Nielands Schrift ist
ein klassischer verschwörungstheoretischer Text, der motiviert von einem
Schuldabwehrantisemitismus Holocaustleugnung beziehungsweise -umdeutung
betreibt. Er stellt fest, dass sich das deutsche Volk, ja die gesamte Menschheit
derzeit in einem „furchtbaren Chaos“ (S. 3) befinde. Als dessen Urheber macht er
entscheidende weltpolitische, aber anonym arbeitende Ratgeber aus. Als einziges
Beispiel nennt Nieland an dieser Stelle „den Juden Dr. Salomon Friedlaender“
(genannt Mynona – was „jüdisch“ von rechts nach links gelesen „anonym“ ergibt),
der „in Wahrheit der unsichtbare Lenker Hitlers gewesen“ sei und den
er sozusagen als „Kronzeugen“ für seine Thesen immer wieder zitiert (S. 3).
Nieland benutzt
hier den Namen des Philosophen und
Schriftstellers
Salomon Friedlaender,
der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine literarischen
Arbeiten auch unter den Namen Mynona veröffentlicht hatte und 1946 in Paris im Exil starb. Wie alle Verschwörungstheoretiker und
Holocaustleugner argumentiert Nieland, dass seine Behauptung „keine Luftblase, sondern die
Wahrheit“ sei (S. 3). Das deutsche Volk, das man „kollektivmäßig als das ‚Kriegsverbrecher-Volk‘“ verurteilt habe, sei Opfer einer
ungeheuerlichen Lüge „über die Vergasung und Abschlachtung von sechs Millionen
Juden durch Deutsche“ geworden (S. 3). Nieland erweist sich unter
Bezugnahme auf den Kreis um Mathilde Ludendorff und die „Protokolle der Weisen von Zion“ als
ein früher Vertreter der These, dass eine insgeheim regierende jüdische
Führungsclique im Sinne der „Weisen von Zion“ Organisatoren der
Massenvernichtung waren, namentlich nennt er den „Zionisten Dr. Kastner“ und Adolf Eichmann, der
angeblich von Juden abstamme. Für ihn ist deshalb die genannte „Lüge“ eine der
„teuflischsten Gemeinheiten, die das „internationale Judentum“ vollzogen hat, um „ihre [sic]
Verbrechen an Deutschland zu tarnen“ (S. 3). In klassischer
verschwörungstheoretischer Manier werden angebliche Belege, häufig aus jüdischen
Schriften, über das von den „Eingeweihten des ‚Internationalen
Judentum [sic]‘“ angezettelte „Vernichtungsmanöver“ (S. 4) aufgeführt. So konstruiert
Nieland unter
Verweis auf die Kabbala
Anagramme, indem er zum Beispiel das Wort „Nationalsozialist“ als „O! Zionist á
la Stalin“ „dechiffriert“ (S. 13). In seinem ersten Schreiben hatte Nieland den
Bundeskanzler bereits 1952 vor
dem Abschluss des Wiedergutmachungsabkommens mit Israel gewarnt, indem
er auf die „Finanzierung Hitlers durch Juden aus den USA“ hinwies (S. 7),
womit er an die antisemitische Verschwörungstheorie über die „jüdischen
Plutokraten der Wall Street“
anknüpfte. Es folgten Schreiben ähnlichen Inhalts an
Bundesminister und Parlamentarier.
Der Hauptteil der Schrift, ein an Bundesinnenminister
Gerhard
Schröder (CDU) gerichtetes Schreiben (S. 9–37), ist eine wirre Zusammenstellung
von völlig abstrusen Einlassungen Nielands und allen
möglichen Publikationen entnommenen Zitaten und Karikaturen, die seine These von
der Verschwörung des „internationalen Judentums“ stützen sollen, das der wahre
Drahtzieher hinter Hitler gewesen sei und damit auch Schuld am Zweiten Weltkrieg, am
Faschismus und am Holocaust trage. Es hätte nicht nur die Deutschen, sondern
auch „die Masse des jüdischen Volkes“ betrogen (S. 6). Den Abschluss bildet ein
Schreiben an die Abgeordneten des Bundestages, denen er mit
seiner Abhandlung Ansatzpunkte liefern wolle, nun eigene Nachforschungen in
dieser Sache anzustellen. Dabei unterstreicht er die Dringlichkeit, denn es
ginge um nichts weniger als „den Bestand der ‚weißen Rasse!‘“, der durch einen
„jüdischen Weltplan“ bedroht sei (S. 38). Die jüdische Hochfinanz schicke sich
an, ihre Diktaturabsichten zu realisieren und der „Welt öffentlich ihre Gesetze
zu diktieren“ (S. 39).
