Wie alle Menschen waren Juden überall in der europäischen Vormoderne nicht als Individuen, sondern nur als Teil einer Gruppe überlebensfähig. Für sie als Angehörige einer religiösen Minderheit galt in ganz besonderem Maße, dass sie Strukturen herstellen mussten, die ihre Existenz organisierten und damit sicherten. Vom Beginn der Siedlung jüdischer Menschen im deutschen Sprachraum im 10. Jahrhundert bis in die Gegenwart war und ist die Gemeinde die zentrale Organisationseinheit der Juden, auch wenn sich ihre konkrete Ausgestaltung und vor allem ihre Bedeutung für das jüdische Leben im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt hat. Traditionell regelte die Gemeinde nicht nur religiöse Handlungen, sondern auch nahezu alle Aspekte des alltäglichen Lebens ihrer Angehörigen, wie zum Beispiel das Schul- und Wohlfahrtswesen oder kulturelle Aktivitäten. Die Gemeinde vertrat ihre Mitglieder auch als quasi-politische Organisation nach außen. Häufig erhielt sie von Herrschern oder Stadtregierungen eine gewisse rechtliche Autonomie, primär für die Regelung innerjüdischer Belange. Zu einem gewissen Grad konnte sie ihren Mitgliedern Schutz gegen eine Umgebung bieten, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Juden meist ablehnend bis feindlich gegenüber stand.
Innerhalb der jüdischen Gemeinden, die sich bis in 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum nicht wesentlich miteinander vernetzten, bildeten sich schon im Mittelalter diverse Institutionen heraus, die für das jüdische Alltagsleben unerlässlich waren. Dazu gehörten neben den Synagogen vor allem Schulen, in denen religiöses Wissen vermittelt wurde (Talmudschulen) und rituelle Badehäuser (Mikwen). Schnell vereinigten sich einige Gemeindemitglieder, meist die sozial besser gestellten, darüber hinaus in Organisationen, die sich überwiegend wohltätigen aber auch kultischen Zwecken widmeten. Zentral sind hier Beerdigungsbruderschaften (Chewra Kaddisha) zu nennen, die unter anderem dafür sorgten, dass auch unbemittelte verstorbene Gemeindemitglieder ein mit dem jüdischen Ritus konformes Begräbnis erhielten. Des Weiteren existierten an vielen Orten Assoziationen, die zum Beispiel Stipendien an bedürftige Talmudschüler vergaben, sich um die Versorgung durchreisender armer Glaubensgenossen kümmerten oder Witwen und Waisen der Gemeinde unterstützten. Ein weiterer wichtiger Zweck von frühen jüdischen Vereinen war die Unterstützung mittelloser heiratswilliger Mädchen, denen eine Aussteuer verschafft wurde. Darüber hinaus existierte in der Gemeinde selbst meist eine Armenkasse, die von den Vorstehern oder, im Falle größerer Gemeinden, von speziell dafür gewählten Männern verwaltet wurde. In der nichtjüdischen Welt der Vormoderne wurden zahlreiche dieser Aufgaben entweder von Stadt- oder Landgemeinden oder aber zentral von den christlichen Kirchen übernommen. Im Unterschied dazu waren die jüdischen Institutionen oder Organisationen deutlich weniger zentralistisch organisiert. Sie wirkten auf der Ebene ihrer Gemeinden und nicht darüber hinaus. Das gesamte jüdische Organisationswesen regulierte einerseits den Alltag der Gemeinde, war aber andererseits unverzichtbar für die Kontinuität jüdischen Lebens überhaupt. Wenn keine religiöse Unterweisung stattfand, jüdische Bräute aus finanziellen Gründen nicht heiraten konnten oder jüdische Arme unversorgt blieben, war die jüdische Existenz insgesamt akut gefährdet. Es gab schlicht keine Alternativen dazu, dass sich Juden organisierten und um andere Juden kümmerten. Denn wenn zum Beispiel christliche Kirchen überhaupt Unterstützungsleistungen für Juden öffneten, dann immer mit den Ansinnen, die Begünstigten zu konvertieren.
