Die Zahl der Hamburger Juden am 30.4.1945

Jörg Berkemann

Quellenbeschreibung

Das vor­lie­gen­de Schrift­stück ent­hält eine sta­tis­ti­sche Auf­glie­de­rung der noch in den letz­ten Tagen des NS-​Regimes in Ham­burg le­ben­den Juden. Der­ar­ti­ge Sta­tis­ti­ken wur­den für die Ge­sta­po Ham­burg und zur Wei­ter­lei­tung an die Zen­tra­le der Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land (RVJD) in Ber­lin, die dem Reichs­si­cher­heits­haupt­amt (RSHA) un­ter­stand, etwa 14-​tägig er­stellt. Als Adres­sat ist im Kopf die "Ge­hei­me Staats­po­li­zei" an­ge­ge­ben, und zwar Re­fe­rat IV 4b. Das ent­spricht der par­al­le­len Re­fe­rats­be­zeich­nung des Reichs­si­cher­heits­haupt­am­tes – Juden-​ und Räu­mungs­an­ge­le­gen­hei­ten, Lei­ter SS-​Sturmbannführer Adolf Eich­mann. Wer die Sta­tis­tik in Ham­burg er­stellt hat, ist dem Schrift­stück nicht zu ent­neh­men. Das hin­zu­ge­füg­te Dik­tat­zei­chen „LE“ lässt sich nicht ent­schlüs­seln. Es ist gut mög­lich, dass der „Ver­trau­ens­mann“ der Ham­bur­ger jü­di­schen Rest­ge­mein­de, der Arzt Dr. Mar­tin Hein­rich Cor­ten, das Schrei­ben für die Ge­sta­po Ham­burg ver­fasst hat. In­ter­es­sant ist, dass der Her­stel­ler der Sta­tis­tik selbst die Wei­ter­lei­tung einer Ab­schrift an die Zen­tra­le der Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land mit Sitz in Ber­lin, vor­ge­se­hen hat. Als Adres­se ist Ber­lin N 65 an­ge­ge­ben. N 65 war der Orts­teil Wed­ding. Dies war die Adres­se des Jü­di­schen Kran­ken­hau­ses in der Ira­ni­schen Stra­ße. Da das zu­stä­n­idge Post­amt je­doch in der Schul­stra­ße 7 lag, in der seit dem 22. April für drei Tage die Haupt­kampf­li­nie zwi­schen deut­schen und rus­si­schen Trup­pen ver­lief, kann aus­ge­schlos­sen wer­den, dass die Durch­schrift je­mals den Adres­sa­ten er­reich­te, wenn sie über­haupt ver­schickt wurde.

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Die demographische Entwicklung der Hamburger Juden im NS-Staat


