Die neuere Geschichte der jüdischen Minderheit in Deutschland zeichnete sich durch einige Besonderheiten in ihrer sozialen Struktur aus, die sich pauschalisierend etwa wie folgt zusammenfassen lassen kann: Der Anteil der deutschen Jüdinnen und Juden an der Gesamtbevölkerung machte nur in einigen wenigen Orten, wie zeitweilig in Hamburg, mehr als 1 Prozent aus. Von der frühen Neuzeit bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung waren Jüdinnen und Juden vor allem im Südwesten und Osten des Deutschen Reiches beheimatet und lebten zudem spätestens seit dem 19. Jahrhundert konzentriert in einigen Ballungsräumen wie Berlin und Hamburg. Sie stachen durch einen besonders hohen Grad an Verstädterung und einen beachtlichen sozialen Aufstieg, meist verbunden mit einem höheren Ausbildungsgrad, aus der Gesamtgesellschaft hervor. Zugleich wiesen sie aber eine spezifische Berufsstruktur sowie eine Tendenz zur Überalterung, verbunden mit einem merklichen Geburtenrückgang, auf. Dabei bestanden massive regionale Unterschiede, geprägt von den rechtlichen Rahmenbedingungen für Ansiedlung, Familiengründung, Vererbung von Rechten etc. Hamburg und Altona zählten beispielsweise bereits im 17. und 18. Jahrhundert zu den Zentren der deutschen jüdischen Minderheit. Die Hamburger aschkenasische jüdische Gemeinde entwickelte sich nach mehreren gescheiterten Versuchen ab 1650 von Altona aus.
Ein merklicher Bevölkerungszuwachs im deutschsprachigen Raum ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen, als die jüdische Bevölkerung innerhalb von drei Jahrzehnten von 260.000 Personen um 1815 auf etwa 400.000 im Jahr der Revolution von 1848 anstieg. Dies geschah parallel zu einer ohnehin anwachsenden Bevölkerung – ein Zuwachs, der allerdings weniger deutlich verlief als innerhalb der jüdischen Minderheit. Seit der Reichsgründungszeit war ein fundamentaler demographischer und damit verbunden auch ein ökonomischer Wandel zu beobachten. Um 1870 lebten die deutschen Jüdinnen und Juden in etwa 2.000 kleinen und mittleren Gemeinden und in vier Großgemeinden mit über 2.000 Mitgliedern (Groß-Berlin, Breslau, Frankfurt am Main, Hamburg). Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung waren sie mobiler und konzentrierten sich dadurch auch verstärkt in einigen regionalen Zentren. Die Hälfte aller in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden waren in Preußen anzutreffen, nach den Gebietsvergrößerungen aus dem Jahr 1866 gar 62 Prozent. Ein Fünftel der deutschen Jüdinnen und Juden lebte in Bayern. Auffällig ist die im 19. Jahrhundert beginnende Tendenz zur Verstädterung (ein Viertel der Jüdinnen und Juden wohnte 1910 in Großstädten). Diese Tendenz war freilich nicht nur für die jüdische Bevölkerung festzustellen, sondern die Folge von neuen wirtschaftlichen Perspektiven, die die Städte durch die Industrialisierung Juden wie Christen boten.
Hamburg war die größte jüdische Gemeinde in Norddeutschland mit einem zeitweiligen ungewöhnlich hohen Anteil an der Gesamtbevölkerung von knapp 5 Prozent um 1800 und der besonderen Spezifik einer aschkenasischen (6.299 Personen) und sefardischen (130 Personen) Mischbevölkerung. Den höchsten Stand erreichte die Zahl der Hamburger Jüdinnen und Juden im Jahr 1925 mit 19.904 Personen, was etwa 1,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. In den Jahren der nationalsozialistischen Verfolgung emigrierten ab 1933 ca. 10-12.000 Juden aus Hamburg, einige blieben in der Stadt und überlebten in sogenannten „Mischehen“. Bereits wenige Monate nach Kriegsende gründete sich eine neue jüdische Gemeinde mit etwa 80 Mitgliedern. Bis heute ist die orthodoxe Hamburger Jüdische Gemeinde auf über 2.000 Mitglieder angewachsen, des Weiteren existiert seit 2004 eine Liberale Gemeinde mit rund 500 Mitgliedern.
