Unter dem Begriff Migration werden verschiedene, miteinander verflochtene Prozesse verstanden, insbesondere Mobilität, Ein- und Auswanderung, Binnenwanderung, Arbeitswanderung, saisonale Wanderungen, Flucht und Vertreibung. Die extremsten Formen der Zwangsmigrationen sind dabei beispielsweise die Deportation von Juden in Gettos sowie Konzentrations- und Vernichtungslager während der NS-Herrschaft und die Todesmärsche in den Monaten und Wochen vor der Befreiung 1944 / 45.
Als Hafenstadt nimmt Hamburg im Hinblick auf Migration eine besondere Stellung in der deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte ein. In Hamburg siedelten sich Juden aus ganz unterschiedlichen und teilweise weit entfernten Teilen Europas an. Außerdem traten hier viele Juden, vor allem aus Osteuropa, die Reise nach Übersee an.
Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Hamburg sind mit der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel Ende des 15. Jahrhunderts verknüpft. Bis ins 18. Jahrhundert prägten sefardische Einwanderer und ihre Nachkommen die jüdische Gemeinde in Hamburg. In der unter dänischer Hoheit stehenden Nachbarstadt Altona entstand ebenfalls eine jüdische Gemeinde. Altona verfolgte eine tolerantere Politik gegenüber Andersgläubigen als Hamburg. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entwickelte sich die Hafenstadt Hamburg zu einem der wichtigsten Transitorte Europas und zur zweitgrößten Stadt Deutschlands. Die jüdische Gemeinde wuchs vor allem aufgrund von Zuwanderung aus Norddeutschland. Darüber hinaus reiste ein erheblicher Teil der über zwei Millionen jüdischen Migranten, die zwischen 1880 und 1914 aus Osteuropa in die Neue Welt auswanderten, über den Hamburger Hafen.
In den 1920er-Jahren verfolgte das nun preußische Altona weiterhin eine offenere Politik als Hamburg gegenüber jüdischen Flüchtlingen und Migranten, die jetzt vor allem aus Osteuropa kamen. Zwischen 1933 und 1941 gelang einer Mehrheit der Hamburger Juden die Emigration. Die NS-Behörden deportierten die meisten verbliebenen Juden in die Gettos und Vernichtungslager. Nach der Befreiung kehrten nur wenige Juden nach Hamburg zurück. Die meisten Mitglieder der Nachkriegsgemeinde waren Flüchtlinge und Überlebende des Holocaust aus Osteuropa. Außerdem kamen seit den 1950er-Jahren Juden aus dem Iran nach Hamburg. Nach 1989 expandierte die Gemeinde aufgrund der Zuwanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten deutlich.
Die frühe Geschichte der Hamburger jüdischen Gemeinde ist eng mit zwei prägenden Migrationsbewegungen der jüdischen Geschichte um 1500 verknüpft, die eine Neuformation der jüdischen Diaspora bewirkten: der Migration von Aschkenasen nach Osteuropa und die Vertreibung von Juden aus den Königreichen Spanien und Portugal.
Bis zum 14. Jahrhundert waren Mitteleuropa und die iberische Halbinsel die wichtigsten Zentren jüdischen Lebens. Schon im 13. Jahrhundert wurden aschkenasische Juden aus vielen Städten in Mitteleuropa vertrieben oder verdrängt. Ende des 15. Jahrhunderts entstand im polnisch-litauischen Reich ein neuer und bald dominierender jüdischer Siedlungsschwerpunkt. Im deutschsprachigen Mitteleuropa durften Juden nur noch in einzelnen Städten wie Frankfurt am Main siedeln. Die meisten Juden lebten in kleinen Landgemeinden im heutigen Süddeutschland und angrenzenden Regionen wie Böhmen und dem Elsass. In Norddeutschland gab es nach 1500 nur wenige, weit verstreute jüdische Landgemeinden. In Hamburg lassen sich erst im Laufe des 16. Jahrhunderts einzelne aschkenasische Juden nachweisen. 1649 wurde eine kleine Gruppe von Aschkenasen förmlich aus Hamburg ausgewiesen. Die meisten dieser Aschkenasen waren während des Dreißigjährigen Krieges 1627 aus Altona nach Hamburg geflüchtet. Altona gehörte zur Grafschaft Holstein-Schauenburg. Gegen ein Schutzgeld durften sich aschkenasische Juden seit Anfang des 17. Jahrhunderts dort niederlassen. In Altona konnte sich so eine aschkenasische Gemeinde entwickeln, die aufgrund der Nähe zur größeren Hafenstadt Hamburg prosperierte, aber anfangs im Schatten der sefardischen Gemeinde in Hamburg stand.
