrsg.), Frauen geben Gas. Mutige Frauen mit Benzin im Blut, Bad Homburg, 2016, S. 40, PDF-Download von central-garage.de/drucksachen.html [Zugriff 20.1.2023]. Hertha Herrmann beteiligte sich an vielen Rennen, bei denen die Frauen stets zusammen mit den Männern starteten, Vgl. Altonaer Nachrichten, 13.5.1931. und belegte oft erste oder zweite Plätze. 1929 etwa gewann sie einen 400 Kilometer langen Rundkurs durch Schleswig-Holstein. Im Ziel beim Hamburger Hauptbahnhof warteten fast Tausend begeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer. Oder 1930 die Orientierungsfahrt „Rund um Lübecks Türme“: 230 Fahrerinnen und Fahrer, darunter sehr wenige Frauen, kämpften sich bei strömendem Regen durch Schlamm, über holpriges Pflaster und „schmierige […] Feldwege.“ Hamburger Anzeiger, 28.4.1930. Es gab viele Stürze. Auch mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Wettbewerben ihre Motorräder bei Pannen oder Unfällen selbst reparieren. Das Israelitische Familienblatt wiederum feierte sie 1932 unter der Überschrift „Eine Jüdin Deutschlands erfolgreichste Motorradsportlerin“ als Beleg gegen das antisemitische Vorurteil, Jüdinnen und Juden seien körperlich schwach und hob vor allem ihre Erfolge bei Zuverlässigkeitsfahrten gegen „stärkste männliche Konkurrenz“ hervor: „Diese Zuverlässigkeitsfahrten stehen der allgemeinen Fahrpraxis näher als die Rennen, denn sie verlangen neben Mut noch die Fähigkeit, daß die Fahrer nach Fahrten über Hunderte von Kilometern, bei Tag und Nacht, auf die Minute pünktlich in ihren Kontrollen einlaufen müssen, nachdem sie sich vielfach als Solofahrer, wie stets auch Frau Herrmann, durch oft unbekannte Gegend selbst orientieren müssen.” Israelitisches Familienblatt, 21.1.1932.
Vor allem herausragende Motorsportlerinnen wie Herrmann wurden zunehmend zur Konkurrenz für die männlichen Kollegen. Durch ihre Erfolge widerlegten sie das angeblich medizinisch belegbare Argument, Frauen wären wegen ihrer körperlichen Beschaffenheit nicht für den Motorsport geeignet. Vgl. Anke Hertling, Motorisierte Amazonen. Frauen im Autosport, in: Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien, Bd. 23 (2009), S. 173–188, hier S. 178. Zugleich wollten sich viele Motorsportler diesen Angriff auf die vermeintlich ihnen zustehende Domäne ebenso wenig gefallen lassen wie viele Alltagsfahrer – was Hertha Herrmann in dem vorliegenden Artikel auf ironische Weise deutlich macht: „Ueberholt euch ein Mann auf der Straße – egal! Aber wehe, ein Wagen fährt an euch vorbei und ihr seht, eine Frau sitzt am Steuer! Jetzt glaubt ihr, persönlich beleidigt worden zu sein. […] Vorbei, nur wieder vorbei an dieser Frau, die es gewagt hat, euch zu überholen!“ Eine Ausnahme bildete offenbar neben ihrem Vater auch ihr Mann Oscar, der gelegentlich bei ihr als Sozius mitfuhr. Für die Zündapp GmbH in Nürnberg, auf deren Maschinen Hertha Herrmann viele Rennen bestritt, galt sie durch ihre Erfolge sogar als ausgezeichnete „Werbebotschafterin“. Staatsarchiv Hamburg, StaHH 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 19931, o. Pag. Es war im Interesse der damaligen Auto- und Motorradhersteller, dass Autofahrerinnen gesellschaftsfähig wurden, weil sie dadurch zur Popularisierung des Automobils im Alltag beitrugen.
