Freizeit und Sport sind Bereiche des Alltagslebens, in denen es viele Gemeinsamkeiten und einige Besonderheiten zwischen der jüdischen Minderheit und der christlichen Mehrheit gibt. Von der frühen Neuzeit an erfolgte im Zuge von Säkularisierung und Aufklärung eine Angleichung im Freizeitverhalten. In diesem Zeitraum entstand eine neue Ordnung der täglichen Zeit, in der immer mehr Menschen selbstbestimmte Zeit außerhalb der Erwerbstätigkeit bzw. der Hausarbeit verbringen konnten. Neue Unterhaltungs- und Bildungsangebote wurden von Juden wie von Nichtjuden gleichermaßen genutzt. Außerhalb der religiösen Ordnung der Zeit gab es daher spätestens im 20. Jahrhundert kaum noch Unterschiede im Freizeitverhalten. Der Sport dagegen war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Teilbereich der Freizeit, in dem jüdische Identität eine zentrale Rolle spielte, vor allem für die zionistische Bewegung. Daher differenzierte sich die jüdische Sportbewegung an dieser Frage aus: Die weltanschaulichen Gruppen im deutschen Judentum ordneten sich im 20. Jahrhundert jeweils eigenen Sportorganisationen zu. Nach der durch den Nationalsozialismus erzwungenen Separierung und späteren Zerstörung aller jüdischer Freizeit- und Sportorganisationen hat es einige Jahrzehnte gedauert, bis wieder jüdische Sport- und Freizeitvereine in Deutschland gegründet wurden. Im Freizeitbereich zeigt sich dabei in letzter Zeit eine neue Tendenz: Es werden nun vermehrt dezidiert jüdische Organisationen gegründet.
Freizeit und Sport haben in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen, sowohl im persönlichen Alltag vieler Menschen wie auch als Teilbereiche der Wirtschaft und des Gesundheitswesens. Auch das historische Interesse ist gewachsen. Fragen nach der Geschichte des Alltags der Bevölkerung, der Freizeitgestaltung, dem Vergnügen an oder mit sportlichen Aktivitäten sind allerdings nicht leicht zu beantworten. Noch schwieriger wird es, wenn es um die Geschichte der jüdischen Minderheit in Deutschland geht, denn die jüdische Geschichtsschreibung war traditionell mehr an geistesgeschichtlichen Themen orientiert als an alltagshistorischen. Die neuere sozialhistorische Forschung fragt nach Akkulturation, Auseinandersetzung mit Antisemitismus oder nach jüdischen Identitäten und nimmt Freizeit und Sport vor allem als Teilbereiche dieser Fragen wahr. Die Freizeitforschung wiederum ist erst in den 1980er-Jahren entstanden und inzwischen nur noch am Rande mit historischen Themen befasst. Dagegen hat sich die allgemeine Geschichte des Sports inzwischen aus der Ecke der Geschichte von Helden(taten), die von Fans geschrieben wird, herausbewegt, befasst sich aber nur teilweise mit dem Bereich der jüdischen Geschichte. Schließlich gibt es auch begriffliche Probleme, denn die Begriffe „Freizeit“ und „Sport“ sind erst seit dem 19. Jahrhundert in den Sprachgebrauch gekommen; die Phänomene, die damit angesprochen sind, hat es aber vorher schon gegeben. So könnte man als vergleichbaren Begriff für Freizeit für die früheren Epochen vielleicht von Muße, Geselligkeit, Erholungszeit oder auch nicht alltäglichen „Auszeiten“ sprechen, wie etwa die Zeit des Karnevals. Seit der Aufklärung jedoch bedeutet Freizeit nicht einfach nur „freie Zeit“, sondern meint eine Zeit, die der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit gewidmet ist. Man liest zum Beispiel Literatur, um sich zu bilden und damit auch der Weiterentwicklung der Menschheit zu dienen. Dieses ursprünglich bürgerliche Ideal der Freizeit wurde nach der Industrialisierung auch auf andere Schichten, vor allem auf Arbeiter, übertragen – Freizeit wurde damit zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen. Ein weiterer Hintergrund dieses gesellschaftlichen Wandels war die zunehmende Säkularisierung in Europa, denn seit dem 19. Jahrhundert wurde die arbeitsfreie Zeit nicht mehr vorrangig durch religiöse Bezüge bestimmt. Freizeit wurde so zu einer grundlegenden Kategorie der modernen Industriegesellschaft und als säkularer Gegenbegriff zur nicht selbstbestimmten Arbeitszeit gedacht.