Die Migration der Nachkommen von Juden aus Spanien und Portugal, sogenannter Sefarden, nach Hamburg lässt sich auf ein Vertreibungsedikt der spanischen Krone zurückverfolgen. Im Jahr 1492, nach Abschluss der sogenannten Reconquista und der Vertreibung der letzten Muslime, ordnete das spanische Königspaar Ferdinand und Isabella die Vertreibung der Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet an. Lediglich die zum Christentum konvertierten Juden hatten das Recht, zu bleiben. Allerdings wurden sogenannte Conversos während der Inquisition vielfach verdächtigt, heimlich am Judentum festzuhalten und auch verfolgt. Die meisten zogen zunächst nach Portugal und Nordafrika. Die Nachkommen vertriebener Juden siedelten in den folgenden Jahrzehnten rund um das Mittelmeer, vor allem in Gebieten unter muslimischer Herrschaft. Kleinere Gruppen von Sefarden durften sich in italienischen Hafenstädten wie Venedig und Livorno niederlassen, wo sie aufgrund ihrer Handelskontakte willkommen waren, aber in separaten Gettos leben mussten. In Portugal wurden Juden auf spanischen Druck hin im Jahr 1497 förmlich ausgewiesen, aber trotzdem über viele Jahrzehnte weiter toleriert. Erst Ende des 16. Jahrhunderts setzten vor allem auf Druck der Kirche massive Verfolgungen ein. Juden aus Spanien und Portugal beteiligten sich im 16. Jahrhundert an der Erschließung und Besiedlung der Neuen Welt. Kleinere Gruppen fanden in protestantischen Hafenstädten in Nordwesteuropa eine neue Heimat. In der boomenden Hafenstadt Amsterdam, der Drehscheibe des aufstrebenden holländischen Kolonialreiches, entstand Ende des 16. Jahrhunderts die bedeutendste und wohlhabendste sefardische Gemeinde in Europa.
Bereits Ende des 16. Jahrhunderts erwähnen Hamburger Quellen katholische Neuchristen portugiesischer Herkunft. In den Jahren nach 1600 bekannte sich eine wachsende Zahl dieser portugiesischen Zuwanderer zum Judentum, der Religion ihrer Vorfahren. Obwohl es insbesondere von der Kirche und Vertretern der Hamburgischen Kaufmannschaft Vorbehalte gegen die Neuzuwanderer gab und Diskriminierungen an der Tagesordnung waren, wurden die sefardischen Juden toleriert. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden drei kleine sefardische Gemeinden, die sich 1652 zusammenschlossen. Die Hamburger sefardische Gemeinde blieb vor 1800 neben der 1737 in Wien gegründeten „türkischen-israelitischen Gemeinde“ die einzige im deutschsprachigen Mitteleuropa und wurde als Portugiesen-Gemeinde bezeichnet.
Die frühe Geschichte jüdischer Gemeinden im Raum Hamburg zeigt, dass die Prozesse der Zu- und Abwanderung, Vertreibung und wirtschaftlichen Migration eng miteinander verflochten waren. Die frühen portugiesischen Siedler in Hamburg waren in der Regel nicht unter Lebensgefahr aus Portugal geflüchtet, sondern bereits die Kinder und Enkel von vertriebenen Juden. Nicht wenige unternahmen Geschäftsreisen nach Portugal, obwohl die Inquisition weiterhin eine Gefahr darstellte. Hamburg war für aufstrebende Kaufleute aufgrund der Nähe zu Märkten in Ost- und Nordeuropa interessant, auch wenn es in der Hansestadt mehr Ablehnung und Diskriminierungen gegenüber Juden gab als in Amsterdam.