Als die ersten sefardischen Juden im späten 16. Jahrhundert in Hamburg siedelten, folgten sie dem etablierten Muster. Allerdings verhinderte die religiöse Intoleranz der hanseatischen Bürgerschaft lange die offizielle Etablierung von Synagogen. Ein halbes Jahrhundert vorher war zwar eine Synagoge errichtet worden, die jedoch hinter einem Wohnhaus versteckt werden musste und lediglich „Versammlungsort“ genannt werden durfte. Erst mit dem Judenreglement von 1710 wurde die Anwesenheit der Juden in der Stadt auf eine solide rechtliche Grundlage gestellt.
Viele der karitativen und Erziehungsaufgaben der Sefarden in Hamburg wurden in Zusammenarbeit mit der sefardischen Schwestergemeinde in Amsterdam angegangen, aus der die meisten der in Hamburg siedelnden Familien hervorgegangen waren. Wir wissen überdies relativ wenig über den Alltag der Sefarden in Hamburg, da gerade für das 18. Jahrhundert nur ein Bruchteil der Quellen erhalten geblieben ist.
Die sefardische Gemeinde, die um 1660 ca. 600 Seelen umfasste, stagnierte im 18. und 19. Jahrhundert.
Gemälde von Martin Peter
Georg Feddersen der portugiesischen Neveh Shalom Synagoge,
erbaut 1771 in Altona
Quelle: Fotoquelle Landesamt für Denkmalpflege Kiel, Wikimedia Commons.
Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begann dagegen der Aufstieg der aschkenasischen jüdischen Gemeinden im Hamburger Raum, die sich 1671 zur sogenannten Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek (AHW) vereinigten. Schon mehrere Jahrzehnte zuvor hatte sich eine größere Gruppe aschkenasischer Juden im vom dänischen König beherrschten Altona niedergelassen. Sie und die Aschkenasen aus Hamburg und Wandsbek bildeten nun rechtlich eine Einheit unter der Jurisdiktion des rabbinischen Gerichts in Altona. Obwohl alle Juden unter erheblichen rechtlichen Einschränkungen litten, die nicht zuletzt ihre wirtschaftlichen Betätigungsfelder stark limitierten, florierte das jüdische Leben im Hamburger Raum im 18. Jahrhundert. Außerhalb geschäftlicher Kontakte gab es kaum Berührungspunkte zwischen Juden und Nichtjuden, obwohl es in Hamburg nie ein Getto, einen strikt definierten Wohnbezirk für Juden gab. Die oben beschriebenen traditionellen Institutionen der Gemeinde regulierten weiterhin das „offizielle“ wie das Alltagsleben aller Juden, die an der Wende zum 19. Jahrhundert mit über 6.000 Menschen nahezu sechs Prozent der Gesamtbevölkerung Hamburgs ausmachten. Es handelte sich um eine der größten jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum.
Im 19. Jahrhundert kam es zu einer fundamentalen Modernisierung bzw. Neuorientierung des Gemeindelebens, und damit auch der verschiedenen Organisationen und Institutionen der Hamburger Juden. Dies ging einher mit einer Verdoppelung der Zahl der jüdischen Einwohner der Stadt auf rund 14.000.
Ein Meilenstein der zunächst religiösen Neuorientierung einer Minderheit der hamburgischen Juden war die Gründung des Neuen Israelitischen Tempel-Vereins im Jahr 1817, einer der ersten Reform-Kongregationen in den deutschen Ländern. Obwohl es sich dabei primär um eine Abspaltung eines kleinen Teils der Gemeinde, der sich damals formierenden frühbürgerlichen gebildeten Mittelklasse der Gemeinde handelte, war dieser Verein die Keimzelle weiterer jüdischer Institutionen und Assoziationen. Viele der Mitglieder des Tempelvereins, der in Anlehnung an den in Hamburg dominanten Protestantismus eine deutschsprachige Predigt und eine Orgel in die Gottesdienste einbaute, engagierten sich in den folgenden Jahrzehnten sehr aktiv in der jüdischen Zivilgesellschaft Hamburgs. Sie formierten weitere Organisationen, die teils nur im jüdischen Bereich tätig waren, manchmal jedoch religionsübergreifend wirkten. Schon ein Jahrzehnt zuvor, in den Jahren 1804 / 05 hatte sich eine reformierte Beerdigungsbrüderschaft gegründet. Zusammen mit der Gründung des Tempel-Vereins war dies ein wichtiger Indikator dafür, dass die traditionellen, einer strikten jüdischen Orthodoxie folgenden Organisationen der Gemeinde einen langsamen Niedergang erlebten.
