Nicht erst in der NS-Zeit, sondern bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deklarierte sich eine wachsende Zahl von Erholungsorten, sowie einzelne Hotels und Pensionen öffentlich als „judenfrei“, um antisemitisch gesinnte Gäste anzusprechen. Dieser „Bäder-Antisemitismus“, der spätestens seit der Jahrhundertwende von den Zeitgenossen so genannt wurde, entwickelte sich keineswegs allein oder bevorzugt im Deutschen Reich, sondern war ein internationales Phänomen, das in vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA anzutreffen war, wo es als „Resort Antisemitism“ bezeichnet wurde. Die ausgeprägte Judenfeindschaft in manchen Seebädern und Kurorten war nicht allein Ausdruck des politischen Antisemitismus, sondern spiegelte anti-jüdische Einstellungen im gesellschaftlichen Alltag wider. Die Exklusion von Juden in einzelnen Erholungsorten hing u.a. mit soziokulturellen Hintergründen des Frühtourismus, aber auch dem sozialen Aufstieg der jüdischen Minderheit in vielen Gesellschaften zusammen. Die Erholungsreise blieb bis zum Ersten Weltkrieg ein gesellschaftliches und in hohem Maße bürgerliches Privileg, das sich im Deutschen Reich nur rund ein Zehntel der Bevölkerung leisten konnte. Eine Teilhabe am Tourismus dokumentierte den eigenen sozialen Aufstieg und die Zugehörigkeit zu den gesellschaftlichen Führungsschichten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die im Deutschen Reich früh verbürgerlichte jüdische Minderheit verstärkt in den Kreis der Kur- und Badegäste eingerückt und klopfte damit symbolisch an die Eingangstür der „guten Gesellschaft“. Dies mobilisierte Aversionen der traditionellen adligen und großbürgerlichen Klientel gegen als „neureich“ empfundene Aufsteiger, doch war der Bäder-Antisemitismus vor allem in kleinbürgerlich-mittelständischen Kreisen beheimatet, die sich exklusive Badeorte und Hotels nicht leisten konnten und ihren Sozialneid vor allem auf die jüdische Minderheit projizierten. Auch deshalb positionierten sich nicht die etablierten, traditionsreichen Bäder (Baden-Baden, Norderney, Heringsdorf, Westerland) als antisemitisch, sondern vor allem jüngere Bäder wie Borkum oder Zinnowitz, die als Nachzügler der touristischen Entwicklung ein kleinbürgerlich-mittelständisches Publikum ansprechen wollten und an deren Vorurteile appellierten. Da sich der Bäder-Antisemitismus vor allem in den Seebädern an Nord- und Ostsee ausbreitete, waren Hamburger Juden von diesem Phänomen besonders betroffen, weil sie aus geographischen Gründen eher im norddeutschen Raum Urlaub machten als lange Anreisen in die Alpen oder ans Mittelmeer in Kauf zu nehmen.
Der Bäder-Antisemitismus bewegte sich insofern in einer rechtlichen Grauzone, als Hotel- und Pensionsinhaber zwar das Recht besaßen, sich ihre Gäste auszusuchen und nicht verpflichtet werden konnten, alle Personen unterschiedslos aufzunehmen. Gleichzeitig genossen Juden im Deutschen Reich das Freizügigkeitsrecht und konnten polizeilich nicht daran gehindert werden, bestimmte Orte zu betreten. Deshalb suchten antisemitische Bade- und Kurorte möglichen jüdischen Besuchern einen Aufenthalt durch eine täglich sichtbare symbolische Ausgrenzung zu verleiden. Eine wesentliche Rolle spielten dabei antijüdische Lieder, die von den Kurkapellen täglich gespielt wurden und die zahlreichen antijüdischen Gäste in den Bädern zum Mitsingen animierten. Dies galt vor allem für eingängige Refrains, wie ihn auch das „Zinnowitzlied“ besaß: „... Fern bleibt der Itz – von Zinnowitz“. In einer solchen Atmosphäre verspürten jüdische Gäste naheliegenderweise keine Lust, die wenigen Erholungswochen eines Jahres ausgerechnet im Kreis von Antisemiten zu verbringen. „Es ist ekelhaft, daß solche Verhetzung erlaubt ist“, bemerkte der Dresdner Romanist Victor Klemperer angewidert, als er 1927 auf einem Strandspaziergang Zinnowitz erreichte und in den Läden auf das „Zinnowitzlied“ („blödsinniges Gereime“) stieß. Zudem sorgten die in der deutsch-jüdischen Presse zu Beginn der Badesaison veröffentlichten Warnlisten dafür, dass jüdische Gäste jene Erholungsorte gar nicht erst aufsuchten, die öffentlich bekundet hatten, dass ihnen jüdische Gäste nicht willkommen seien. Stilprägend für die Entwicklung des antisemitischen Liedguts in den Badeorten war das „Borkum-Lied“, das bereits in den 1890er Jahren öffentlich gesungen wurde. Zwar