In der Han­se­stadt hat­ten nach der reichs­wei­ten Volks­zäh­lung von 1925 etwa 20.000 „Glau­bens­ju­den“ ge­lebt. Das ent­sprach einem An­teil an der Ge­samt­be­völ­ke­rung von 1,7 Pro­zent. Die zu die­sem Zeit­punkt von Ham­burg ge­trenn­te preu­ßi­sche Stadt Al­to­na besaß etwa 2.400 „Glau­bens­ju­den“. Bei der reichs­wei­ten Volks­zäh­lung von 1939 war der An­teil der Juden von Groß-​Hamburg auf etwa 10.130 ge­sun­ken, davon waren 8.434 „Glau­bens­ju­den“. Die Ge­sta­po ver­lang­te von der jü­di­schen Ge­mein­de, dass über die Zahl der in Ham­burg le­ben­den Juden ge­nau­es­tens Buch ge­führt wurde. Das er­wies sich als tech­nisch schwie­rig. Denn das NS-​System ver­än­der­te suk­zes­si­ve die Or­ga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren der jü­di­schen Ge­mein­schaf­ten. Im Früh­jahr 1938 ver­lo­ren die jü­di­schen Ge­mein­den ihren öffentlich-​rechtlichen Sta­tus. Im Som­mer 1939 wur­den alle Juden in der Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land zwangs­wei­se zu­sam­men­ge­schlos­sen (RGBl. I S. 1097). Der Reichs­ver­ei­ni­gung ge­hör­ten alle staats­an­ge­hö­ri­gen und staa­ten­lo­sen Juden an, die ihren Wohn­sitz oder ge­wöhn­li­chen Auf­ent­halt im Reichs­ge­biet hat­ten. Das traf also auch auf jene Juden zu, die kei­ner jü­di­schen Ge­mein­de an­ge­hör­ten, die so­ge­nann­ten „Ras­se­ju­den“. Die Reichs­ver­ei­ni­gung, die vom Reichs­si­cher­heits­haupt­amt über­wacht und ge­lei­tet wurde, be­dien­te sich für die Er­fül­lung ihrer Auf­ga­ben der jü­di­schen Ge­mein­den als ört­li­cher Zweig­stel­len. Reichsführer-​SS Hein­rich Himm­ler hatte am 27.9.1939 das Reichs­si­cher­heits­haupt­amt durch Zu­sam­men­le­gung von Si­cher­heits­po­li­zei und Si­cher­heits­dienst ge­grün­det. Im Re­fe­rat IV B 4 des RSHA or­ga­ni­sier­te SS-​Obersturmbannführer Adolf Eich­mann den bü­ro­kra­ti­schen Teil der „End­lö­sung der Ju­den­fra­ge“. Mit den Ende Ok­to­ber 1941 ein­set­zen­den De­por­ta­tio­nen sank die Zahl der in Ham­burg le­ben­den Juden stän­dig. Bis Ende 1942 hatte die Ham­bur­ger Ge­mein­de selbst einen recht ge­nau­en Über­blick über die Größe der jü­di­schen Be­völ­ke­rung. In Ham­burg leb­ten zu die­sem Zeit­punkt 1.805 Juden. Die Kennt­nis­se über die Ge­mein­de be­ruh­ten auf deren un­ver­än­dert be­stehen­den bü­ro­kra­tisch in­tak­ten Grund­struk­tu­ren. Es ist daher an­zu­neh­men, dass die Daten der Ge­mein­de der Ge­sta­po und auch der Reichs­ver­ei­ni­gung über­mit­telt wur­den. Nach der Quel­len­la­ge ist kein Hin­weis er­kenn­bar, dass die Ge­sta­po ei­ge­ne Er­mitt­lun­gen an­stell­te.

Am 10.06.1943 löste das Reichs­si­cher­heits­haupt­amt die „Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land“ durch Er­lass auf. Das be­traf auch die Ham­bur­ger Juden. Am sel­ben Tag be­setz­te die Ham­bur­ger Ge­sta­po das Büro der „Be­zirks­stel­le Nord­west­deutsch­land der Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land“, des frü­he­ren Jü­di­schen Re­li­gi­ons­ver­bands. Dem Lei­ter der Be­zirks­stel­le, Dr. Max Plaut, wurde er­öff­net, dass die rest­li­chen Juden in Ham­burg nach The­re­si­en­stadt de­por­tiert wür­den. Die Auf­lö­sung er­wies sich al­ler­dings nur als ein for­ma­ler Akt. Der NS-​Staat be­ab­sich­tig­te sich als „ju­den­rein“ dar­zu­stel­len. Tat­säch­lich gab es in Ham­burg un­ver­än­dert Juden, im Juni 1943 rund 1.300, die als „Voll­ju­den“, auch in „Misch­ehen“, leb­ten. Ihre wei­te­re Zäh­lung er­wies sich auf­grund der ver­hee­ren­den Luft­an­grif­fe auf Ham­burg als schwie­rig. Das Flä­chen­bom­bar­de­ment der Stadt durch die Ope­ra­ti­on Go­mor­rha der Royal Air Force (24.7. bis 3.8.1943) hatte das ent­spre­chen­de Ak­ten­ma­te­ri­al der jü­di­schen Ge­mein­de ver­nich­tet. Die Ge­sta­po ver­füg­te damit über kei­nen Zu­griff auf ak­tu­el­le Un­ter­la­gen mehr, um sich je­der­zeit einen Über­blick über den Be­stand der noch in Ham­burg le­ben­den Juden zu ver­schaf­fen.