Für die jüdische Geschichte Hamburgs war die Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert von zentraler Bedeutung, ebenso wie die Vertreibung aus den meisten Reichsstädten sowie zahlreichen Territorien im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, die zur Formierung von Landjudenschaften führte. Die jüdische Ansiedlung setzte dabei zu einem Zeitpunkt ein, an dem andere Städte ihre jüdische Bevölkerung gerade vertrieben. Damit beginnt die Hamburgische jüdische Geschichte vergleichsweise spät und zu einem sehr untypischen Zeitpunkt für eine Stadt. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts setzte eine demographische Wende ein und die Stadtgemeinden wuchsen wieder. Altona und Hamburg wurden nun bedeutsam: Um 1600 konnten sich aschkenasische Juden im Flecken Altona niederlassen. 1612 erhielten sie dort ein sogenanntes Generalgeleit und bauten innerhalb eines Jahrzehnts eine funktionierende Gemeindestruktur aus, der 30 jüdische Familien angehörten. Von Altona aus versuchten die Aschkenasen auch in Hamburg Fuß zu fassen.
Im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts wurde Hamburg zu einem begehrten Handelsplatz für englische und niederländische Kaufleute sowie eine Zufluchtsstätte für Glaubensflüchtlinge von der Iberischen Halbinsel, die vor allem über Amsterdam nach Hamburg migrierten. Es handelte sich dabei um sogenannte „Neuchristen“, das heißt getaufte Juden (cristãos novos, conversos, marranos), die zur Gruppe der Sefarden gehörten. Die Portugiesen, zu dieser Zeit noch als Katholiken lebend, waren damit die ersten Juden, die sich in der protestantischen Hafenstadt dauerhaft niederlassen durften. 1595 waren wohl sieben portugiesische Familien in Hamburg ansässig, 1609 bereits 98 Personen. Als diese Zuwanderer jedoch zum Judentum zurückkehrten, verlangte die Bürgerschaft ihre Ausweisung. Dies wurde städtischerseits verhindert und sie konnten in Hamburg bleiben, sofern sie keine eigene jüdische Infrastruktur aufbauten. Zur in Hamburg gegründeten sefardischen Einheitsgemeinde zählten 1652 rund 600 Mitglieder.
Hamburg und Altona zählten im 17. und 18. Jahrhundert zu den Zentren der deutschen Juden. Die Hamburger aschkenasische jüdische Gemeinde entwickelte sich nach mehreren gescheiterten Versuchen ab 1650 von Altona aus. Die daraus entstehende Gemeinde schloss sich 1671 mit der Altonaer und der Wandsbeker Gemeinde zur sogenannten Dreigemeinde zusammen.
Die Hamburger jüdische Bevölkerung stieg allmählich an und zählte an der Wende zum 19. Jahrhundert mit 6.000 Jüdinnen und Juden zu einer der größten jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich. Damit machten die Jüdinnen und Juden über 5 Prozent der Hamburger Gesamtbevölkerung aus. Im 19. Jahrhundert nahm diese Zahl weiter zu, um sich schließlich auf rund 14.000 Menschen mehr als zu verdoppeln.
Mit der Emanzipation eröffneten sich neue Berufsfelder und das Tätigkeitsprofil der jüdischen Minderheit veränderte sich. Daraus resultierte der kontinuierliche soziale Aufstieg in den neu entstehenden bürgerlichen Mittelstand. Ähnlich wie zuvor die Einschränkungen in der Berufswahl regional ungleich stark ausgeprägt waren, gestaltete sich nun auch die Änderung der Berufsfelder und die Bereitschaft der jüdischen Minderheit, den Beruf zu wechseln, entsprechend unterschiedlich. Dies lag größtenteils an den von Einzelstaat zu Einzelstaat unterschiedlich geregelten Zulassungen beispielsweise zu Handwerk oder Grund- und Immobilienbesitz.
Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die große Mehrheit der deutschen Juden arm. Die Hälfte von ihnen arbeitete als Handlungsgehilfen, Hausangestellte und Tagelöhner, gehörte also zur Unterschicht. Während noch um 1850 etwa die Hälfte der deutschen Juden als arm gelten muss, waren dies 1871 nur noch 25 Prozent. Innerhalb nur eines Jahrhunderts hatten sich Juden zu einer mehrheitlich mittelständischen und urbanen Gruppe entwickelt. Etwa zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung gehörten ab dem Kaiserreich von ihrer Berufsstruktur, vom Einkommen und vom Habitus her zum Bürgertum. Auch die Hamburger Juden durchlebten diesen sozialen Aufstieg im 19. Jahrhundert. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählten dort etwa zwei Drittel der Gemeindemitglieder zu den Armen. Diese Zahl sank im Verlauf des 19. Jahrhunderts rapide. Zudem lebten gerade in Hamburg vermögende Familien, die eine zahlenmäßig zwar kleine, aber beständige jüdische Oberschicht bildeten.
Die nichtjüdische deutsche Bevölkerung nahm im Kaiserreich schneller zu als die jüdische Minderheit. Der Bevölkerungszuwachs der Juden ist dabei maßgeblich auf eine Einwanderung aus dem Osten Europas zurückzuführen, während der Zuwachs bei der übrigen Bevölkerung weniger durch Migration, sondern vor allem durch ein „natürliches“ Wachstum bedingt war. Von den bis 1910 ins gesamte Deutsche Reich eingewanderten rund 70.000 Juden aus Osteuropa verblieben die meisten in den großen Städten wie Berlin und Leipzig, wo sie bis zu einem Viertel der jüdischen Bevölkerung ausmachten. Bildete Hamburg für jährlich bis zu 109.000 osteuropäische Juden eine Transitstation, so sorgten rigide Zuzugsbeschränkungen und Ausweisungsmaßnahmen dafür, dass sich diese Durchwanderer nicht dauerhaft in der Hansestadt niederlassen konnten. Dennoch war der überwiegende Anteil der ausländischen Juden in Hamburg aus dem Osten Europas. Insgesamt stellten sie 1925 aber nur 14 Prozent der jüdischen Bevölkerung, während es im benachbarten – bis 1937 preußischen – Altona hingegen fast 47 Prozent waren. Einige der „ostjüdischen“ Einwohner Altonas lebten dort seit der Kaiserzeit; die Mehrheit war jedoch erst während des Ersten Weltkrieges oder in der Nachkriegszeit dort ansässig geworden. Weitgehend mittellos, bedurften viele der Neuzuwanderer einer Unterstützung, die sie von den Gemeinden erhielten. Auch wenn die ausländischen Juden den Hamburger eingesessenen Juden rechtlich gleichgestellt waren, bauten sie doch ein separates geselliges Leben auf.
Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Hamburg rund 14.000 Juden, das waren etwa 4 Prozent der insgesamt 350.000 Einwohner Hamburgs. Die Mitglieder der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde machten nur noch einen geringfügigen Teil der Hamburger jüdischen Bevölkerung aus. Noch in den 1870er-Jahren hatten drei Viertel der jüdischen Minderheit in der Alt- und Neustadt in wenigen Straßenzügen beisammen gelebt. Mit der Reichsgründung 1871 setzte eine innerstädtische Wanderungsbewegung ein: Wohlhabendere jüdische Stadtbewohner zogen nun nach Rotherbaum, Harvestehude und Eppendorf. Im heutigen Grindelviertel vor dem Dammtor entstand das sogenannte „Klein-Jerusalem“ mit jüdischem Kleinhandel und -gewerbe sowie der Synagoge am Bornplatz und der Talmud Tora Schule im Zentrum.
Annonce zur Geschäftseröffnung des Lebensmittelhändlers David Bauer, Grindelallee 138 in Hamburg, 18 x 13
cm
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden,
BER00004.