Ende des 17. Jahrhunderts verstärkte sich der Druck auf die bis dahin florierende sefardische Gemeinde in Hamburg. Der Magistrat verlangte hohe Geldzahlungen und Sondersteuern. Mehrere wohlhabende Familien verließen die Stadt und gingen nach Amsterdam, andere siedelten sich im toleranteren Altona an. Nach 1700 zog eine wachsende Zahl von Aschkenasen nach Hamburg und ins benachbarte Wandsbek. Darunter waren auch Juden, die aufgrund ihres vergleichsweise privilegierten Status formell in Altona registriert blieben. 1811 lebten 6.429 Juden in Hamburg (4,87 Prozent der Stadtbevölkerung), eine im mitteleuropäischen Rahmen beachtliche Zahl.
Im 19. Jahrhundert verzeichneten die jüdischen Gemeinden in Hamburg und Altona ein deutliches Wachstum. Mit der schrittweisen Emanzipation erhielten Juden das Recht auf freie Niederlassung. Für die Mitglieder einer wirtschaftlich marginalisierten Gruppe boten rasch wachsende Städte attraktive Möglichkeiten. Die breite Verbürgerlichung der deutschen Juden Mitte des 19. Jahrhunderts ging in der Regel mit dem Umzug in eine Großstadt einher.
Hamburg war mit Abstand die größte jüdische Gemeinde in Norddeutschland, aber sie expandierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsamer als andere Großstadtgemeinden im Kaiserreich. Der entscheidende Grund lag in der vergleichsweise geringen Zuwanderung. Wie in anderen Gemeinden in Deutschland kamen die meisten Zuwanderer aus dem weiteren Umland der Stadt. In den Provinzen Schleswig und Holstein, in Mecklenburg und im Königreich Hannover (seit 1866 preußische Provinz) lebten im Gegensatz zu Süddeutschland und den östlichen Provinzen von Preußen jedoch nur relativ wenige Juden. 1871 hatte sich die Zahl der Hamburger Juden durch Zuwanderung und natürliches Wachstum von 6.400 (1811) auf fast 13.800 mehr als verdoppelt.
Hinter Bremen entwickelte sich Hamburg nach Ende der napoleonischen Kriege zu einem wichtigen Hafen für Millionen von Amerikamigranten aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa. Von den rund 100.000 Juden, die zwischen 1820 und 1880 aus den deutschen Staaten nach Nordamerika auswanderten, schifften sich vor allem Juden aus der Provinz Posen in Hamburg ein. Juden aus Süddeutschland reisten vor dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in der Regel über Le Havre, Antwerpen oder Rotterdam. In den 1870er-Jahren verlagerte sich die Amerikawanderung aus Mitteleuropa und von den britischen Inseln nach Süd- und Osteuropa. Juden aus Osteuropa bildeten einen nennenswerten Anteil dieser transatlantischen Massenmigration. Zwischen 1880 und 1914 zogen über zwei Millionen Juden aus Ost- und Ostmitteleuropa vor allem in die Vereinigten Staaten. Mehr als die Hälfte der jüdischen Amerikamigranten aus Osteuropa trat die transatlantische Schiffsreise in Hamburg oder Bremen an. Hamburg avancierte zum wichtigsten Hafen für Juden und andere Migranten aus dem russländischen Reich. Während Deutschland eines der wichtigsten Transitländer für osteuropäische Amerikamigranten war, spielte es als Ziel nur eine untergeordnete Rolle. Das Kaiserreich und seine Einzelstaaten, insbesondere Preußen, verfolgten nach 1880 eine restriktive Einwanderungspolitik. Vor allem russische Untertanen wurden während der Transitreise isoliert. Viele Migranten reisten in versiegelten Auswandererzügen von der Ostgrenze zu den Häfen. Der 1899 publizierte Reisebericht der jungen Mary Antin erlaubt einen seltenen Blick einer jüdischen Migrantin hinter die Kulissen der Durchwanderung. Antin schildert und kommentiert die Bahnreise, die Desinfektion in Ruhleben bei Berlin und die mehrtägige Quarantäne im Hamburger Hafen eindrucksvoll.
