Der Hamburger Verein für Krankenpflege und die Modernisierung jüdischer gemeinnütziger Gesellschaften im frühen 19. Jahrhundert

Benjamin Maria Baader

Quellenbeschreibung

Dieser deutschsprachige Text von 1831 wurde als Einleitung zu der ersten Ausgabe der Statuten einer Hamburger Krankenpflegegesellschaft gedruckt, die scheinbar nicht erhalten geblieben sind. Sie ging aber auch den überarbeiteten Statuten des gleichen Vereins von 1836 voraus und wird in diesem Zusammenhang im Folgenden erläutert. In der Einleitung werden die Werte und Prinzipien des Vereins, der sehr allgemein als Verein für Krankenpflege bezeichnet wird, vorgestellt. Der Verein war ein moderner freiwilliger Zusammenschluss, der den religiös motivierten Rahmen der frühneuzeitlichen jüdischen hevrot traditionelle jüdische Vereine hinter sich gelassen und sich der Aufklärung und bürgerlichen Werten verschrieben hatte.


Tatsächlich besagen weder die Einleitungnoch die Satzung selbst, dass diese Krankenpflegegesellschaft von Juden oder für Juden gegründet wurde. Vielmehr erwähnt die Einleitung, dass „Mitglieder des Kaufmanns=Standes“ den Verein für solche Kaufleute gegründet hatten, welche „Individuen der gebildeten Klassen“ waren (S. 1). Die Namen der Unterzeichner des Vorwortes von 1836 und die Tatsache, dass das Dokument heute in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem aufbewahrt wird, deuten jedoch darauf hin, dass der Verein zumindest weitestgehend jüdische Mitglieder hatte. Einige der Unterzeichner haben eindeutig jüdische Namen, wie David J. Levi, und andere, wie Siegmund Robinow und J. M. Warburg, gehörten zu bekannten jüdischen Familien in Hamburg, die mit dem Israelitischen Tempel verbunden waren.

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Junge jüdische Kaufleute vertreten ihre Interessen in einer neuen Form gemeinnütziger Vereine


In der Einleitung zur Satzung des Hamburger Vereins für Krankenpflege wird erklärt, die Gesellschaft „beschraͤnkt ihre Fuͤrsorge nicht allein auf Unterstuͤtzung, sondern sie uͤbernimmt auch die Pflichten der Freundschaft gegen die Kranken, uͤbt heilige Menschenliebe gegen dieselben, sucht dem Alleinstehenden, Verwandte zu ersetzen, und die Trennung von den Seinigen minder fuͤhlbar zu machen“ (S.1). Dementsprechend erklären die Statuten, dass der Verein „verpflichtet war, das Leiden des Krankenbettes durch Freundschaftsbesuche zu lindern" (S. 7), die von Mitgliedern des Vereins für Krankenpflege selbst durchgeführt wurden. Ein krankes Mitglied genoss diese persönliche Betreuung zusätzlich zu den professionellen Dienstleistungen eines Arztes, eines Chirurgen und zweier Begleitpersonen, die vom Verein engagiert wurden (S. 7). Im Krankheitsfall wurden Beitrag zahlende Mitglieder in einem Krankenhaus oder Kurzentrum untergebracht und erhieltenaußerdem eine wöchentliche Bargeldleistung.


Demnach richtete sich der Verein für Krankenpflege offenbar an junge, unverheiratete Männer, die vor kurzem in Hamburg angekommen waren und keine Familie in der Stadt hatten. Die Satzung sah vor, dass die Mitglieder zum Zeitpunkt ihres Beitritts unverheiratet und zwischen 18 und 40 Jahren alt sein mussten (S. 10). Dies stand im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen jüdischen Vereinen, die nur gut etablierte Gemeindemitglieder zuließen. Die frühneuzeitlichen hevrot hatten oft unverheiratete Männer von Führungspositionen ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang scheint der Verein für Krankenpflege von der Bewegung der Jugendhevrot inspiriert, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts in deutschen und mitteleuropäischen Städten wie Dresden, Frankfurt, Heidelberg und Prag entwickelt hatten. Die prominentesten und beliebtesten Beispiele dieser Jugendhevrot waren die Gesellschaft der Freunde in Berlin und Königsberg und die Gesellschaft der Brüder in Breslau. In diesen neuartigen Krankenhilfegesellschaften drückten junge Männer ein neues Selbstvertrauen aus und schufen einen Rahmen, der ihnen im Krankheitsfall medizinische Versorgung und finanzielle Unterstützung bot. Zumindest einige ihrer Mitglieder waren erst kurz zuvor in die Städte gezogen, in denen sie lebten. Ihr Aufenthaltsrecht war prekär, ihnen fehlte die familiäre Unterstützung, und im Falle von Krankheit oder Not waren sie auf kommunale Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen, die nur widerwillig Fremde und Neuankömmlinge unterstützten.