hatte der Preußische Innenminister Friedrich von Moltke im Jahre 1908 das Absingen des Liedes als „grobe Beleidigung“ klassifiziert, doch gleichzeitig bekundet, rechtlich nicht dagegen vorgehen zu können. Vor allem zu Beginn der Weimarer Republik entstanden zahlreiche Neudichtungen und Nachahmungen, zu denen das hier besprochene „Zinnowitzlied“, aber auch das „Wangerooger Judenlied“ gehört. Der Liedtext des „Zinnowitzliedes“ verweist eindeutig auf einen Entstehungszeitpunkt zu Beginn der Weimarer Republik: Die besondere Hervorhebung der Farben „schwarz weiß rot“ – die Flagge des 1918 untergegangenen Kaiserreiches – spielt auf die Einführung der schwarz-rot-goldenen Fahne als Symbol der Weimarer Republik an, der Gruß an das „deutsche Borkumland“ bezieht sich auf den zu Beginn der Weimarer Republik eskalierenden Streit über das „Borkumlied“, an dem sich das „Zinnowitzlied“ in Melodie (des „Kaisermarsches“ Hipp, hipp, hurrah!) und Versmaß orientiert. Dabei transportiert der Refrain beider Lieder die gleiche antisemitische, auf die Ausgrenzung jüdischer Touristen ausgerichtete Botschaft (Borkumlied: „Und wer da naht mit platten Füßen / mit Nasen krumm und Haaren kraus / Der soll nicht Deinen Strand genießen / Der muß hinaus, der muß hinaus! Hinaus!“; Zinnowitzlied: „Und wer da naht vom Stamm Manasse einer der zwöf Stämme Israels; hier verallgemeinernd für Juden / Ist nicht begehrt / Dem sei’s verwehrt / Wir mögen keine fremde Rasse! / Fern bleibt der Itz – von Zinnowitz“). Die Hakenkreuze auf der Postkarte sind im engeren Sinne nicht als Parteisymbole der NSDAP zu verstehen, die Anfang der 1920er-Jahre auf Usedom noch gar nicht existierte, sondern sollen eine deutsch-völkische sowie antisemitische Gesinnung symbolisieren.
Insgesamt bezeugten die Lieder einen nach dem Ersten Weltkrieg wachsenden
gesellschaftlichen Antisemitismus. Gleichzeitig mobilisierten die antisemitischen Lieder
unter den Bedingungen der Weimarer
Republik auch die Gegner des Antisemitismus, vor allem in Preußen, wo der für die
Insel Borkum
zuständige sozialdemokratische Landrat
Walter Bubert bzw.
der linksliberale Regierungspräsident
Jann Berghaus ein
Spielverbot des Borkum-Liedes verhängten, die Borkumer Kurkapelle
verhaften und deren Instrumente beschlagnahmen ließen. Auch deshalb agierte die
Gemeindeverwaltung in Zinnowitz zunächst moderater und wies darauf hin, dass das antisemitische Treiben,
vor allem das öffentliche Singen und Spielen des „Zinnowitzliedes“
ausschließlich von entsprechend gesinnten Gästen ausgehe, gegen die man machtlos
sei. Dies war insofern nicht falsch, als der Antisemitismus in Zinnowitz vor allem
durch den 1920 gegründeten „Zweckverband zur Freihaltung des Badeortes Zinnowitz für
deutschblütige Kurgäste“ initiiert wurde, dessen Angehörige fast
ausschließlich aus Badegästen bestanden. Allerdings warb die Badedirektion
Zinnowitz im
Jahre 1926 offen für das „Deutsche Ostseebad Zinnowitz“ und wies in
ihrem Badeprospekt darauf hin, „daß von jeher Bestrebungen unter den unsern
schönen Badeort immer wieder aufsuchenden Gästen bestehen, das Bad von
semitischen Kurgästen freizuhalten“. Für die Gemeinden und Badeverwaltungen, vor
allem jedoch für die ortsansässigen Hoteliers und Pensionsinhaber erwies sich
der Bäder-Antisemitismus nämlich insgesamt als durchaus einträgliches Geschäft,
sodass die Versuche, den Bäder-Antisemitismus mit polizeilich-administrativen
Mitteln einzudämmen, insgesamt nur bedingt erfolgreich waren. Langfristig
folgenreich war der Bäder-Antisemitismus insofern, als er Zonen der touristischen Apartheid
etablierte, auf diese Weise die sozialen Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden
reduzierte und der Exklusion der jüdischen Minderheit im „Dritten Reich“
Vorschub leistete, sodass die Bade- und Kurorte nach 1933 folgerichtig auch eine Vorreiterfunktion für die öffentliche
Ausgrenzung von Juden im NS-Deutschland einnahmen.
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Frank Bajohr, Prof. Dr. phil., geb. 1961, ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des Holocaust und der NS-Zeit, Geschichte des Antisemitismus, deutsche Zeitgeschichte, Eliten im 20. Jahrhundert sowie Geschichte des Tourismus.
Frank Bajohr, Das Zinnowitzlied: Ein Symbol des Bäder-Antisemitismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-86.de.v1> [17.11.2024].