Zur or­ga­ni­sa­to­ri­schen Kon­trol­le der noch in Ham­burg le­ben­den Juden setz­te die Ham­bur­ger Ge­sta­po im Au­gust 1943 den jü­di­schen Arzt Dr. Cor­ten zum „Ver­trau­ens­mann“ ein. Des­sen Auf­ga­be war es, ein Min­dest­maß an Or­ga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren auf­recht­zu­er­hal­ten. Dazu hatte Cor­ten, mut­maß­lich, unter an­de­rem die Zahl und den Sta­tus der in Ham­burg le­ben­den Juden ge­nau­es­tens fest­zu­hal­ten. Cor­ten nahm im Som­mer 1943 an, dass 287 Juden, die nicht auf­zu­fin­den waren, ent­we­der durch die Luft­an­grif­fe ge­tö­tet wor­den waren oder die Tage des Chaos ge­nutzt hat­ten, um un­ter­zu­tau­chen. Die Zahl der ins­ge­samt un­ter­ge­tauch­ten Ham­bur­ger Juden wird heute auf 50 bis 80 ge­schätzt. Erst etwa ein hal­bes Jahr spä­ter konn­te Cor­ten den Be­stand der zu die­sem Zeit­punkt noch in Ham­burg le­ben­den Juden nä­he­rungs­wei­se an­ge­ben: Er­fasst wur­den 918 Juden. Deren Zahl min­der­te sich lau­fend durch wei­te­re De­por­ta­tio­nen. Der letz­te De­por­ta­ti­ons­trans­port vom 14.2.1945 konn­te nicht mehr voll­stän­dig durch­ge­führt wer­den. Die Ge­sta­po hatte für die­sen Trans­port nach The­re­si­en­stadt De­por­ta­ti­ons­be­feh­le für 161 jü­di­sche Män­ner und 115 jü­di­sche Frau­en aus­ge­stellt. 17 Män­ner und 24 Frau­en waren nach Maß­ga­be einer ärzt­li­chen Un­ter­su­chung nicht trans­port­fä­hig. Er­neut ent­zo­gen sich Juden durch Sui­zid der De­por­ta­ti­on. Der ein­set­zen­de Macht­ver­fall lässt sich auch daran er­ken­nen, dass etwa 30 Juden dem De­por­ta­ti­ons­be­fehl nicht folg­ten und die Ge­sta­po of­fen­bar über keine Druck­mit­tel mehr ver­füg­te, dem zu be­geg­nen.


Das rassistisch-kategorisierende System nach den Nürnberger Gesetzen


In der Sta­tis­tik auf­ge­nom­men ist der je­wei­li­ge fa­mi­liä­re Sta­tus. Die Auf­lis­tung ist zu­gleich Aus­druck der Ras­sen­po­li­tik des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Sys­tems. Die­ses rassistisch-​kategorisierende Sys­tem wies den Juden einen un­ter­schied­li­chen „Rechts­sta­tus“ zu. Bis zum Er­lass der so­ge­nann­ten Nürn­ber­ger Ge­set­ze vom 15.9.1935 un­ter­schied man da­nach, ob je­mand als „Glau­bens­ju­de“ Mit­glied einer jü­di­schen Ge­mein­de war. War je­mand kein „Glau­bens­ju­de“, aber zum Bei­spiel kon­ver­tier­ter Jude, galt er in der Spra­che des „Drit­ten Rei­ches“ als „Ras­se­ju­de“. Deren Zahl er­fass­te der NS-​Staat zu­nächst sta­tis­tisch nicht. Das galt auch für so­ge­nann­te „Halb-“ oder „Vier­tel­ju­den“, so­ge­nann­te „Misch­lin­ge“. Als be­deut­sam er­wies sich die­ser Sta­tus al­ler­dings dann, wenn es auf den so­ge­nann­ten Arier­sta­tus ankam. Als „nich­ta­risch“ galt, wer von „nich­ta­ri­schen“, ins­be­son­de­re jü­di­schen El­tern oder Groß­el­tern ab­stamm­te. Es ge­nüg­te, wenn ein Eltern-​ oder ein Groß­el­tern­teil „nich­ta­risch“ war. Dies war ins­be­son­de­re dann als un­wi­der­leg­ba­re Ver­mu­tung an­zu­neh­men, wenn ein Eltern-​ oder ein Groß­el­tern­teil der jü­di­schen Re­li­gi­on an­ge­hört hatte. Maß­ge­bend hier­für war das Ge­setz zur Wie­der­her­stel­lung des Be­rufs­be­am­ten­tums vom 7.4.1933.