Sport meint körperliche Aktivitäten, die in Form von (öffentlichen) Wettkämpfen, zur individuellen Leistungssteigerung oder einfach zum Vergnügen ausgetragen werden. Bestimmte Aktivitäten, die heute zum Sport zählen, etwa Fechten, Boxen, Reiterturnier etc., hat es aber auch in früheren Zeiten schon gegeben.
Zu Beginn der frühen Neuzeit war der Lebensrhythmus der Menschen vorrangig vom religiösen Ritus bestimmt. Große Teile des Tages bestanden vor allem aus Arbeit, die den Lebensunterhalt der Familie sicherte. Die wenigen freien Stunden oder Tage waren durch den Ritus strukturiert, z. B. am Schabbat. Neben den rituell begründeten Festtagen und der damit verbundenen Freizeitaktivität hat es aber wohl auch Vergnügungen säkularer Art gegeben. Noch im rituellen Kontext verankert waren musikalische Unterhaltungsveranstaltungen, die im Rahmen von Hochzeiten stattfanden oder als Purimspiele aufgeführt wurden. In einem eher säkularen Zusammenhang machten jüdische Familien auch Hausmusik, besuchten Komödien oder Opern und leisteten sich Unterricht bei Tanzmeistern – jedenfalls wurden die letztgenannten Unterhaltungen ausdrücklich in den Gemeindestatuten der Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek aus dem Jahre 1706 verboten. Auch blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein der Besuch von Maskenbällen in allen jüdischen Gemeinden verboten. Ausdrückliche Verbote sind ein Zeichen dafür, dass es Ordnungsbedarf für diesen Bereich gab, also Jüdinnen und Juden solche Bälle oder Opern offenbar besuchten. Waren dies eher städtische Beschäftigungen, so war auf dem Land der (männliche) Besuch von (christlichen) Wirtshäusern verbreitet. Hier zeigte sich, dass der alltägliche Kontakt zwischen christlichen und jüdischen Männern gegeben war; aber auch diese Form der Freizeitgestaltung wurde von den Rabbinern nicht gut geheißen. Zum Ende der frühen Neuzeit hin nahmen dann immer mehr Juden und Jüdinnen auch an den (wachsenden) Unterhaltungsangeboten außerhalb der Gemeinde bzw. des Ritus teil.
Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch beim Reisen: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dienten Reisen zu anderen Orten einem Zweck beruflicher oder ritueller Art und nicht dem Freizeitvergnügen. Ausnahmen machten hier wohl nur Reisen in die unmittelbare Nähe, z. B. um Verwandte im Nachbardorf zu besuchen – aber dafür liegen kaum Quellen vor. Auch für das Reisen wird generell eine allmähliche Säkularisierung des Alltagsverhaltens spätestens ab dem 18. Jahrhunderts behauptet, und daher wurden auch Kontakte zwischen Juden und Christen intensiver. Dieser Wandel wurde dann im 19. Jahrhundert offensichtlich. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen zeigen, dass der Bereich der Freizeit im Zuge des Verbürgerlichungsprozesses neu, überwiegend säkular gestaltet wurde. Wohlhabende Jüdinnen aus Berlin etwa reisten regelmäßig in Kurorte, nahmen dort an allen typischen Aktivitäten teil und konnten auswählen, ob sie in einem nach jüdischem Ritus geführten Gasthaus wohnten oder nicht. Die Aufenthalte dienten zwar der Gesundheit, symbolisierten aber zugleich den geschlechterdifferenten Umgang mit Arbeit und Freizeit im entstehenden Bürgertum: Frauen repräsentierten symbolisch den Reichtum und den Status der bürgerlichen Familie, konnten sie es sich doch vermeintlich leisten, nur noch Freizeit zu haben.