Zeichnung der Eröffnung des Neuen Israelitischen Tempels in der Poolstraße am 5. September 1844 von Heinrich Jessen
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, BAU00281,
Wikimedia Commons, gemeinfrei.
In den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stiegen sehr viele jüdische Einwohner der Hansestadt sozio-ökonomisch in die Mittelklasse auf. Während die gemeindlichen Strukturen mehr oder minder konstant blieben, schufen sich diese Juden zahlreiche neue Organisationen, die sich an das nichtjüdische Vereinsleben Hamburgs anlehnten bzw. diesem in Teilen zum Vorbild dienten. Gerade im Bereich der Wohltätigkeit wurden jüdische Vereine meist als sehr leistungsfähig angesehen und ihre Arbeitsweise wurde von Nichtjuden mitunter übernommen. Daneben existierten die traditionellen Vereine weiterhin. Einige von ihnen, die religiös orthodoxe Prinzipien vertraten, funktionierten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wie etwa der 1862 gegründete Jugendverein „Mekor Chajim“ („Quelle des Lebens“), der dem Nachwuchs der Gemeinde Raum für religiöses Lernen bot. Dennoch setzten sich zunehmend von der religiösen Tradition losgelöste oder ihr nur noch in Lippenbekenntnissen verbundene Organisationen durch, die in ihrer Gesamtheit ein immer dichter werdendes Netz von zivilgesellschaftlichen Angeboten für das Alltagsleben der jüdischen Hamburger machten. Ein sehr großer Anteil dieser Vereine und Institutionen war im engeren oder weiteren Sinn auf dem Gebiet der Wohltätigkeit oder, moderner gesagt, Sozialfürsorge tätig. Darüber hinaus organisierten sich die hamburgischen Juden aber auch in zahlreichen anderen Bereichen der sich entwickelnden Zivilgesellschaft.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die Juden mit einem Anteil von rund sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung der Stadt nicht nur die zahlenmäßig größte religiöse Minderheit Hamburgs, sondern auch bedeutender als etwa die katholische Minderheit. Durch ihre Siedlungskonzentration in der Neustadt, zunehmend jedoch in den sozial besser gestellten Vierteln in Alsternähe, waren sie im Alltagsleben stärker präsent als ihre Gesamtzahl aussagt. Vielen jüdischen Individuen war seit den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts der Aufstieg in die bürgerliche Mittelklasse geglückt, was für das jüdische Organisations- und Institutionsleben von besonderer Relevanz war. Denn für die allerorten in Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern, entstehende bürgerliche Gesellschaft, die vor allem im städtischen Raum mehr und mehr eine bestimmende Rolle spielte, waren speziell Vereine von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung. Wer dem Bürgertum angehörte, war für gewöhnlich Mitglied in einer ganzen Reihe von Vereinigungen unterschiedlichster Art, die meist dem Zweck der Verbesserung des Gemeinwohls oder der Geselligkeit dienen sollten. Dies schloss Wohltätigkeitsorganisationen ebenso ein wie Kunst- und Kulturvereine. Musik-, Gesangs- und Turnvereine erfreuten sich im deutschen Sprachraum besonderer Beliebtheit. In dieser Sphäre demonstrierte der Bürger Respektabilität; hier ließ sich Anerkennung gewinnen. Zusätzlich bot das Vereinswesen ein wichtiges öffentliches Betätigungsfeld für die Regulierung sozialer Beziehungen innerhalb des Bürgertums und diente zur Abgrenzung dieser Schicht von unterbürgerlichen Schichten aber auch vom Adel.