Hier lebten überwiegend eher kleinbürgerliche, ärmere und religiösere Juden. Um 1900 hatten sich in Rotherbaum und in Harvestehude etwa 40 Prozent aller im städtischen Teil Hamburgs lebenden Juden angesiedelt. Um 1925 erreichte die Konzentration in diesen wenigen Stadtteilen ihren Höhepunkt mit rund 70 Prozent der knapp 20.000 in Hamburg lebenden Juden. Während der Prozentsatz der Juden an der Gesamtbevölkerung bei nur 1,72 Prozent lag, erreichte er in Rotherbaum und Harvestehude mit jeweils gut 15 Prozent eine beträchtliche Höhe.
Bis 1910 stieg zwar die Zahl der jüdischen Bewohner Hamburgs an, da aber die Stadt allgemein eine starke Zuwanderung zu verzeichnen hatte, nahm der relative Anteil an der Bevölkerung deutlich ab. Zwar blieb Hamburg nach Berlin, Frankfurt am Main und Breslau die viertgrößte jüdische Gemeinde im Kaiserreich, aber die nun fast 19.000 Jüdinnen und Juden stellten nur noch 1,87 Prozent der Stadtbevölkerung. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass ein Großteil der Hamburger Juden der Mittel- und Oberschicht angehörte, in der das Heiratsalter tendenziell höher lag und die Ehen kinderärmer waren als in der Gesamtbevölkerung. Nur noch etwa die Hälfte der zu dieser Zeit in Hamburg lebenden Juden war ebendort geboren. Das demographische Wachstum war somit auch weiterhin in erster Linie auf Zuwanderung zurückzuführen. Die Anzahl der in Hamburg lebenden Jüdinnen und Juden erreichte 1925 ihren Höchststand mit 19.904 Menschen.
Schule, Turnhalle und Synagoge im Grindelviertel in
Hamburg
Quelle: abgedruckt in: Hamburg und seine Bauten
unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek 1914, hrsg. v.
Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg, Hamburg 1914, S. 142, Abb.
141; Staats- und
Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, persistente URL: PPN639579191, CC BY-SA
4.0.
Reichsweit war ab der Jahrhundertwende ein Rückgang des jüdischen Bevölkerungsanteils zu verzeichnen, auch ihre absolute Zahl war ab Mitte der 1920er-Jahre rückläufig. 1933 machten sie nur noch 0,77 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Dieser Bevölkerungsrückgang lag vor allem im Geburtenrückgang begründet, der bereits im späten 19. Jahrhundert eingesetzt hatte. Konversionen und Austritte aus dem Judentum hingegen spielten hierbei nur eine geringfügige Rolle, auch wenn das damit verbundene bedrohliche Verlustszenario ungleich größer war.
Es gab auch weitere spezifische innerjüdische Gründe für die Veränderungen im demographischen Profil der jüdischen Bevölkerung. So war beispielsweise die Sterblichkeitsrate bei den Juden bedeutend geringer als bei den Nichtjuden und die Lebenserwartung der Neugeborenen höher als in der Gesamtbevölkerung. Da aber zugleich die Geburtenrate bei den Juden früher zurück ging als bei den Christen und auch die Gesamtbevölkerung von einer sinkenden Sterblichkeitsrate profitierte, nahm der jüdische Bevölkerungsanteil statistisch ab.
Das Heiratsalter der jüdischen Bevölkerung war im Verlauf des 19. Jahrhunderts angestiegen und die Zahl der Kinder pro Familie gesunken. Diese Faktoren trugen unter anderem zur Überalterung der jüdischen Bevölkerung bei. Juden waren beispielsweise in Preußen im Jahr 1925 durchschnittlich 30,5 Jahre alt. Die durchschnittliche Zahl der Kinder lag bei 1,3 Kindern pro Frau im Jahr 1923. Rund ein Viertel der verheirateten jüdischen Frauen blieben kinderlos. Diese demographische Entwicklung wurde bereits von den Zeitgenossen sorgenvoll als „der Untergang des deutschen Judentums“ beschrieben.