Einen ähnlichen symbolischen Status hatten die wenigen jüdischen Frauen, die einen Salon führten. Diese Form der Vergemeinschaftung und des gebildeten Gesprächs stellte eine neue Freizeitbeschäftigung für eine kleine Elite von adeligen und bürgerlichen Männern dar, in der man über Religionsgrenzen hinweg miteinander diskutierte. In Berlin waren es die Salons der Jüdinnen Rahel Varnhagen und Amalie Beer, die Aufsehen erregten, in Hamburg machte sich Charlotte Embden, die Schwester Heinrich Heines, einen Namen als Gastgeberin. Es war jedoch eine andere Form der säkularisierten Vergemeinschaftung, die sich zum Erfolgsmodell für die bürgerliche Freizeitgestaltung im 19. Jahrhundert entwickelte: der Verein. An der „Zeit der Vereine“ (Thomas Nipperdey) waren auch Juden und Jüdinnen rege beteiligt. Tagebuchaufzeichnungen belegen, dass die zunehmende Zeit ohne Erwerbstätigkeit (zuerst im Bürgertum, nach dem Ersten Weltkrieg auch in der Arbeiterschaft) von vielen Männern zur Erholung oder Weiterbildung außerhalb der Familie genutzt wurde, so etwa im Falle eines ledigen jüdischen Bankangestellten in Dresden zwischen 1833 bis 1837, den Christopher R. Friedrichs untersucht hat. Spaziergänge in einem nahegelegenen Park mit seinen Freunden, Besuch der dort angebotenen kostenfreien Konzerte, Karten oder Billard spielen, Besuche in einem Kaffeehaus bestimmten die Freizeit unter der Arbeitswoche. Synagogenbesuche gehörten auch dazu, allerdings nur an den Feiertagen. Als 1833 ein eigenständiger jüdischer Klub für Freizeitangebote gegründet wurde, gehörte der junge Mann zu den ersten und begeisterten Mitgliedern. Neben diesen alltäglichen Vergnügungen bildete der Angestellte sich auch weiter, in dem er in seiner Freizeit Sprachen lernte.
Wintervergnügen auf der Elbe zwischen Hamburg und
Altona
im Februar 1838, 30 x 54 cm
Quelle: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky Hamburg,
PPN669866059, CC-Lizenz CC BY-SA
4.0, gezeichnet, gedruckt und verlegt von P. Suhr in Hamburg -
[Nachdruck der Ausgabe] 1838 / Lichtdruck von C. G. Röder, Leipzig. -
Hamburg: Nielsen, 1911.
Das Beispiel dieses Mannes steht paradigmatisch für eine typische Freizeitgestaltung bürgerlicher Männer im 19. Jahrhundert: Erholung und Bildung bildeten die zentralen Inhalte. Die Angebote in diesem Bereich nahmen stetig zu, neben den Kaffeehäusern und Wirtschaften wurden immer mehr öffentliche Parks eingerichtet, in denen Familien auch ihre Freizeit verbrachten. Dass diese Räume auch zum Ort von Konflikten wurden, zeigen u. a. die gewalttätigen antisemitischen Übergriffe in Hamburg 1819 und in späteren Jahren, die in den Lokalen an der Alster begannen.
Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert kamen noch weitere Unterhaltungsmöglichkeiten hinzu: billigere Bücher, ein großes Angebot an überregionalen und regionalen Zeitungen, kommerzielle oder über Vereine vermittelte Bildungsangebote, Klubs und Vereine für ganz verschiedene Interessen, Kinos, Radioprogramme, Unterhaltungsshows in Varietés, verbilligte Angebote für Theater- oder Opernkarten (oft über Vereine vermittelt) sowie Sportvereine und Sportveranstaltungen (z. B. das Berliner Sechstagerennen) und vieles mehr.
Fassade des Logenhaus in der Hartungstraße 9-11
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte
der deutschen Juden, BAU00362, Sammlung Müller-Wesemann,
Zentrum für Theaterforschung, Hamburg
Diese unvollständige Aufzählung belegt, dass im 20. Jahrhundert die freie Zeit in allen Gesellschaftsschichten zunahm, zuerst für den männlichen Teil, ab den 1950er-Jahren mit der zunehmenden Mechanisierung der Hausarbeit bzw. der gesellschaftlichen Liberalisierung auch für den weiblichen. Außerdem erweiterten sich die Freizeitangebote in den öffentlichen Raum hinein, nicht zuletzt durch die zunehmende Kommerzialisierung der Freizeit. Sicherlich spielten familienbezogene Aktivitäten auch weiterhin eine wichtige Rolle, z. B. Hausmusik, Spaziergänge und Besuche, aber die grundsätzliche Tendenz ging dahin, Freizeit als einen Bereich getrennt von Erwerbstätigkeit, Familie und Religion zu leben. Zusätzlich entwickelte sich schon mit der Jugendbewegung seit 1890 auch ein generationsspezifisches Angebot an Freizeit. Jugendliche gestalteten ihre Freizeit anders als Erwachsene, sodass auch neue Angebote entstanden: zuerst Wanderfahrten und Jugendtreffen (Weimarer Republik), später Rockkonzerte und Beat-Clubs (1950er- und 1960er-Jahre), Jugendzentren in eigener Verwaltung sowie Parteiorganisationen für junge Menschen seit den 1970er-Jahren.