Die in Hamburg ansässige Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Aktien-Gesellschaft (HAPAG) und der größere Bremer Norddeutsche Lloyd begannen mithilfe von Auswanderungsagenturen in den frühen 1880er-Jahren den Passagiermarkt in Osteuropa systematisch zu erschließen.
Porträt von Albert
Ballin, gezeichnet von Enno Kleinert
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von: bildarchiv.kleinert.de;
Cuxpedia, CC
BY-NC-SA 2.5.
Maßgeblichen Anteil daran hatte einer der erfolgreichsten jüdischen Geschäftsmänner des Kaiserreich, Albert Ballin. Der Sohn eines aus Dänemark zugewanderten Besitzers einer kleinen Auswanderungsagentur baute als Leiter der HAPAG-Passagierabteilung nach 1886 die Stellung der Schifffahrtslinie im lukrativen osteuropäischen Markt aus. Ballin gelang es, Bedenken der amerikanischen Einwanderungsbehörde und der preußischen Regierung über Massen „unerwünschter“ Migranten, die der öffentlichen Hand zur Last fallen würden, auszuräumen. Nach der verheerenden Choleraepidemie, die in den Sommer- und Herbstmonaten 1892 über 8.000 Opfer in Hamburg forderte, machte die öffentliche Meinung und die Behörden in Hamburg und Berlin russische Juden verantwortlich – zu Unrecht. Als Reaktionen auf die Anschuldigungen errichtete die HAPAG zusammen mit dem Norddeutschen Lloyd Mitte der 1890er-Jahre an der preußischen Ostgrenze ein Netz von „Kontrollstationen“, in denen alle Durchwanderer ärztlich untersucht und desinfiziert wurden. Personen, die den amerikanischen Einwanderungsgesetzen nicht entsprachen, weil sie an bestimmten Krankheiten litten, als „geisteskrank“ galten oder nicht in der Lage waren, einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen, wurde die Durchreise verweigert. HAPAG und Lloyd nahmen der preußischen Regierung die Kosten für Kontrollen und für die Repatriierung von Migranten ab. Dafür räumte die Regierung in Berlin HAPAG und Lloyd bis 1914 ein Monopol über die Durchwanderung aus Osteuropa ein. Während sich der Norddeutsche Lloyd auf die Habsburgermonarchie konzentrierte, war Hamburg die Drehscheibe für Migranten aus dem Russländischen Reich.
Das Verhalten von HAPAG stieß bei einigen Zeitgenossen auf scharfe Kritik, wie etwa der Bericht des Vorwärts-Redakteurs Julius Kaliski zeigt, der die enge Zusammenarbeit der preußischen Behörden mit HAPAG und Lloyd scharf kritisierte. Die Aktionäre der HAPAG profitierten von den hohen Preisen für die Schiffspassagen, die einfachen Migranten, darunter viele jüdische Pogromflüchtlinge, mangels Konkurrenz aufbringen mussten. Die Kritik war aber nur zum Teil berechtigt. Die HAPAG bot ihren Passagieren einen relativ hohen Komfort, nicht zuletzt in den 1902 eröffneten Auswandererhallen auf der Veddel, wo es sogar eine kleine Synagoge gab. Nach 1900 konnten jüdische Passagiere auch während der Überfahrt koschere Mahlzeiten erhalten. Inspektoren der amerikanischen Einwanderungsbehörden lobten mehrfach, dass die HAPAG großen Wert auf Hygiene legte. Die Hamburger jüdische Gemeinde kümmerte sich um die jüdischen Durchwanderer. Eine entscheidende Figur war der Lehrer Daniel Wormser (1840–1900), der 1884 den Israelitischen Unterstützungsvereins für Obdachlose gründete. Er kümmerte sich unter anderem um die Bereitstellung von koscherer Verpflegung.