Der Verein für Krankenpflege betonte jedoch nachdrücklich, dass er keine Almosen verteilte. Vielmehr stellte der Verein in der Einleitung seiner Satzung fest, dass sich die Mitglieder freundschaftlich und gleichberechtigt gegenseitig unterstützten, und der Text behauptete, dass seitens des Vereins „mit Sorgfalt Alles vermieden worden [sei], wodurch das zarteste Ehrgefuͤhl auch nur im Mindesten gekraͤnkt werden koͤnnte“ (S. 1). Dementsprechend musste ein erkranktes Mitglied finanzielle Leistungen annehmen, denn wenn er sich weigerte, drohte eine Strafe. So mag sich dieser Krankenpflegeverein an junge Männer in etwas prekären Umständen gewandt haben, doch er war nicht für Arme und Marginalisierte gedacht. Die Vorstandsmitglieder des Freiwilligenverbandes erhielten keine Entschädigung für die Ausübung ihrer Ämter, und die Mitgliedschaft erforderte einen „makellosen Ruf“ und wurde „unnachsichtlich“ widerrufen, falls eine polizeiliche „entehrende Strafe“das gesellschaftliche Ansehen eines Mitglieds kompromittierte (S. 9-10). Zudem ließ die Gesellschaft für Krankenpflege Neuankömmlinge erst dann zu, wenn sie seit einem Jahr in Hamburg lebten oder ein Unternehmen in der Stadt gegründet hatten.


Offensichtlich strebten diese jungen Männer danach, sich als respektable Mitglieder des Bürgertums zu etablieren. Fürsorgeempfänger zu sein oder die Gesellschaft unseriöser Neuankömmlinge oder von Männern mit zweifelhaftem Ruf zu pflegen, hätte sich negativ auf ihren sozialen Status auswirken können. Noch konkreter war die „Ehre“ eines Kaufmanns seine Kreditwürdigkeit, und ein junger Mann, der gerade dabei war, sich einen guten Ruf in der Geschäftswelt aufzubauen, musste äußerst vorsichtig sein. Auch wenn sie sich anscheinend bewusst waren, dass Krankheit ihre wirtschaftliche Situation gefährden und sie von Unterstützung und Fürsorge abhängig machen könnte, besaßen diese jungen Kaufleute Ehrgeiz, Selbstwertgefühl und ein neues Gefühl der Selbstständigkeit. Sie behaupteten sich nicht nur dadurch, dass sie ihre eigenen Interessen vertraten, sondern ihre Vereinigung drückte auch das selbstbewusste und selbstreferentielle Weltbild des aufstrebenden Bürgertums aus, und nicht die religiöse und bescheidenere Sichtweise früherer Generationen jüdischer Männer. Im folgenden Abschnitt wird dieser Übergang im Detail erläutert.

Der Verein für Krankenpflege und die Modernisierung jüdischer gemeinnütziger Gesellschaften


Die Krankenpflegegesellschaften, die in frühneuzeitlichen deutschen Ländern tätig waren, hatten keine einheitlichen Geldleistungen gewährt. Die vormodernen Verbände, die zu Recht hevrot bikkur holim Krankenbesuchsvereine genannt wurden, hatten in einem religiösen Rahmen gearbeitet und sich auf die geistliche Unterstützung bei Krankheiten und die Unterstützung bei der Durchführung von Sterberiten und Bestattungen konzentriert. Wenn ein Mitglied einer hevra Singular von hevrot einen finanziellen Beitrag erhalten hatte, so war dies ein Akt der Barmherzigkeit gewesen. Von dieser Praxis distanzierten sich die Mitglieder des Vereins für Krankenpflege eindeutig.