Bereits am 4.4.1957 war in der Frankfurter Rundschau eine kurze Meldung über die Beschlagnahmung einer antisemitischen Broschüre erschienen. Am selben Tag hatte im Bundestag der Hamburger Abgeordnete Helmut Schmidt (SPD) eine Frage „betreffend der Broschüre eines Herrn Friedrich Nieland aus Hamburg-Wellingsbüttel” an den Bundesinnenminister gestellt, der angab, dass die Broschüre dem BMI bekannt sei und dass die Hamburger Kriminalpolizei die Broschüre beschlagnahmt und die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den seit 1871 bestehenden §130 StGB (Anreizung zum Klassenkampf) und wegen anderer Verstöße eingeleitet habe. Die Hamburger Staatsanwaltschaft erhob im Dezember 1957 gegen Nieland und den Drucker Heimberg Anklage wegen verfassungsfeindlicher Schriften und Beleidigung der jüdischen Bürger. Die Eröffnung eines Hauptverfahrens wurde vom Landgericht aber abgelehnt und stattdessen ein psychiatrisches Gutachten angefordert, das Nieland bescheinigte, dass „eine krankhafte Geistestätigkeit nicht gegeben“ sei. Dennoch lehnte der Richter Enno Budde die Eröffnung eines Hauptverfahrens ab. Trotz der Beschwerde seitens des Generalstaatsanwalts bestätigte das Hanseatische Oberlandesgericht das erstinstanzliche Urteil, sodass Nieland seine Hetzschrift weiter ungehindert vertreiben durfte. Als bekannt wurde, dass Nieland in zwei Instanzen in Hamburg nicht belangt worden und damit außer Strafverfolgung war, löste dies im Januar 1959 einen Skandal aus. Als besonders skandalös wurde die Urteilsbegründung des Landgerichts gewertet, wonach der Aufruf zum Kampf gegen das „Internationale Judentum” sich nicht gegen das „jüdische Volk” richte, sodass eine Staatsgefährdung nicht mit genügender Sicherheit festgestellt werden könne. Für den Hamburger Bürgermeister Max Brauer (SPD) war die Sache nicht mehr ein „Fall Nieland”, sondern ein „Fall der Hamburger Gerichte”. Auf einer Pressekonferenz distanzierten sich Brauer und der Hamburger Justizsenator von den Beschlüssen der Gerichte und fanden damit breite öffentliche Unterstützung. Nieland meldete sich zur selben Zeit in einem Interview mit der dpa ebenfalls zu Wort und bestritt, ein Antisemit zu sein, vielmehr habe er mit seiner Broschüre, die auf Erkenntnissen von 30 Jahren privater Forschung basiere, dem verfolgten jüdischen Volk helfen wollen.
Der Zentralrat der Juden in
Deutschland verlangte in einem Brief an
Bundeskanzler
Adenauer (CDU) angesichts des erneuten
antisemitischen Vorfalls sofortige gesetzliche Maßnahmen. Der „Fall Nieland“ gab so den letzten
Anstoß für die Bundesregierung, dem Bundestag den Entwurf eines
Gesetzes gegen Volksverhetzung zuzuleiten, weshalb die Presse von einem
„Lex Gesetz
Nieland” sprach.
Diese auch Erfahrungen des Nationalsozialismus aufnehmende Reform sollte die
alte, aus dem Jahr 1871 stammende, Bestimmung ersetzen,
wonach man eine Handlung unter Strafe stellte, die in „den öffentlichen Frieden
gefährdender Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten
gegen einander öffentlich anreizt“. Die öffentliche Diskussion kreiste in der
Folgezeit vor allem um zwei Themen: die Bekämpfung des wiedererwachten Antisemitismus und die
Krise der Justiz. Am 14.1.1959 kam es unter
enormen Publikumsandrang zu einer „großen Justizdebatte” in der Hamburger Bürgerschaft, die
die Entscheidung der Gerichte bedauerte und den Senat aufforderte, in
Bonn
Schritte für eine Ergänzung der bestehenden Strafbestimmungen zu unternehmen.
Der Fokus des Falles verschob sich immer mehr zur personellen Kritik an der
Justiz und wurde schließlich zum „Fall Budde”, da nun bekannt
wurde, dass der Richter in den 1930er-Jahren die Rassengesetzgebung des Dritten Reiches gepriesen
und antisemitische Artikel verfasst hatte. Budde beantragte daraufhin
seine Versetzung in eine Zivilkammer, der stattgegeben wurde. Dass auch der
Vorsitzende des OLG ein aktiver Nationalsozialist gewesen war, wurde
hingegen kaum beachtet. Der Fall Nieland wurde auch zum Thema einer Justizdebatte im Deutschen Bundestag am 22.1.1959, die große öffentliche Resonanz erfuhr.
Bundeskanzler
Adenauer gab in dieser
Debatte eine Regierungserklärung zu den sich häufenden antisemitischen
Ereignissen ab. Am 20.1.1959 beantragte der
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ein
„objektives Verfahren”, um damit die Einziehung der noch vorhandenen Exemplare
der Broschüre und die Vernichtung der Druckplatten zu erreichen. Anfang März erklärte der BGH
Nielands Schrift für
staatsgefährdend und beleidigend und verfügte die Einziehung aller Exemplare.
Nieland trat
danach nicht mehr mit antisemitischen Schriften hervor.
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Werner Bergmann (Thema: Judenfeinschaft und Verfolgung), Prof. Dr., ist Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie und Geschichte des Antisemitismus und angrenzende Gebiete wie Rassismus und Rechtsextremismus.
Werner Bergmann, Antisemitismus in der Nachkriegszeit. Das Beispiel Friedrich Nieland, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-113.de.v1> [20.11.2024].