Mit dem Er­lass der Nürn­ber­ger Ge­set­ze ver­än­der­ten sich die Zu­schrei­bun­gen noch­mals. Das Ge­setz ent­hielt Hei­rats­ver­bo­te. Zu­gleich wurde der Be­griff des „Voll­ju­den“ und des „Gel­tungs­ju­den“ auf­grund aus­füh­ren­der Ver­ord­nun­gen ge­nau­es­tens um­schrie­ben: „Voll­ju­de“ war da­nach, wer von min­des­tens drei der Rasse nach „voll­jü­di­schen“ Groß­el­tern ab­stamm­te. Als „voll­jü­disch“ galt ein Groß­el­tern­teil ohne wei­te­res, wenn es zu ir­gend­ei­nem Zeit­punkt der jü­di­schen Re­li­gi­ons­ge­mein­schaft an­ge­hört hatte. Als Jude galt auch, wer als „Misch­ling“ zwar nur von zwei „voll­jü­di­schen“ Groß­el­tern ab­stamm­te, aber beim Er­lass der Nürn­ber­ger Ge­set­ze einer jü­di­schen Ge­mein­de an­ge­hört hatte oder da­nach in sie auf­ge­nom­men wor­den war, oder wer bei Er­lass die­ses Ge­set­zes mit einem Juden ver­hei­ra­tet war oder sich da­nach mit einem sol­chen ver­hei­ra­te­te (so­ge­nann­te „Gel­tungs­ju­den“). Die­sen Sta­tus hat­ten auch nicht­ehe­lich ge­bo­re­ne Kin­der einer Jüdin, wenn der Vater un­be­kannt war. Die obige Sta­tis­tik weist diese Grup­pe nicht ge­son­dert aus. Das Do­ku­ment be­nennt zwei an­de­re Un­ter­schei­dun­gen, näm­lich die Frage der „Misch­ehe“ und der „Stern­trä­ger“. Als „Stern­trä­ger“ gal­ten Juden, die so­fern sie das sechs­te Le­bens­jahr voll­endet hat­ten, seit dem 19.9.1941 ver­pflich­tet waren, einen Ju­den­stern (Gel­ber Stern) auf ihrer Klei­dung zu tra­gen. Die Pflicht be­ruh­te auf der „Po­li­zei­ver­ord­nung über die Kenn­zeich­nung der Juden“ vom 19.9.1941 (RGBl. I S. 547). Nur „Misch­lin­ge“ und jü­di­sche Part­ner in „pri­vi­le­gier­ten Misch­ehen“ waren aus­ge­nom­men.

Die vor dem Er­lass der Nürn­ber­ger Ge­set­ze ge­schlos­se­nen Ehen zwi­schen einem Juden und einem Nicht­ju­den wur­den als „Misch­ehen“ ein­ge­stuft, hier wurde im Laufe der NS-​Zeit noch wei­ter un­ter­schie­den. Die Sta­tis­tik nimmt diese Un­ter­schei­dung mit den Wor­ten „ein­fa­che“ und „pri­vi­le­gier­te Misch­ehe“ auf. Nur der jü­di­sche Teil eines Ehe­paa­res muss­te Zwangs­mit­glied der Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land sein. Dies galt für die „ein­fa­chen Misch­ehen“, wenn der Mann der jü­di­sche Teil war und keine Kin­der bzw. als jü­disch gel­ten­de Kin­der vor­han­den waren.

Die Zwangs­mit­glied­schaft galt nicht für die in „pri­vi­le­gier­ten Misch­ehen“ le­ben­den Juden. Diese De­fi­ni­ti­on galt immer dann, wenn die Frau Jüdin war (un­ge­ach­tet des­sen, ob Kin­der vor­han­den waren) oder wenn der Mann jü­disch war, aber nicht­jü­disch er­zo­ge­ne Kin­der vor­han­den waren. Diese Juden konn­ten der Reichs­ver­ei­ni­gung frei­wil­lig bei­tre­ten. Taten sie dies nicht, wur­den sie den­noch in deren Kar­tei ge­führt: als Nicht­mit­glied der Reichs­ver­ei­ni­gung. Un­ab­hän­gig von der Ein­stu­fung der „Misch­ehe“ wur­den al­ler­dings alle, die zuvor Mit­glie­der einer jü­di­schen Ge­mein­de ge­we­sen waren, in die Reichs­ver­ei­ni­gung über­führt.