Ebenso, wenn auch nicht ganz so explizit, lehnten sie den religiösen Rahmen ab, der seit dem späten 17. Jahrhundert die Verbreitung von hevrot im frühneuzeitlichen Deutschland ausgelöst hatte und der für viele jüdische gemeinnützige Vereine in den frühen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch immer bestimmend war. Die frühneuzeitlichen hevrot waren ursprünglich für das Studium religiöser Texte in einem mystischen Kontext gegründet worden, und der Aufstieg jüdischer gemeinnütziger Gesellschaften war durch die Verbreitung kabbalistischer Ideen und Praktiken in Aschkenas deutsche und osteuropäische jüdische Siedlungen befördert worden. So war eine vormoderne hevra vor allem ein männlicher Gebetskreis, dessen Mitglieder danach strebten, die mitzvot  Gebote des Torastudiums, der zedaka  Wohltätigkeit, und der Barmherzigkeit, genannt gemilut hesed, zu erfüllen. Gemilut hesed umfasste verschiedene wohltätige Handlungen, unter denen besonders die Bestattung von Bedeutung war. Tatsächlich waren die ersten hevrot Bestattungsgesellschaften gewesen, und bis ins 19. Jahrhundert hinein kümmerte sich die große Mehrheit der jüdischen gemeinnützigen Gesellschaften noch immer um die Bestattungen ihrer Mitglieder. Hevrot erfüllten zudem wichtige soziale Funktionen, wie die Armenspeisung, Krankenpflege und die Mitgiftgabe an arme Bräute, aber ihr Hauptzweck war das geistliche Wohl ihrer Mitglieder. Ob eine fromme, wohltätige Handlung einem Verstorbenen, Kranken oder Armen zu Gute kam, die philanthropische Tat stellte letztlich und in erster Linie ein Mittel dar, um Gott zu dienen. Dementsprechend nannten die Statuten jüdischer Verbände die Belohnung in der olam ha-ba kommenden Welt als Motivation für die Gründung einer gemeinnützigen Gesellschaft.


Im 18. Jahrhundert jedoch erweiterten die hevrot in Deutschland und Mitteleuropa die Funktionen ihrer freiwilligen Zusammenschlüsse um gegenseitige Hilfeleistungen und legten damit den Grundstein für eine dramatische Verwandlung des jüdischen Vereinslebens. Wie bereits erwähnt, hatten die Mitglieder der Jugendhevrot nun Anspruch auf medizinische Versorgung und finanzielle Leistungen bei Krankheit oder Not, und in Frankfurt hatten unverheiratete Juden bereits 1738 eine spezialisierte Krankenpflegegesellschaft gegründet, die auf Gegenseitigkeit basierte. In Hamburg folgte der um 1780 gegründete Verein Aguda Jeschara Ehrliche Gesellschaft diesem Trend zur finanziellen Unterstützung kranker Mitglieder, und zahlreiche andere jüdische gemeinnützige Vereine in der Stadt entstanden, um Mitgiften, Kredite oder einfache Geldspenden an die Mitglieder zu vergeben. So etablierte sich Hamburg als Zentrum jüdischer und nicht-jüdischer Hilfswerke.


Die Mitglieder der meisten Jugendhevrot im 18. Jahrhundert praktizierten noch gemilut hesed, wie z.B. Krankenbesuche, Bestattung der Toten und Armenfürsorge und hielten vermutlich auch Gottesdienste und Studienkreise ab. Einige jüdische Selbsthilfegesellschaften begannen sich jedoch ausschließlich der gegenseitigen Hilfe zu widmen. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gründeten die Hamburger Juden kleine Sterbekassen, die Gelder zur Deckung der Bestattungskosten und zum Ersatz eines Teils des Einkommens einer Familie bereitstellten, wenn diese während der religiös vorgeschriebenen sieben Tage der Trauer auf die Arbeit verzichtete. Im Gegensatz zu Bestattungsgesellschaften hielten diese Sterbekassen weder Gebetsgottesdienste noch religiöse Studienkreise ab. Ihre Mitglieder führten keine Waschungen durch, verzichteten auf die Bewachung oder Bestattung der Toten und leisteten den Familien der verstorbenen Juden keinen geistlichen Beistand. In diesem Zusammenhang hatten sich auch die Mitglieder des Vereins für Krankenpflege von religiösen Praktiken wie Tora-Studium, Gebet oder Bestattungsritualen zurückgezogen. Tatsächlich verdeutlichte der Jahresbericht des Vereins von 1832 die Veränderung des Weltbildes, die diesen Entwicklungenzugrunde liegt, indem er feststellte, dass die „erhöhte Menschenliebe“  Rainer Liedtke, Jewish welfare in Hamburg and Manchester, c. 1850–1914, Oxford 1998, S. 193. an die Stelle einer Wohltätigkeitsorganisation getreten sei, die ihren Nutzen in einem religiösen Rahmen gesucht habe.