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs kam der Schiffsverkehr von und nach Hamburg fast völlig zum Erliegen. Während des Krieges arbeiteten im Hafen tausende von osteuropäischen Arbeitskräften. Darunter befanden sich auch etwa 100 Juden. Als diese Anfang 1919 abgeschoben werden sollten, konnten die Gemeinden in Hamburg und Altona erfolgreich intervenieren. Im Rückblick war der Erste Weltkrieg ein wichtiger Wendepunkt in der Migrationsgeschichte nach 1800. Einwanderungsrestriktionen in vielen Staaten Europas und in anderen Teilen der Welt erschwerten die Migration. Gleichzeitig „entledigten“ sich Staaten unliebsamer Minderheiten. Der Massenmord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg durch osmanische Truppen gilt heute als der erste moderne Genozid. Während des Krieges wurden Millionen von Menschen, insbesondere Mitglieder unerwünschter Minderheiten, vertrieben. Das traditionelle jüdische Siedlungszentrum in Osteuropa wurde besonders hart getroffen. Aufgrund massiver Zerstörungen und der neuen Grenzziehung in Osteuropa konnten viele Kriegsflüchtlinge und Vertriebene nicht in ihre Heimat zurückkehren. In der Nachkriegsphase verübten polnische und russische Nationalisten systematisch Ausschreitungen gegen Juden. Alleine im Gebiet der heutigen Ukraine und Ostpolens wurden 1918 / 19 mindestens 65.000 Juden ermordet. Wie viele Armenier, die vor osmanischen Truppen flüchten konnten, waren hunderttausende osteuropäische Juden nach 1918 Flüchtlinge ohne Rückkehroption. Viele waren staatenlos, weil sich die Nachfolgestaaten des Russländischen Reiches, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches vielfach weigerten, Mitgliedern unerwünschter Minderheiten die Staatsangehörigkeit zu verleihen.
Nach der deutschen Niederlage sperrten die Alliierten den Hamburger Hafen bis 1921. Mehrere tausend jüdische Durchwanderer aus Osteuropa durchquerten Hamburg in den folgenden Jahren auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, insbesondere in den Jahren 1922–1924. 1925 trat ein äußerst restriktives amerikanisches Einwanderungsgesetz in Kraft, das sich speziell gegen Bürger ost- und südeuropäischer Staaten richtete. Auch andere Staaten wie Großbritannien, Argentinien, Südafrika und Australien erschwerten die Einwanderung. Für jüdische Flüchtlinge in und aus Osteuropa war die Auswanderung nach Übersee daher in der Regel keine Option mehr. In der Weimarer Republik wurden insgesamt mehr ausländische Juden aufgenommen als während des Kaiserreichs vor 1914. Auch in Hamburg siedelten sich nach 1918 Juden aus Osteuropa an, insbesondere aus Polen. Auch hier waren viele waren staatenlos, und nicht alle registrierten sich bei den Behörden. Es gibt für die Zwischenkriegszeit keine verlässlichen Angaben über die Zahl der jüdischen Durchwanderer und den Anteil ausländischer Zuwanderer an der jüdischen Bevölkerung in Hamburg und Altona. Preußen verfolgte nach 1918 eine relativ liberale Politik und bürgerte mehrere tausend jüdische Einwanderer aus Osteuropa ein.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verschärften viele Staaten die Zuwanderungsbestimmungen. Der amerikanische Präsident Herbert Hoover ordnete 1930 an, dass Einwanderungsvisa nur noch im Ausnahmefall erteilt werden sollten. Sein Nachfolger Franklin D. Roosevelt hob den Erlass erst 1935 auf. Obwohl Deutschland im amerikanischen Einwanderungsgesetz eine relativ hohe jährliche Quote von rund 27.000 erhalten hatte, wurde diese erst nach der „nationalsozialistischen Machtergreifung“ von 1933 im Jahr 1939 zum ersten Mal voll ausgeschöpft. Im Jahr 1939 allerdings repräsentierten 50.000 Juden, die vor allem aus Deutschland und Österreich in die Vereinigten Staaten mit einem Visum einwanderten, ganze 50 Prozent der Gesamteinwanderung in diesem Jahr. Der für eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe extrem hohe Anteil gibt einen vagen Eindruck von der Not und Verzweiflung jüdischer Flüchtlinge, sich vor dem NS-Terror in Sicherheit zu bringen.