Der Sta­tus einer Pri­vi­le­gie­rung tauch­te erst­mals im Ge­setz über Miet­ver­hält­nis­se mit Juden vom 30.4.1939 auf. Die sich dar­aus ent­wi­ckeln­de Er­lass­pra­xis zur Ein­ord­nung der „Misch­ehe“ blieb un­ein­heit­lich. Seit 1942 / 43 wur­den „nicht­pri­vi­le­gier­te Ehe­paa­re“, wenig spä­ter auch Ehe­paa­re, bei denen der männ­li­che Teil Jude war, zur Auf­ga­be ihrer Woh­nung ge­zwun­gen und be­engt in „Ju­den­häu­sern“ un­ter­ge­bracht. Ham­bur­ger Juden in „pri­vi­le­gier­ter Misch­ehe“ er­hiel­ten die nor­ma­le Le­bens­mit­tel­zu­tei­lung, die an­dern­orts für alle Juden ge­kürzt wurde. An­de­rer­seits aber wurde in Ham­burg of­fen­bar schon vor dem Jahre 1944 die De­por­ta­ti­on an­ge­ord­net, wenn der nicht­jü­di­sche Ehe­teil ver­stor­ben war. Durch eine Schei­dung ging ge­ne­rell der einst­wei­li­ge Schutz durch den nicht­jü­di­schen Part­ner ver­lo­ren. In „pri­vi­le­gier­ten Misch­ehen“ wurde der jü­di­sche Ehe­part­ner von der Ver­pflich­tung, einen Ju­den­stern zu tra­gen, be­freit: Zum Tra­gen des „Ju­den­sterns“ ge­zwun­gen war also der männ­li­che jü­di­sche Ehe­part­ner einer kin­der­lo­sen „Misch­ehe“. Der weib­li­che jü­di­sche Ehe­part­ner war „Stern­trä­ger“, wenn Ab­kömm­lin­ge aus der Ehe vor­han­den waren und diese als Juden gal­ten. Die Sta­tis­tik weist dies für vier „Misch­ehen“ aus. Wenn sie von 13 le­di­gen „Voll­ju­den“ nur acht als “Stern­trä­ger“ an­gibt, er­laubt dies den Schluss, dass fünf das Alter von sechs noch nicht über­schrit­ten hat­ten. Das be­deu­tet, dass nur acht er­wach­se­ne „Voll­ju­den“ of­fi­zi­ell in Ham­burg über­leb­ten.

Das Ziel der erstellten Statistik


Nach der dar­ge­stell­ten Sta­tis­tik von Ende April 1945 waren 647 Juden am Ende der NS-​Herrschaft in der Han­se­stadt „re­gis­triert“. We­ni­ge Tage spä­ter be­setz­ten am 3. Mai 1945 bri­ti­sche Be­sat­zungs­trup­pen kampf­los Ham­burg. Die Ham­bur­ger Ge­sta­po besaß – wie er­wähnt - ein In­ter­es­se daran, mit den er­ho­be­nen Daten nach­zu­wei­sen, dass Ham­burg prak­tisch „ju­den­rein“ war. Die halb­mo­nat­lich er­stell­ten Un­ter­la­gen sind er­hal­ten ge­blie­ben, auch wenn im Üb­ri­gen die Ham­bur­ger Ge­sta­po gegen Ende des Krie­ges na­he­zu ihr ge­sam­tes Ak­ten­ma­te­ri­al ver­nich­tet hat. In­so­weit ist die hier auf­ge­nom­me­ne Sta­tis­tik ge­ra­de zum April 1945 eher ein Zu­falls­fund. Die viel­leicht na­he­lie­gen­de Frage, ob Cor­ten die der Ge­sta­po über­mit­tel­ten Daten ma­ni­pu­liert hat, lässt sich be­last­bar nicht be­ant­wor­ten. Sein Be­mü­hen, das Schick­sal jener Juden zu er­mit­teln, die nach der Ope­ra­ti­on Go­mor­rha nicht auf­zu­fin­den waren, spricht eher da­ge­gen. Kon­trol­lier­bar waren die Daten, je­den­falls theo­re­tisch, durch Nach­wei­se der „jü­di­schen“ Woh­nun­gen. Man darf sich indes nicht vor­stel­len, dass die Ge­sta­po nach 1943 noch über aus­rei­chen­de per­so­nel­le Res­sour­cen ver­füg­te, um auf­wän­di­ge Nach­for­schun­gen vor­neh­men zu kön­nen. Na­tür­lich ver­wun­dert, dass die Ge­mein­de­ver­ant­wort­li­chen für die Ge­sta­po noch zum 30.4.1945 eine Sta­tis­tik er­stell­te. Die Ge­sta­po war längst in Auf­lö­sung be­grif­fen.


