Rachel Dror wurde als
Rahel Zipora Lewin am 19.1.1921 in
Königsberg
geboren. Sie wuchs in einer traditionell-jüdischen Familie auf – neben dem
Besuch des öffentlichen Lyzeums besuchte sie eine jüdische Religionsschule.
1936, zwei Jahre nach dem vorzeitigen Schulabbruch und
dem Beginn einer Lehre zur Schneiderin, beschloss
Rachel Dror, sich
einer zionistischen
Jugendgruppe anzuschließen, um sich nach
Hamburg auf
Hachschara – die
Vorbereitung für ein Leben in
Palästina –
zu begeben. Zu diesem Zeitpunkt war die Ausgrenzung von Juden im
Deutschen Reich
bereits gesetzlich verankert und weit fortgeschritten. Während
Rachel Dror in
Königsberg
bereits auf vielfache Art und Weise mit
Antisemitismus
konfrontiert worden war, ging es ihr im als weltoffen geltenden
Hamburg, und vor
allem im Kreise der jüdischen Jugendlichen, deren gemeinsames Ziel die
Auswanderung war, zunächst vergleichsweise gut. Gemeinsam mit 27 weiteren
Jugendlichen war sie in der
Klosterallee 9
untergebracht. Nach eineinhalb Jahren, am Morgen des
28.10.1938, sah
Rachel Dror zum
letzten Mal ihren damaligen Jugendfreund Wolfgang
Drechsler. Im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ – bis zu
17.000 Juden polnischer Staatsbürgerschaft wurden dabei aus dem
Deutschen Reich
ausgewiesen – wurde er verhaftet und abgeschoben. Viele weitere Jugendliche
aus der
Hachschara-Gruppe waren
von dieser Aktion betroffen, so dass die Wohngruppe aufgelöst wurde und
Rachel Dror zur
Schwester ihrer Mutter, Flora Rosenbaum, zog,
die an der
Talmud-Tora-Schule im
Grindelviertel als Lehrerin tätig war. Zwei Wochen
später, vom 9. auf den
10.11.1938, gipfelte der staatlich gelenkte
Antisemitismus in der
Pogromnacht.
Rachel Dror befand
sich zu diesem Zeitpunkt im Wohnhaus ihrer Tante, wo sie zunächst nichts von
den Geschehnissen erfuhr. In der ersten Videosequenz erinnert sie sich an ihre
Eindrücke und Empfindungen, die sie am darauf folgenden Morgen sammelte,
nachdem sie Zeugin wurde, wie jüdische Menschen von der
SA geschlagen und durch
die Straßen getrieben wurden:
„Ja, als ich das sah, hab ich gedacht, da muss was Schlimmes passiert
sein und ich bin schneller gegangen.“
In ihrer Erzählung beschreibt sie, wie sie daraufhin einen Zeitungskiosk
erreichte, vor dem sich Schaulustige drängten. Die Erinnerung an diese Szene
trägt eine Bildhaftigkeit in sich, die sich bleibend in
Rachel Dror
festgesetzt hat:
„[…] aber der hatte Zeitungen so übereinander gestapelt [gestikuliert],
und das sah aus, als ob da Blut rübergelaufen ist. Oder rote Farbe
gestrichen worden ist. Und das waren die Flammen der Synagogen, die in der
Nacht vom neunten auf [den] zehnten November angezündet wurden.“
In den Schwarz-Weiß-Fotografien, die in den Zeitungen zu sehen sind, vor denen
sich die Schaulustigen drängen, erkennt
Rachel Dror die
Widerspiegelung eines roten Scheins, den sie augenblicklich gleichermaßen mit
Flammen und Blut assoziiert, während sich der
Zeitungsverkäufer, bei dem sie lange Zeit ihre Zeitungen
kaufte, mit einem
Berliner Dialekt
gleichzeitig an und gegen sie wandte:
„Na, Judje, willste auch sehen, wie deine Synagogen brannten?“
Auch wenn es in dieser Passage um ein konkretes Datum, den Morgen des
10.11.1938, an einem konkreten Ort –
Hamburg –,
geht, so kann diese Stelle nicht als Schilderung des historischen Geschehens der
Pogromnacht an diesem Ort
gelten. Vielmehr ist es denkbar, dass sich an dieser Stelle des Interviews eine
Verquickung aus persönlicher Erinnerung und später erlangtem Wissen über die
Geschehnisse offenbart. Rachel
Dror hat im Haus ihrer Tante eben nichts direkt von den
Ausschreitungen gegen jüdische Menschen, ihre Geschäfte und Synagogen
mitbekommen. Der rote Widerschein – Flammen und Blut –, den sie auf den
Zeitungen sieht, ist demnach als eine Metapher zu verstehen, die die Zerstörung
und das Leid, von dessen vollen Ausmaßen sie erst später erfahren haben kann,
zu fassen versucht. Darüber hinaus erhalten die Ausschreitungen dadurch, dass
über sie in den Zeitungen berichtet wird, eine Wahrhaftigkeit, sie werden –
schwarz auf weiß – bezeugt. Für
Rachel Dror ist dieser
Moment in der Retrospektive bedeutsam, da sich für sie die bislang auf einer
abstrakten Ebene vollziehende Entfesselung des Antisemitismus ganz konkret in
ihrem eigenen Umfeld niederschlägt. Genau an dieser Stelle wechselt die
Erzählung von der Schilderung historischer Ereignisse wieder in eine Form der
ganz persönlichen Erinnerung: Auch
Rachel Dror wurde in
genau diesem Moment – einzig und allein weil sie Jüdin war – ausgegrenzt.