Eine Besonderheit der jüdischen Lebenssituation war die Frage, wie mit Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden umzugehen sei. Auffallend war der Anstieg sogenannter „Mischehen“, also Ehen, die die Konfessionsgrenzen überschritten. Diese entstanden vor allem in Großstädten, wo die Zahl der jüdischen Bevölkerung höher war. Zudem begegneten sich hier Juden und Nichtjuden in akkulturierten städtischen Milieus, in denen die religiöse Gebundenheit zunehmend sekundär geworden war. Seit 1849 durften in Hamburg die Juden, die im Besitz des Bürgerrechtes Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzung für die Erlangung des Bürgerrechts war geerbter Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten waren, Ehen mit Angehörigen einer anderen Konfession eingehen. Für Frauen galt dies erst später, mit der Einführung der sogenannten Zivilehe 1851. Gleichzeitig war in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine wachsende Zahl von Eheschließungen von sefardischen mit aschkenasischen Ehepartnern zu beobachten. Die Zahl von „Mischehen“ nahm in Hamburg überdurchschnittlich stark zu, nach dem Ersten Weltkrieg waren es knapp 25 Prozent, 1933 schon fast 60 Prozent aller Eheschließungen mit einem jüdischen Partner oder einer jüdischen Partnerin. Zahlen wie diese sorgten für Beunruhigung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die um ihren Fortbestand fürchtete, weil die Kinder in der Regel getauft oder zumindest christlich erzogen wurden. Die genannten Spezifika des jüdischen Bevölkerungsprofils führten zu einer beinahe obsessiven Beschäftigung von Vertretern der jüdischen Minderheit mit Fragen der Demographie. Gerade als Minderheit, sowohl antisemitisch von außen bedroht als auch von innen durch befürchtete Auflösungstendenzen in Frage gestellt, war die Beschäftigung mit der sozialen und bevölkerungspolitischen Entwicklung der eigenen Gruppe ab der Wende zum 20. Jahrhundert zentral.
Anzahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Hamburg (inklusive
Altona
and Wandsbek), Entwicklung von 1815-2004
Quelle: angefertigt von Fianna Meyer-Sand, auf Grundlage von:
Klaus-Dieter Alicke, Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen
Sprachraum, München 2008, S. 1711-1726, hier: S. 1712; Arno Herzig (Hrsg.),
Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der
Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“,
Hamburg 1991.
Der Aufstieg des Nationalsozialismus veränderte das soziodemographische Profil der Juden fundamental. Die antisemitischen Repressalien zwangen zahllose Juden zur Auswanderung. Aus Hamburg emigrierten auch die verbliebenen Portugiesenfamilien nach Holland, in die USA und nach Frankreich, wenige wählten Palästina oder Portugal als ihre neue Heimat. Nach 1933 verringerte sich die jüdische Bevölkerung reichsweit durch Emigration bis Kriegsausbruch um rund 250.000 Menschen. Die jüdische Minderheit hatte sich innerhalb von sechs Jahren also mehr als halbiert. In Hamburg war die Zahl der Jüdinnen und Juden 1933 bereits auf 16.885 von zuvor fast 20.000 Menschen zurückgegangen.
Schülerinnen der Schneider-Fachschule in der Johnsallee in Hamburg, März 1937, 7 x 5 cm
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, 21-015/550,
Sammlung Ursula
Randt.
Mit Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze veränderten sich die Kriterien, nach denen deutsche Juden gezählt wurden. Nach den neuen Rassekriterien zählten nun außer den 500.000 Juden, die Mitglieder jüdischer Gemeinden waren, auch diejenigen, die keiner Gemeinde angehörten, getauft oder glaubenslos waren. „Mischlinge“ wurden als Sondergruppe behandelt, die Schließung weiterer „Mischehen“ wurde untersagt. Die bestehenden „Mischehen“ aber blieben gültig. Bei Kriegsende 1945 gab es noch etwa 12.000 „Mischehen“ in Deutschland, davon 631 in Hamburg.