Es gab kaum eine Sphäre des öffentlichen Lebens, in denen jüdische Vereine nicht präsent waren. Bildung, Geselligkeit, die Vertretung politischer Interessen, kulturelle Angebote und sportliche Aktivitäten waren neben der omnipräsenten Wohltätigkeit die wichtigsten Betätigungsfelder. Dabei stellt sich die Frage, was überhaupt einen „jüdischen“ Verein zu einem solchen machte. In manchen Fällen handelte es sich um Organisationen, die es im nichtjüdischen Bereich nicht oder nur in abgewandelter Form gab. Dazu zählten natürlich alle traditionellen, an religiösen Vorschriften oder Bedürfnissen orientierten Vereine, die beispielsweise das Studium religiöser Schriften in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellten.
Fassade des Logenhaus der in der Hartungstraße 9-11
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, BAU00362;
Sammlung Barbara Müller-Wesemann, Zentrum
für Theaterforschung, Hamburg.
Auch die hamburgische Niederlassung der weltweit operierenden Organisation B’nai B’rith („Brüder des Bundes“), die Henry Jones-Loge, hatte ausschließlich jüdische Mitglieder. Hierbei handelte es sich um eine den Freimaurern vergleichbare Organisation, die sich der Förderung allgemeiner humanitärer Interessen verschrieben hatte. Von der Loge ausgehend entwickelten sich andere Vereine, die beispielsweise die „Bodenkultur“, also landwirtschaftliche Betätigung, unter den Juden fördern wollten oder Juden gemeinsam turnen ließen. Hier kann leicht erkannt werden, dass es auch zahlreiche Organisationen gab, die keineswegs dezidiert „jüdische“ Ziele verfolgten, sondern sich allein durch die exklusiv jüdische Mitgliedschaft als jüdisch definierten.
Präsidialsitzes der Henry Jones
Loge im Logensaal in der Hartungstraße 9-11
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, BAU00363;
Sammlung Barbara Müller-Wesemann, Zentrum
für Theaterforschung, Hamburg.
Im politischen Bereich besonders hervorzuheben sind zionistische Gruppen, die die Einrichtung eines unabhängigen, selbstverwalteten jüdischen Territoriums in Palästina oder teilweise auch andernorts auf der Welt betrieben. Diese traten in Hamburg seit dem frühen 20. Jahrhundert verstärkt in den Vordergrund und gerieten in einen scharfen Konflikt mit Teilen der Gemeinde. Diese Gruppe lehnte dieses Ansinnen strikt ab, da sie sich ausschließlich national als Deutsche definierte und jede alternative nationale Identität für Juden als Angriff auf ihr eigenes Selbstverständnis und Gefahr für die erreichte Integration in die Gesamtgesellschaft betrachtete. Das galt besonders für den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), der jedoch keine hamburgische Institution war, sondern deutschlandweit Ortsgruppen und eine Zentrale in Berlin hatte. Der CV legte auch besonderes Gewicht auf die Abwehr antisemitischer Angriffe gegen Juden und führte zahlreiche Prozesse, etwa wenn Juden als Juden im Alltags- oder Berufsleben benachteiligt wurden.
Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass die traditionellen gemeindlichen Strukturen immer noch weiter existierten. Sie waren in einigen Bereichen institutionell bzw. personell fest mit diversen Vereinen verbunden, konnten durch verschiedene Organisationen aber auch Konkurrenz erhalten. Nachdem in Hamburg 1864 der Zwang abgeschafft wurde, als Jude entweder der Deutsch-Israelitischen oder der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde anzugehören, waren diese beiden Organisationen theoretisch nichts anderes als Assoziationen, in die man ein- oder austreten konnte. Zwar war es den Juden der Stadt möglich, nur einer Synagoge als Mitglied anzugehören, jedoch blieben fast alle jüdischen Einwohner der Stadt auch Mitglied einer der Gemeinden, aber nunmehr auf freiwilliger Basis. Insofern unterschieden diese sich rechtlich nicht von den zahlreichen, auf anderen Gebieten tätigen Vereinen.