In den ersten Jahren nach der „Machtergreifung“ emigrierten nur relativ wenige Juden aus Hamburg. Von den frühen Emigranten gingen die meisten entweder in Nachbarländer wie Frankreich und die Niederlande oder nach Palästina, das bis 1935 relativ einfach zu erreichen war. Erst mit dem Novemberpogrom 1938 setzte auf massiven Druck des NS-Terrorapparats eine starke Emigration ein. Bis 1941 verließ die große Mehrheit der Hamburger Juden ihre Heimatstadt.
Gedenktafel in Shanghai für die aus Hamburg emigrierten
Jüdinnen und Juden
Quelle: Foto: Tobias
Brinkmann, CC
BY-SA 3.0.
Die meisten gingen in die Vereinigten Staaten, Großbritannien und nach Frankreich. Die britische Regierung gewährte als Reaktion auf den Novemberpogrom deutsch-jüdischen Kindern Asyl. Auch aus Hamburg wurden jüdische Mädchen und Jungen mit „Kindertransporten“ nach Großbritannien gebracht.
Jüdische Kinder aus Deutschland sind am frühen Morgen in Harwich (Essex) aus
den Niederlanden angekommen, Dezember
1938
Quelle: Bundesarchiv,
Bild 183-1987-0928-501, Wikimedia Commons, CC
BY-SA 3.0 DE.
Insgesamt emigrierten zwischen 1933 und 1945 zwischen 10.000 und 12.000 Juden aus Hamburg.
Die Deportationen aus Hamburg begannen im Oktober 1941. Die ersten Transporte gingen in das Getto Lodz sowie nach Minsk und Riga. Im Juli 1942 wurden allein 2.000 Juden aus Hamburg in drei Transporten nach Auschwitz und Theresienstadt deportiert. Ende Dezember 1942 lebten nur noch 1.805 Juden in der Stadt. 1943 löste die Gestapo die Hamburger jüdische Gemeinde auf. Insgesamt wurden 5.848 Juden aus Hamburg deportiert. Andere Hamburger Juden, die bereits emigriert waren, kamen nach Beginn des Krieges wieder unter deutsche Kontrolle. So wurden 542 Juden aus Hamburg aus den Niederlanden deportiert. Insgesamt sind 8.877 Juden aus Hamburg namentlich bekannt, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Die Gesamtzahl der jüdischen Opfer aus Hamburg wird auf etwa 10.000 geschätzt.
Am 3. Mai 1945 wurde das weitgehend zerstörte Hamburg an britische Truppen übergeben. Bei der Befreiung lebten nur noch wenige Mitglieder der alten Gemeinde in der Stadt, ganz überwiegend jüdische Partner in „privilegierten Mischehen“. 1945 / 46 zogen mehrere hundert jüdische Flüchtlinge und Überlebende nach Hamburg. Es handelte sich vor allem um Juden aus Osteuropa. Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Flüchtlinge. Das American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) finanzierte Ende der 1940er-Jahre ein Kindererholungsheim im ehemaligen Sitz der Familie Warburg auf dem Blankeneser Kösterberg. Die Organisation Rehabilitation through Training (ORT), eine ursprünglich russisch-jüdische Organisation, eröffnete an der Rothenbaumchaussee 1948 eine jüdische Handwerkerschule.