Ein weiterer Grund für die Veränderungen lag in der reichsweiten Zwangsabschiebung der polnischen bzw. ehemals polnischen Juden nach Polen Ende Oktober 1938. In Hamburg waren etwa 1.000 Personen betroffen. Insgesamt emigrierten zwischen 1933 und 1941 ca. 10-12.000 Juden aus Hamburg, dabei 1938 fast so viele wie in den fünf Jahren zuvor. Dem größten Teil der Hamburger Emigranten gelang die Flucht in die USA; Großbritannien, Palästina und China (Shanghai) waren ebenfalls häufig gewählte Länder. Zu den Flüchtlingen gehörten auch ca. 1.000 Hamburger Kinder, die mit den sogenannten Kindertransporten nach Großbritannien gelangten. Am 23.10.1941 wurde die Auswanderung reichsweit verboten. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Anzahl der Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze infolge der begonnenen Deportationen nur noch 4.951 Menschen, davon lebten 1.290 in sogenannter „Mischehe“. 85 Prozent der Hamburger Juden waren älter als 40 Jahre, 55 Prozent älter als 60 Jahre.
Bei Kriegsende befanden sich auf deutschem Territorium etwa 15.000 deutsche Juden, einige Tausend von ihnen hatten in Verstecken überlebt. Die meisten konnten überleben, weil sie in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“ (wenn die Ehefrau Jüdin war oder die Kinder christlich erzogen wurden) lebten, die sie in den meisten Fällen vor der Deportation geschützt hatte. Etwa 9.000 deutsche Juden, die die Gettos und Konzentrationslagerhaft außerhalb Deutschlands oder in den eingedeutschten Gebieten wie beispielsweise in Theresienstadt überlebt hatten, kehrten ebenfalls zurück. Dazu kamen noch jüdische Displaced Persons (DPs) aus Osteuropa, im September 1945 waren dies 53.000 jüdische DPs. Die Zahl der jüdischen DPs auf deutschem Territorium stieg an, sie machten die größte jüdische Gruppe auf deutschem Territorium nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus und konzentrierten sich vor allem im amerikanisch besetzten Bayern. In Norddeutschland war Bergen Belsen das größte Zentrum. Deutschland stellte für die meisten dieser DPs nicht mehr als eine Zwischenstation dar. Doch lange nicht alle von ihnen wanderten tatsächlich in das 1948 gegründete Israel oder in die USA aus. Viele blieben in Deutschland und gründeten dort erste neue jüdische Gemeinden. Ein Auswanderungswunsch wurde jedoch häufig noch sehr lange gehegt.
Die meisten Juden, die im Nachkriegsdeutschland lebten, waren keine Nachfahren von deutschen Juden, sondern stammten aus Osteuropa. Sie hatten Konzentrationslager oder im Osten und Süden der Sowjetunion überlebt und waren nach Kriegsende westwärts gezogen. In Deutschland landeten sie dann in den Lagern für die „Displaced Persons“. Es gab auch einige deutsche Juden, die aus der Emigration wieder zurück in die BRD oder DDR kamen. Diese, zusammen mit Juden aus Polen und der Sowjetunion, bildeten den Grundstock der jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland, die durch Überalterung geprägt waren. Die Anzahl der (west-)deutschen Juden lag in der Nachkriegszeit bei rund 30.000. In der sowjetischen Besatzungszone wurden etwa 4.500 Juden gezählt, nach Repressalien in den frühen 1950er-Jahre waren lediglich 1.700 Juden in der DDR Mitglieder in den dortigen Gemeinden. In den 1960er-Jahren wohnten nur 10 Prozent der in Deutschland lebenden Juden in der DDR. Während die Anzahl der ostdeutschen Juden wegen des hohen Durchschnittsalters zurückging, blieb die Zahl der westdeutschen Juden recht beständig bei 25–30.000.
In Hamburg lebten nach Kriegsende 1945 noch 647 Juden, fast alle in „Mischehen“ verheiratet. Weitere 50 bis 80 Personen hatten Verfolgung und Krieg im Versteck oder unter falscher Identität überlebt. Im September 1945 wurde auf einer Versammlung in Hamburg, an der knapp 80 Personen teilnahmen, eine jüdische Gemeinde als gemäßigt orthodoxe Einheitsgemeinde gegründet. Im März 1947 hatte sie schon 1.268 Mitglieder, von denen 671 in sogenannten „Mischehen“ mit nichtjüdischen Partnern verheiratet waren. Dennoch war die Mitgliederzahl infolge von Überalterung, niedriger Geburtenrate und Auswanderung rückläufig.