In der Weimarer Republik veränderte sich das jüdische Organisationswesen Hamburgs nicht grundlegend. Aber das politische und gesellschaftliche Klima insgesamt wurde nach dem Ersten Weltkrieg für Juden schwieriger. Antisemitische Anfeindungen traten vermehrt auf und sorgten eher noch für eine Verstärkung der innerjüdischen Organisation. Speziell die zionistischen Vereinigungen, die sich in mehrere ideologische Richtungen aufteilten und auch an national oder international auftretenden Verbänden orientierten, gewannen in Hamburg deutlich an Zulauf. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten seit dem Januar 1933 veränderte die Situation für die Juden der Stadt, wie überall in Deutschland, jedoch komplett. Juden wurden nunmehr dazu gezwungen, sich komplett separat zu organisieren. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und eine Reihe ähnlich gelagerter Verordnungen verfügten von April 1933 an eine fast lückenlose Ausgrenzung von Juden aus einer ganzen Reihe von Berufen. Die große Mehrheit der deutschen Verbände und Vereine schloss sich dem an und nahm sogenannte Arierparagrafen in ihre Satzungen auf, die jüdische Mitglieder ausschlossen. Dies brachte einerseits einen noch stärkeren Organisationsgrad der zahlreichen jüdischen Vereine und Institutionen mit sich. Andererseits wurde das jüdische System durch die zunehmenden Anfeindungen aus der nichtjüdischen Umgebung, aber auch durch die Auswanderung zahlreicher Gemeindemitglieder, immer stärker unter Druck gesetzt. Hier unterschied sich die Situation der Hamburger Juden nicht von der ihrer Glaubensbrüder und -schwestern in Deutschland allgemein. 1937 wurden die hamburgischen Juden gezwungen, ihre Gemeindeorganisation zu verändern. Es kam zur Zwangsvereinigung aller jüdischen Gemeinden Hamburgs, Altonas und Wandsbeks zum Jüdischen Religionsverband Hamburg. Im Jahr darauf wurde dieser Organisation, wie überall in Deutschland, auch der Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts entzogen, womit sie steuerpflichtig wurde. Im August 1942 schließlich wurde der Religionsverband in den landesweit existierenden Zwangsverband Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert, wodurch sich die letzte noch halbwegs selbständige jüdische Repräsentation in der Hansestadt auflöste.
Mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ und der Besetzung Hamburgs durch britische Truppen im Mai 1945 hatten jüdische Menschen, die die Vertreibung und Vernichtung überlebt hatten, die Möglichkeit zur Ansiedlung oder Wiederansiedlung in Hamburg. Neben bereits zuvor in Hamburg Ansässigen, die entweder im Untergrund oder in „privilegierter Mischehe“ überlebt hatten, war Hamburg auch ein wichtiger Anziehungspunkt für durch Kriegshandlungen versprengte Juden, von denen allerdings nur eine Minderheit sogenannte „Glaubensjuden“ waren. Praktisch unmittelbar nach der Kapitulation gründeten Überlebende in der Stadt drei verschiedene Selbsthilfegruppen, die Hilfsgemeinschaft der Juden und Halbjuden, die Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen und Die aus Theresienstadt. Es ging den jeweiligen Mitgliedern primär darum, organisiert Restitutionsforderungen an die Besatzungsbehörden und damit mittelbar an die im Aufbau befindliche deutsche Verwaltung zu stellen. Vom Juli 1945 an begannen einzelne Juden in Hamburg damit, die Wiedereinrichtung einer jüdischen Gemeinde zu diskutieren. Die Organisationen, die nicht religiös orientiert waren, wurden teilweise in diesen Prozess einbezogen. Sie vertraten jedoch auch die Interessen jener Menschen, die lediglich nach der Definition der NS-Rassegesetze als jüdisch galten, jedoch keinen Bezug zur Religion hatten. Am 18.9.1945 konstituierte sich schließlich eine neue Jüdische Gemeinde in Hamburg in den Räumen der früheren Gemeinde an der Rothenbaumchaussee. Allerdings wurde erst im Jahr 1960 die erste Synagoge Hamburgs in der Nachkriegszeit eröffnet, gelegen im Stadtteil Eimsbüttel und kombiniert mit einem Gemeindezentrum. Die diese nutzende, orthodox ausgerichtete Einheitsgemeinde bestand bis in die 1990er-Jahre aus 1.000 bis 1.500 Mitgliedern. Erst durch Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die Zahl der gemeindlich organisierten hamburgischen Juden auf über 3.000 Menschen an. Hinzu kamen noch etwa 2.000 Juden, die in Schleswig-Holstein lebten und von der Hamburger Gemeinde mitbetreut wurden. Mit der Einrichtung eines neuen Gemeinde- und Bildungszentrums in der ehemaligen Talmud Tora Schule am Grindel, erhielten diese 2004 ein weiteres Zentrum jüdischen organisierten Lebens. Gleichzeitig wurde eine neue, religiös liberal ausgerichtete Gemeinde gegründet, die jedoch nur einige hundert Mitglieder umfasst. Der russische Einfluss macht sich unter anderem in neu gegründeten Vereinen wie einem Schachclub oder einer Organisation jüdischer Veteranen des Zweiten Weltkriegs bemerkbar. Letzte widmet sich unter anderem der Pflege von sowjetischen Kriegsgräbern.