Für die meisten Juden, die nach 1945 nach Hamburg kamen, war die Stadt primär eine Übergangsstation auf dem Weg in eine neue Heimat, insbesondere nach Palästina / Israel und in die Vereinigten Staaten. Die 1944 entstandene Bricha (Flucht)-Organisation unterstützte jüdische Flüchtlinge und Überlebende auf der Reise nach Palästina. Die britischen Mandatsbehörden versuchten die illegale Migration über das Mittelmeer zu verhindern. Der Fall des Schiffes „Exodus“ war besonders symbolisch. Die Briten brachten das Schiff 1947 vor Haifa auf und zwangen die Passagiere nach Deutschland zurückzukehren. Im Hamburger Hafen wurden hunderte von Passagieren zwangsweise von drei britischen Transportschiffen geholt und auf mehrere Unterkünfte in Hamburg und der weiteren Umgebung verteilt, darunter das streng bewachte und hermetisch abgeschlossene Lager in Pöppendorf bei Lübeck. Die weltweiten Proteste beeinflussten die britische Entscheidung, das Palästina-Mandat aufzugeben.
Gedenktafel zur Erinnerung an die Passagiere der „Exodus“, Hamburg-St. Pauli,
Landungsbrücken
Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Ajepbah, CC BY-SA
3.0.
1947 hatte die Hamburger jüdische Gemeinde 1.268 Mitglieder, 1952 waren es 1.044. Die Mitgliederzahl blieb bis in die 1980er-Jahre konstant bei 1.000 bis 1.500 Personen. Diese stabilen Zahlen verbergen jedoch eine hohe Fluktuation. Die Neuzuwanderer kamen in kleinen Gruppen aus Ungarn sowie Osteuropa und als eine Hamburger Besonderheit auch aus dem Iran. Neben der Zuwanderung gab es auch eine stetige Abwanderung von Gemeindemitgliedern vor allem nach Israel und in die USA.
Vor dem Beginn der Migration aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten Anfang der 1990er-Jahre war Hamburg die fünftgrößte jüdische Gemeinde der alten Bundesrepublik. Die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 brachte für die jüdischen Gemeinden in Deutschland tiefgreifende Veränderungen. Die Konferenz der Innenminister der Bundesländer übernahm im Januar 1991 einen Beschluss der letzten DDR-Regierung, Juden aus der Sowjetunion als „Kontingentflüchtlinge“ aufzunehmen. Der Begriff Kontingent bezieht sich auf die Aufteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Bundesländer. Dieser Beschluss blieb auch nach der Auflösung der Sowjetunion gültig und bezog sich nun auf die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Das starke Wachstum der Hamburger jüdischen Gemeinde war ein direktes Ergebnis dieser Zuwanderung. Von 1.390 Mitgliedern im Jahr 1989 wuchs die Gemeinde auf über 5.000 im Jahr 2004. 2.000 der Gemeindemitglieder lebten 2004 in Schleswig-Holstein, wo es vor 1990 keine nennenswerte jüdische Bevölkerung gab. Die Hamburger Gemeinde unterstützte daher die Bildung neuer Gemeinden unter anderem in Lübeck. Im Jahr 2005 verschärfte die Bundesregierung die Bedingungen für den Zuzug von jüdischen Kontingentflüchtlingen und deutschstämmigen Spätaussiedlern und die Zahl der Zuwanderer ging deutlich zurück.
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Tobias Brinkmann (Thema: Migration), Dr. phil., ist Malvin and Lea Bank Associate Professor für jüdische Studien und Geschichte im Fachbereich Geschichte der Penn State University. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Migrationsgeschichte, insbesondere jüdische Migration von Mittel- und Osteuropa nach Nordamerika.
Tobias Brinkmann, Migration, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-219.de.v1> [07.12.2024].