Von zedaka zur Bürgerpflicht


In der religiösen Ökonomie des vormodernen rabbinischen Judentums hatten zedaka und gemilut hesed es den Spendern und Wohltätern erlaubt, Verdienste für das Jenseits zu sammeln; Empfänger von Almosen und Barmherzigkeit wiederum wurden geschätzt, weil sie es anderen ermöglichten, Taten zu vollbringen, die Gott gefielen und ihn ehrten. Doch in der hier diskutierten Einleitung zu der Satzung des Hamburger Vereins für Krankenpflege wurde Wohltätigkeit nicht mehr innerhalb religiöser Parameter verstanden. Hier war Wohltätigkeit nicht mehr zedaka im vormodernen, religiösen Sinn. Vielmehr wurden die „unzaͤhlige[n]Wohlthaten“ (S. 2), an denen sich die Mitglieder beteiligen konnten, wie z.B. die finanzielle Unterstützung des Vereins für Krankenpflege, der Besuch kranker Mitmenschen und deren Pflege, nun streng säkular als Akte definiert, die Menschen zu Gute kamen und nicht in erster Linie gottgefällig waren. Vorstellungen von Moral und Ehre hatten viele, wenn nicht sogar alle ihrer religiösen Konnotationen verloren, und Ideen von staatsbürgerlicher Verantwortung und bürgerlichem Ansehen motivierten und gestalteten fortan das jüdische Verbandsleben. So veranschaulicht dieser Text den Übergang jüdischer gemeinnütziger Gesellschaften von den frühneuzeitlichen, religiös motivierten hevrot zu modernen Formen der Wohltätigkeit und der Selbsthilfe. Juden in den späten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und Gelehrte der jüdischen Geschichte haben diese modernisierten Formen der jüdischen Fürsorge bis heute oft als traditionell angesehen und sie manchmal sogar zedaka genannt. Und tatsächlich wurden die Innovationen der Aufklärung zur Tradition einer aufstrebenden deutsch-jüdischen Bevölkerung.

Auswahlbibliografie
Benjamin Maria Baader, Gender, Judaism, and bourgeois culture in Germany, 1800-1870, Bloomington 2006, Kapitel 6. Benjamin Maria Baader, Vom Rabbinischen Judentum zur bürgerlichen Verantwortung. Geschlechterorganisation und „Menschenliebe“ beim jüdischen Vereinswesen in Deutschland zwischen 1750 und 1870, in: Comparativ 11 (2001) 5/6, S. 14-29.

Erika Hirsch, Jüdisches Vereinsleben in Hamburg bis zum Ersten Weltkrieg. Jüdisches Selbstverständnis zwischen Antisemitismus und Assimilation, Frankfurt am Main 1996.
Rainer Liedtke, Jewish welfare in Hamburg and Manchester, c. 1850–1914, Oxford 1998.
Andreas Reinke, Wohltätige Hilfe im Verein. Das soziale Vereinswesen der deutsch-jüdischen Gemeinden im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Stefi Jersch-Wenzel (Hrsg.), Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa, Köln (u.a.) 2000, S. 209-239.

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Zum Autor

Benjamin Baader, Dr.phil., ist Associate Professor am Department für Geschichte der University of Manitoba, Kanada. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Jüdische Geschichte, Geschlechtergeschichte, Frauengeschichte, Geschichte der Maskulinität, Religion, Erinnerungsgeschichte, Historiographie und deutsche Geschichte.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Benjamin Maria Baader, Der Hamburger Verein für Krankenpflege und die Modernisierung jüdischer gemeinnütziger Gesellschaften im frühen 19. Jahrhundert (übersetzt von Insa Kummer), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 19.11.2019. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-179.de.v1> [30.12.2024].

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