In der historischen Forschung wird kontrovers diskutiert, inwiefern das jüdische Vereinswesen und die Präsenz zahlreicher komplett jüdischer oder größtenteils jüdischer Institutionen in Hamburg – wie in anderen deutschen und europäischen Städten – die Integration der jüdischen Minderheit in die Gesamtgesellschaft vor dem Nationalsozialismus begünstigt oder verhindert hat. Einerseits lässt sich argumentieren, dass Juden in ihrem Organisationsleben nichts anderes taten als andere Hamburger und so einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration leisteten. Diverse in ihren Anfängen ausschließlich jüdische Organisationen öffneten sich im Laufe der Zeit auch nichtjüdischen Mitgliedern, obwohl die Mehrheit der von Juden gegründeten Vereine stark oder komplett von Juden dominiert blieb. Und selbstverständlich waren Juden auch Mitglieder nichtjüdischer Organisationen. Auf der anderen Seite muss festgestellt werden, dass das jüdische Vereinswesen der Hansestadt im Laufe des Kaiserreichs eine Dichte erreicht hat, die weit über den „Bedarf“ einer religiösen Minderheit hinausging. Die jüdischen Vereine bildeten quasi ein paralleles bzw. ein in ihrem Organisationsgrad noch weit über das allgemeine Vereinswesen hinausreichendes Universum.
Dies wurde von Seiten des nichtjüdischen Hamburger Bürgertums jedoch keinesfalls kritisiert. Ganz im Gegenteil: Die gute Organisation der Juden wurde vielfach gelobt und anerkannt. Es gehörte zur Normalität, dass eine Gemeinschaft, die insgesamt noch als „anders“ oder „separat“ betrachtet wurde, auch ihr eigenes Organisationswesen hatte, das insgesamt gut funktionierte und den Juden der Stadt in der bürgerlichen Welt Respektabilität und Halt gab. Abgesehen davon hat die Geschichtswissenschaft argumentiert, dass die Organisation des Alltagslebens für die Juden der bürgerlichen Gesellschaft in Hamburg, wie in vielen europäischen Räumen, von großer Bedeutung für den Erhalt der jüdischen Identität war. Dies lag daran, dass Religion und religiöse Rituale, einschließlich Gottesdienstbesuche, Heiraten oder Beerdigungen, für jüdische Hamburger immer weniger wichtig wurden. Beschneidungen, die Einhaltung jüdischer Speisegesetze oder der Schabbatruhe und nicht zuletzt Heiraten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft nahmen kontinuierlich ab. Wie in der nichtjüdischen bürgerlichen Gesellschaft, setzte im Kaiserreich auch in jüdischen Kreisen eine starke Säkularisierung ein. Wollte man sich als Jude identifizieren, bot das Vereinsleben eine wichtige Alternative an. Sich im Kreis anderer Juden für bestimmte Dinge einzusetzen oder seine Freizeit zu verbringen, war für viele jüdische Menschen häufig die einzige Möglichkeit, sich überhaupt noch jüdisch zu fühlen. Dabei kam es nicht darauf an, dass solche Vereine oder Institutionen speziell in ihrem Tätigkeitsbereich „jüdisch“ waren.
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Rainer Liedtke (Thema: Organisationen und Institutionen), Prof. Dr. phil., ist Professor für europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: vergleichende europäische Geschichte und Stadtgeschichte sowie jüdische Geschichte, britische Geschichte und die Geschichte des neuzeitlichen Griechenlands.
Rainer Liedtke, Organisationen und Institutionen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-220.de.v1> [21.11.2024].