Es war der Zeitungsverkäufer, der die politische Kultur
des Landes verkörpernd, sich vor ihr aufbaute und sie verhöhnte. Dass
Rachel Dror sich daran
erinnert, dass der Verkäufer aufgrund seines Dialekts aus
Berlin stammen
musste, unterstreicht die Bedeutung dieses Moments.
Umgehend kehrte Rachel
Dror in das Haus ihrer Tante zurück, wo ihr von den Vorkommnissen an
der Talmud Tora Schule
berichtet wurde. Ihre Tante hatte in der Zwischenzeit von der Verhaftung des
Kollegiums und vieler ihrer Schüler erfahren. Voller Sorge um ihre eigene
Familie in
Königsberg,
gelang es Rachel Dror
schließlich, Kontakt zum Vater herzustellen, der ihr befahl, sofort nach Hause
zurückzukehren.
In der zweiten, darauf inhaltlich aufbauenden Sequenz, beschreibt
Rachel Dror die
Rückkehr nach
Königsberg. Die
Familie hatte in der Zwischenzeit das Elternhaus aufgegeben und in eine kleine
Wohnung zwangsumziehen müssen. Dort traf
Rachel Dror auf ihren
verängstigten jüngeren Bruder, der nach den Gewalterfahrungen, denen die
Familie in
Königsberg
ausgesetzt war – in der
Pogromnacht wurde der
Vater von Eindringlingen mit einer Ofenklinke schwer am Kopf verletzt – unter
einem schweren Sprachfehler litt.
„und als ich das sah, hab ich gedacht ich fahr’ weg. Hier bleib ich
nicht! Mein Vater hat gesagt:
„Wo fährst du hin?“
„Nach Palästina!“ “
Die Machtlosigkeit gegenüber der voranschreitenden Ausgrenzung, die zunächst
auch in der eigenen Unfähigkeit zum Handeln Ausdruck fand, wurde in dem Moment,
als Rachel Dror von
der physischen Gewaltanwendung gegen ihren Vater erfuhr, gebrochen. Die
Tatsache, dass die Gewalt auch vor der eigenen Familie nicht Halt machte, zog
eine affektive Reaktion nach sich.
Rachel Dror hatte sich
zwar für ein Leben in
Palästina
gemeinsam mit der
Hachschara-Gruppe
vorbereitet, doch die Gruppe wurde zerschlagen. Der Familie war eine
Auswanderung nicht nur finanziell nicht möglich, auch aus anderen Gründen kam
es für sie nicht in Frage. Die Familie – allen voran die Mutter – fühlte
sich als Deutsche. Sie konnten weder begreifen, wie es zu
antisemitischen
Ausschreitungen und der schrittweisen Ausgrenzung von Juden in dem Land kommen
konnte, das sie als ihre Heimat betrachteten, noch konnten sie sich vorstellen,
auszuwandern. Die Hoffnung, dass alles vorüberginge, blieb in der Familie
allgegenwärtig. Nicht so bei
Rachel Dror: Intuitiv
traf sie die Entscheidung, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und
setzte sich damit – zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal volljährig –
gegen den Willen ihrer Eltern durch. Umgehend bemühte sie sich um ein
Affidavit, eine beglaubigte Bürgschaftserklärung zur Einreise in ein anderes
Land. Mit ihrer Tante als Bürgin gelang es ihr, am
29.4.1939
Deutschland zu
verlassen und sich auf diese Weise vor weiterer Verfolgung zu retten. Auf
ähnliche Weise, wie bereits beispielhaft in der ersten Sequenz veranschaulicht,
versucht Rachel Dror
auch im weiteren Verlauf des Interviews immer wieder mit Hilfe des zu einem
späteren Zeitpunkt erworbenen historischen Wissens, ihre eigene
Lebensgeschichte zu kontextualisieren und in ein Narrativ zu bringen. So konnte
sie bei ihrer Auswanderung nicht ahnen, dass
Palästina –
das spätere
Israel –ihre
Heimat werden würde.
„Und wenn Sie mich fragen, dass ich mich als Israeli fühle,
natürlich! Sie dürfen eins nicht vergessen, man wurde von Dreck, wurde man
was. Nachdem man mich als Dreck behandelt hat, ja?! Und dann merkt man, ja
man ist ja eigentlich kein Dreck. Man ist ja -n Mensch wie jeder andere
auch.“
In beiden Sequenzen findet sich der von
Baranowski
beschriebene „Moment zwischen Fassungslosigkeit und
Erkenntnis“ Daniel Baranowski (Hrsg.),
Sprechen trotz allem. Das Videoarchiv der Stiftung Denkmal für die ermordeten
Juden Europas, Berlin 2014, S. 24. , in dem sich persönliche
Erinnerungen an die eigenen Erfahrungen, historisches Wissen und der
zeitgenössische Deutungsrahmen verdichten. Nur wenn man die spezifischen
Merkmale der Quelle Videointerview ernst nimmt und angemessen analysiert, ist es
möglich, der vielschichtigen Erzählung individueller Zeugenschaft Rechnung zu
tragen.
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Lennart Bohne war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung "Denkmal für die Ermordeten Juden Europas" und hatte dort die Projektleitung des Videoarchivs inne.
Lennart Bohne, „Nach Palästina!“ Bemerkungen zum lebensgeschichtlichen Videointerview mit Rachel Dror, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-62.de.v1> [09.10.2024].