Diesen Prozess der Abspaltung und Aufwertung der Freizeit erlebten auch Juden und Jüdinnen. Von daher macht es für das 20. Jahrhundert eigentlich wenig Sinn, nach der „jüdischen Freizeit“ zu suchen. Aber es gab doch auch eine besondere Qualität: Manche Freizeitorganisationen hatten eine ausdrückliche jüdische Identität, beispielsweise die zionistischen Wanderbünde Blau-Weiß. Im Bereich von Bildung und Kultur entstanden gerade in der Weimarer Republik zahlreiche jüdische Einrichtungen, wie etwa Lehrhäuser oder Bibliotheken. Je stärker der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft wurde, desto mehr waren auch Freizeitvereinigungen herausgefordert, sich dazu zu verhalten. Bis zum Beginn des nationalsozialistischen Regimes waren die zionistischen Gruppen in Deutschland jedoch in der Minderheit. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft änderte sich alles. Die staatliche Ausgrenzungspolitik begann im Erwerbsleben, griff aber schnell auch auf die private Seite des Lebens über. Selbsthilfeeinrichtungen wie der Jüdische Kulturbund, der Unterhaltungsangebote für die jüdische Gemeinschaft in Hamburg von 1933 bis 1939/41 organisierte, waren dann neben den Sportvereinen oft noch die einzige Möglichkeit, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen.
Orchesterprobe des Jüdischen Kulturbunds Deutschland in der Berliner
Philharmonie für Aufführungen am 7. und 8. Mai 1934
Quelle: Wikimedia Commons, CC-Lizenz CC0, Familienalbum von Dr. Werner Liebenthal.
In diesen Jahren wurde zwangsläufig auch der zionistische Gedanke in der jüdischen Bevölkerung verstärkt, bei manchen aus purer Notwendigkeit, z. B. um die Emigration vorzubereiten, bei anderen auch aus Überzeugung, dass dies die einzig mögliche Antwort auf den Antisemitismus sei und insbesondere die Jugend nun lernen müsse, auch ihre Freizeit „geschichtsbewusst“ zu gestalten.
Nach der Schoah bildeten sich zwar neue jüdische Gemeinden in Deutschland, aber diese blieben doch isoliert und bis in die 1980er- und 1990er-Jahre hinein nach außen wenig sichtbar. Die Erfahrungen während der NS-Zeit veränderten auch das Freizeitverhalten. In den Jahren der Ausgrenzung und Verfolgung waren Juden und Jüdinnen gezwungen gewesen, sich nur in jüdischen Zusammenhängen zu vergnügen oder zu erholen – so lange dies überhaupt noch möglich war. Nach 1945 gründeten sich die neuen Gemeinden als orthodoxe Einheitsgemeinden, die auch entsprechende, aber wenige Freizeitangebote in ihren neuen Gemeindezentren machten. Freizeit war wohl für viele Juden, die in der Nachkriegszeit in Deutschland lebten, aufgeteilt in einen religiös definierten Bereich und einen allgemein-gesellschaftlichen, in dem man nur bedingt als Jude erkennbar war oder sein wollte. Als in den 1960er-Jahren dann der Zentralrat der Juden in Deutschland konstatierte, dass sich vor allem die jungen Menschen nur wenig für das Gemeindeleben interessierten, versuchte man auch mit besonderen Freizeitangeboten gegenzusteuern, z. B. durch die Einrichtung gemeindeeigener Jugendzentren oder Jugendseminaren. Alle diese Einrichtungen gründeten jedoch auf einer dezidiert orthodox verstandenen jüdischen Identität und brachten damit viele junge Menschen in Zweifel über ihre eigene, frei gewählte Zugehörigkeit. Auch aus diesen Debatten, zusammen mit den demografischen und sozialen Verschiebungen in den Gemeinden, entstand seit den 1980er-Jahren eine neue Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland. Die Gestaltung der Freizeit bei Jüdinnen und Juden unterscheidet sich heute insgesamt wohl nicht signifikant von anderen Gruppen, abgesehen von eigenen religiösen Feiern. Neu ist jedoch, dass seit den 1990er-Jahren manche sich deutlich als Jude oder Jüdin zeigen oder in einem jüdisch definierten Kontext in ihrer Freizeit bewegen, sei es in einem jüdischen Sportverein oder einem Studentenclub, beispielsweise in der Jüdische Organisation norddeutscher Studenten e.V. (JONS), die 1995 gegründet wurde, oder als Teilnehmer an einer jüdischen Kulturwoche, die in Hamburg 2004 und 2005 stattfand.