Nicht einmal drei Monate nach der Machtübergabe 1933 wurde der Hamburger Anzeiger gleichgeschaltet und Hertha Herrmann als Jüdin entlassen. Nach einem vorübergehenden Verbot der Zeitung zum 1.4.1933 konnte sie ab dem 20.4.1933 wieder erscheinen, nachdem der Verlag die „Umgestaltung“ der Redaktion „im Einvernehmen mit der hiesigen Gauleitung der NSDAP“ erklärt hatte, vgl. Karl Christian Führer, Umbruch und Kontinuität auf dem Hamburger Zeitungsmarkt nach 1933, Berlin, 2013, S. 9–12; der neue Schriftleiter des Hamburger Anzeigers kündigte Hertha Herrmann daraufhin am 1.6.1933, vgl. StaHH 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 19931, Bl. 14. Auch Aufträge anderer Zeitungen und Zeitschriften blieben aus. Vermutlich lebte sie nun vor allem von Ersparnissen. 1935 zog sie vorübergehend nach Breslau, wo eine ihrer Schwestern inzwischen lebte. Dort konnte sie für Paula Busch arbeiten, die Direktorin des Zirkus Busch. Zudem verfasste sie Artikel für die Breslauer Nachrichten und die Breslauer Zeitung. Als auch das nicht mehr möglich war, kehrte sie nach Hamburg zurück.
Dort begann Ende 1936 für sie ein „Martyrium“, wie sie es später nannte. Auf der Straße wurde sie beleidigt und angespuckt. Ein Überfall durch SA-Männer 1937 gab den Ausschlag für ihre Flucht aus Deutschland: „Ich bin eines Abends […] wenige Schritte von meinem Hause entfernt als Juedin beschimpft und schwer misshandelt worden. Ich habe Schlaege auf den Koerper und das Gesicht erhalten. Es gelang mir mich zu befreien […]. Fuer mich stand es aber fest, dass ich nunmehr in Lebensgefahr war […].“ StaHH 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 19931, o. Pag. Sie floh nach New York, wo eine weitere Schwester lebte. Narben im Gesicht und fehlende Zähne waren sichtbare Zeichen des Überfalls. Hinzu kamen als Folge der Schläge auf den Kopf epileptische Anfälle, verbunden mit Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen.
In New York erlernte Hertha Herrmann die Handschuhnäherei, konnte aber wegen ihrer körperlichen Beeinträchtigungen damit nicht ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihre Schwester unterstützte sie. Am 11.6.1938 heiratete sie den aus Wien stammenden Alfred Klein. 1947 trennte sich das Paar wieder. Erneut erhielt sie finanzielle Zuwendungen von ihrer Schwester. Sie war dem nationalsozialistischen Terror entkommen, doch ihren Lebensentwurf und ihr Selbstwertgefühl hatte er zerstört. Aus einer mutigen, emanzipierten Journalistin und Sportlerin war eine traumatisierte Frau geworden, die dauerhaft fürsorgerische und finanzielle Hilfe benötigte. Mit 72 Jahren starb Hertha Herrmann in New York. Ihr Artikel hat als Zeugnis ihrer journalistischen Tätigkeit und ihres Könnens als Motorsportlerin die Zeit überdauert
Frauke Steinhäuser arbeitet freiberuflich als Historikerin, Geschichtsdidaktikerin und Ausstellungskuratorin in Hamburg. Sie ist u. a. Autorin von „Stolpersteine in Hamburg-Hohenfelde. Biografische Spurensuche“ (2016), „Stolpersteine in Hamburg-Grindel I. Biografische Spurensuche“ (2017) und „,… bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden im April 1933’. Jüdische und als jüdisch verfolgte Sportler:innen im Nationasozialismus in Hamburg“ (2022). Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Gender Studies, Geschichte marginalisierter Personen und Gruppen, Holocaust, NS-Täter*innenforschung und Erinnerungskultur.
Steinhäuser, Frauke, Jenseits von Rollenklischees – die Motorradsportlerin und Journalistin Hertha Herrmann, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 15.12.2023. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-292.de.v1> [06.12.2024].