Der Neubeginn: Bleiben oder Gehen


Die Zahl der Juden in Ham­burg stieg nach Kriegs­en­de kon­ti­nu­ier­lich an. Es ist für Juni 1945 von 700 bis 800 Juden nach Maß­ga­be der jü­di­schen Re­li­gi­ons­ge­set­ze aus­ge­hen. Adolph G. Brot­man, Se­kre­tär des Board of De­pu­ties of Bri­tish Jews und Harry Vi­te­les (Eu­ropean Re­con­st­ruc­tion De­part­ment of the Joint Dis­tri­bu­ti­on Com­mit­tee) er­mit­tel­ten 1946 für Ham­burg 1.509 Juden, von ihnen waren 1.294 in Deutsch­land ge­bo­ren. Der im März 1946 ein­ge­setz­te „Be­ra­ter der Kon­troll­kom­mis­si­on in jü­di­schen An­ge­le­gen­hei­ten“ der bri­ti­schen Be­sat­zungs­macht, Co­lo­nel Ro­bert Bern­hard Sa­lo­mon, schätz­te die Zahl der „Glau­bens­ju­den“ in Ham­burg für Ok­to­ber 1947 auf etwa 1.400. Das er­scheint rea­lis­tisch. Nach einer Volks-​ und Be­rufs­zäh­lung vom 26.10.1946 be­kann­ten sich in Ham­burg 953 Ein­woh­ner als deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge zum Ju­den­tum im Sinne der jü­di­schen Re­li­gi­ons­ge­set­ze. Eine in­ter­ne Sta­tis­tik der Ham­bur­ger jü­di­schen Ge­mein­de weist für März 1947 einen Mit­glie­der­be­stand von 1.268 aus, von denen 1.047 die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit be­sa­ßen. 831 der Ge­mein­de­mit­glie­der waren ver­hei­ra­tet, von ihnen leb­ten 671 in einer „Misch­ehe“. Damit gab es in der Ge­mein­de nur 80 „rein­jü­di­sche“ Ehen. Hier spie­gelt sich mit gro­ßer Deut­lich­keit die aus der NS-​Zeit über­kom­me­ne Struk­tur wider. Ge­ra­de die Juden, die sich zu einer „Misch­ehe“ ent­schlos­sen hat­ten und die damit ei­gent­lich den Be­ginn einer As­si­mi­la­ti­on ein­zu­lei­ten schie­nen, er­wie­sen sich jetzt und in den kom­men­den Jah­ren als tra­gen­de Säu­len einer re­li­gi­ons­ge­bun­de­nen jü­di­schen Ge­mein­de. Ihre Mit­glie­der ent­schlos­sen sich, in Deutsch­land – „im Land der Täter“ – zu blei­ben und eine neue jü­di­sche Ge­mein­de auf­zu­bau­en.

Auswahlbibliografie


Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, Hamburg 1999.
Ina Lorenz / Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39, Hamburg 2016; Statistik: Bd. 1, S. 94-120, Bd. 3, S. 57-84; Rassenpolitik: Bd. 1, S. 435-502, Bd. V, S. 305-378.
Ina Lorenz, Das Leben der Hamburger Juden im Zeichen der „Endlösung“ 1942-1945, in: Arno Herzig / dies. (Hrsg.), Verdrängung und Vernichtung der Juden unter dem Nationalsozialismus, Hamburg 1992, S. 207-247.

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Zum Autor

Jörg Berkemann, Prof. Dr. jur. Dr. phil., geb. 1937, ist Richter am Bundesverwaltungsgericht a. D. Er ist Honorarprofessor für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg und Lehrbeauftragter an der Bucerius Law School in Hamburg. Seine Tätigkeits- und Forschungsschwerpunkte sind: öffentliches Bau-, Planungs-, Umwelt- und Prozessrecht, Unionsrecht, Verfassungsgeschichte sowie deutsch-jüdische Geschichte.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Jörg Berkemann, Die Zahl der Hamburger Juden am 30.4.1945, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 01.06.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-7.de.v1> [14.05.2025].

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