Sport ist seit dem beginnenden 20. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil des Themenfeldes Freizeit: Immer mehr Menschen wurden selbst sportlich aktiv, traten einem Verein bei oder begeisterten sich als Zuschauer für herausragende Leistungen von Sportlern. Aber anders als die Freizeit allgemein, war Sport eng mit jüdischer Identifikation verbunden. Als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus und die Ausgrenzung aus „deutschen“ Vereinen, aber auch als Teil einer selbstbestimmten jüdischen Identität, wurde „körperliche Ertüchtigung“ zum probaten Mittel erklärt, um den neuen, körperlich starken und widerstandsfähigen Juden zu schaffen. Max Nordau prägte das Schlüsselwort für diese Forderung: Muskeljude. 1898 wurde bereits der erste jüdische Turnverein im Deutschen Reich, der Bar Kochba Berlin, gegründet. Schon 1902 etablierte sich die Jüdische Turnerschaft in Hamburg, die sich aber nicht als national-jüdische Vertretung verstand. Der 1910 gegründete Bar Kochba Verein in Hamburg sah dagegen seine Aktivitäten auch als einen konkreten, individuell zu leisteten Beitrag zur Bildung einer modernen, körperlich geprägten jüdischen Identität an.
Startübung beim Training der Läufer des Bar
Kochba in Hamburg, 1930
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte
der deutschen Juden, 21-015/319, Sammlung Randt / Max
Brimer.
Beide Vereine waren zuerst Turnvereine, seit 1913 wurden dann neue Sportarten (Leichtathletik, Fechten, Fußball, in Hamburg auch Rudern) dazu genommen und zudem eigene Frauenabteilungen gegründet. Die Bar Kochba Vereine schlossen sich 1921 zum Verband Makkabi zusammen, der sich dem politischen Zionismus verpflichtet fühlte. Sportliche Leistungen waren in diesem Verband nicht nur mit nationaljüdischem Stolz verbunden, sondern dienten auch als Argumente zur Abwehr antisemitischer Propaganda. Zumindest in diesem Punkt waren sich alle Organisationen des deutschen Judentums einig; der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) behandelte Sport jedoch ausschließlich unter diesem Aspekt, ansonsten spielte das Thema keine Rolle. Auch hier zeigt sich die starke Polarisierung im deutschen Judentum in Bezug auf eine nationaljüdische Identität: Jüdischer Sport war vor allem ein zionistisches Projekt. In Hamburg war schon die Gründung der Jüdischen Turnerschaft 1902 auf Kritik gestoßen: Man solle sich doch lieber in Vereinen ohne konfessionelle Grundlage engagieren, z.B. in der allgemeinen Deutschen Turnerschaft. In den 1920er-Jahren differenzierte sich die Sportbewegung in Hamburg dann entsprechend aus: 1927 entstand mit dem Hamburger Jüdischen Sport- und Turnverein Hakoah eine Gruppe, die sich ebenfalls gegen den zionistischen Bar Kochba ausrichtete und auch der dem CV nahestehende Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten gründete 1933 eine eigene Sportgruppe „Schild“.
Gruppenfoto des Bar Kochba Hamburg und Bar
Kochba Kiel in Kiel, Pfingsten 1932
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte
der deutschen Juden, 21-015/327, Sammlung Randt / Max
Brimer.