Nach Kriegsende und bis in die Mitte der 1950er-Jahre kehrten immer wieder Emigranten nach Hamburg zurück und osteuropäische Juden wanderten zu. Obendrein ließen sich 150 jüdische Familien aus dem Iran in Hamburg nieder. Die Anzahl der Gemeindemitglieder pendelte sich in den nächsten Jahrzehnten bei rund 1.400 ein.
Auch das Berufsprofil der jüdischen Gemeinschaft, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildete, folgte nicht mehr den Vorkriegsmustern. Die Politik der Westalliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit brachte in einigen Regionen wieder ein besonderes Wirtschaftsprofil hervor. Dies betraf vor allem die erste Nachkriegsgeneration der jüdischen Gemeinschaft: In Deutschland lebende Juden, darunter viele polnische, erhielten von den Alliierten besonders unkompliziert Konzessionen für Gaststätten und Bars, manche konnten im Immobiliengeschäft Fuß fassen. Im Handel fiel weiterhin die Häufung von jüdischen Geschäftsleuten in der Textilbranche in den 1950er- und 1960er-Jahren auf. Eine weitere starke Gruppe unter den in Deutschland verbleibenden, vor allem aber der nach Deutschland zurückkehrenden Juden waren die Juristen: Nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die Kenntnis des deutschen Rechtssystems begünstigten ihre Rückkehr nach Deutschland.
Einen neuerlichen Aufschwung erfuhr die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach dem Mauerfall und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990, als eine starke Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion einsetzte. Die DDR-Regierung hatte im Frühjahr 1990 beschlossen, verfolgten Juden aus der Sowjetunion ein pauschales Bleiberecht zuzugestehen. In den Verhandlungen zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde entschieden, diese Aufnahmepolitik fortzuführen. Die jüdischen Gemeinden Deutschlands veränderten sich fundamental infolge dieser Zuwanderung: Zwischen 1991 und 2004 zogen etwa 190.000 solcher Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Knapp die Hälfte von ihnen wurde Mitglied in einer der jüdischen Gemeinden. Ein Drittel der 1989 in Hamburg registrierten knapp über 1.300 Gemeindemitglieder war älter als 60 Jahre. In den kommenden Jahren stieg die Mitgliederzahl infolge der Zuwanderung an und verjüngte sich zugleich. In Hamburg trafen die ersten rund 30 der sogenannten „Kontingentflüchtlinge“ 1991 ein und wurden von der Gemeinde betreut. 2004 verzeichnete die jüdische Gemeinde bereits 5.000 Mitglieder.
Ausschnitt aus Karte „Orte jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte in
Hamburg“
Quelle: Orte
jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte in Hamburg, hrsg. v.
Kulturbehörde
Hamburg in Zusammenarbeit mit Institut für die Geschichte der
deutschen Juden.
Das jüdische Sozialleben veränderte sich dadurch signifikant: Es wurden ein jüdischer Kindergarten sowie die Joseph Carlebach Schule gegründet; letztgenannte ist seit 2002 im Gebäude der ehemaligen Talmud Tora Schule untergebracht. Heute wird davon ausgegangen, dass rund 200.000 Juden in Deutschland leben, von denen aber nur die Hälfte (etwa 108.000 im Jahr 2007) Mitglieder einer jüdischen Gemeinde sind. Im Jahr 2015 zählte die orthodoxe Hamburger Jüdische Gemeinde 2.445 Mitglieder. Des Weiteren existiert seit 2004 eine Liberale Gemeinde mit rund 500 Mitgliedern.
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Miriam Rürup (Thema: Demographie und soziale Strukturen), Prof. Dr., ist Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschlechtergeschichte, Deutsch-jüdische Geschichte, Zeitgeschichte, Migrationsgeschichte, Studenten- und Universitätsgeschichte, Geschichte der Erinnerungspolitik sowie Geschichte des Nationalsozialismus.
Miriam Rürup, Demographie und soziale Strukturen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-224.de.v1> [21.11.2024].