Tatsächlich war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich, dass Juden Mitglieder in „deutschen“ Sportvereinen sein konnten. Alle „allgemeinen“ Sportvereine hatten spätestens 1933 einen „Arierparagrafen“ in ihre Satzungen aufgenommen und ihre jüdischen Mitglieder ausgeschlossen. Juden und Jüdinnen, die Sport treiben wollten, mussten sich daher an die jüdischen Vereine wenden. Zunächst führte dies auch in Hamburg zu einem Aufschwung der jüdischen Vereine. 1935 sollen etwa 10 Prozent der Gemeindemitglieder in den Sportvereinen aktiv gewesen sein. Die Verarmung der jüdischen Bevölkerung und die steigende Zahl der Emigrationen führten dann aber zu Mitgliederverlusten; die jüdische Gemeinde förderte dennoch bis zum Verbot aller jüdischen Vereine 1938 die Sportvereine weiter. Der Sport war bis dahin ein wichtiges Identifikationsangebot oder auch schlicht Ablenkung vom schweren Alltag für viele, gerade junge Jüdinnen und Juden.
Beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland nach 1945 spielten Sport und Sportstätten zunächst keine Rolle. Man konzentrierte sich auf den Aufbau der religiös zentralen Einrichtungen und einem Gemeindezentrum. Der Sport an sich zog aber weiterhin Aktive und Fans an: So konnten etwa einzelne Personen ihre Aufgaben als Sportfunktionäre wieder aufnehmen, z.B. Kurt Landauer als Präsident bei Bayern München. In den Lagern der Displaced Persons (DP) wurde viel Fußball gespielt und auch neue jüdische Vereine, ja ganze Ligen gegründet. Diese lösten sich jedoch auf, als 1948 viele DPs in den neuen Staat Israel übersiedelten. Eine eigene jüdische Sportbewegung entstand dann wieder in den 1960er-Jahren, als sich 1965 mehrere Vereine zum jüdischen Sportverband Makkabi Deutschland e. V. zusammenschlossen. In Hamburg wurde erst 1977 der Turn- und Sportverein Makkabi e. V. neu gegründet.
Heute geht es in den nationalen Makkabi-Vereinen immer noch um jüdische Identität. Die Mitglieder verstehen sich als Teil einer weltweiten national-jüdischen Gemeinschaft, die sich in Israel und in der Diaspora selbstbewusst zeigt. Seit 1932 findet alle vier Jahre die internationale Spitzensportveranstaltung Maccabiah statt. Der deutsche Verband Makkabi nimmt seit 1969 wieder teil. Seit 1929 gibt es zudem die europäische Makkabiade, die ebenfalls alle vier Jahre stattfindet, zuletzt 2015 in Berlin. Diese Veranstaltung war die erste europäische Makkabiade in Deutschland. Am historischen Ort der nationalsozialistisch inszenierten Olympischen Spiele in Berlin trafen sich im August 2015 jüdische Sportler aus ganz Europa, um sich im Wettkampf zu messen und gegen Antisemitismus und Rassismus einzusetzen. Diese 14. Makkabiade hat in der deutsch-jüdischen Geschichte daher eine besondere symbolische Bedeutung, denn mit ihr kam der national-jüdische Sport in das Land zurück, in dem die jüdischen Sportlerinnen und Sportler nach 1933 ausgegrenzt und verfolgt worden waren.
Im Bereich des Sports gibt es bis heute eine sehr starke jüdische Identifikation. Doch lösen sich die Unterscheide zu anderen Freizeitbereichen langsam auf. Das Anwachsen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit den 1990er-Jahren hat nicht nur zu einer inneren Pluralisierung geführt, sondern auch die Gründung selbstbewusster jüdischer Freizeiteinrichtungen ermöglicht, vom jüdischen Schachclub über den Chor bis zur Theatergruppe. Damit wird nun die gesamte Freizeit stärker als in den vorangegangenen Jahrzehnten mit jüdischer Identität verknüpft.
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Kirsten Heinsohn (Thema: Freizeit und Sport), PD Dr. phil., war von 2013-2015 Associate Professor im Fachbereich für Englische, Germanische und Romanische Studien an der Universität Kopenhagen. Seit 2015 ist sie stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der neueren deutschen Geschichte, deutsch-jüdischer Geschichte und Gender Studien.
Kirsten Heinsohn, Freizeit und Sport, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-213.de.v1> [21.11.2024].