Der Rundfunk war Anfang der 1930er-Jahre noch ein relativ neues und teures Medium, das in Deutschland erst seit einem Jahrzehnt existierte und in den meisten Wohnungen noch nicht zum Inventar gehörte. 1933 verfügte erst ein Viertel aller Haushalte über ein Radiogerät. Die Nationalsozialisten erkannten früh das politische Potential des Rundfunks als Instrument politischer Indoktrination. Schon in den Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gelang es den neuen Machthabern, die Rundfunkanstalten weitgehend zu monopolisieren. Den Sieg der Rechtskoalition bei den Reichstagswahlen im März 1933 führte Propagandaminister Goebbels später zu „60, 70, 80 Prozent“ auf den Einsatz des Radios im Wahlkampf zurück. Auch auf lokaler und regionaler Ebene machte die NSDAP schon bald ausgiebig Gebrauch von dem neuen Medium, wie die hier in Auszügen publizierte Rede des Hamburger Gauleiters Kaufmann zeigt.
[00:16-00:50]Karl Kaufmann gehörte zu den jüngeren Spitzenfunktionären der NSDAP. Als Angehöriger der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“ war er Teil jener Alterskohorte, die zu jung gewesen war, um als Frontkämpfer am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, aber alt genug, um den Krieg – und insbesondere das Kriegsende – als grundlegende biografische Zäsur wahrzunehmen. Während Kaufmann nach dem Ende seiner Schulzeit beruflich nirgendwo richtig Fuß fassen konnte, gelang ihm in der damals noch relativ unbedeutenden NSDAP eine rasche politische Karriere. 1929 ernannte Hitler den gerade 28-jährigen Nachwuchspolitiker zum Gauleiter der NSDAP in Hamburg. Zwischen 1933 und 1939 übernahm Kaufmann außerdem eine Reihe staatlicher Ämter: Als Reichsstatthalter (seit 1933), Chef der hamburgischen Landesregierung (seit 1936) und Reichsverteidigungskommissar (seit 1939) war er der bei weitem einflussreichste Hamburger Politiker in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur.
In der Rundfunkansprache versucht Kaufmann, die antijüdische Boykottaktion der NSDAP am 1. April zu rechtfertigen. Ausgangspunkt dieser Aktion war die „Greuelpropaganda im Ausland“ (Goebbels) oder, anders formuliert, die kritische Berichterstattung ausländischer Medien über die Welle der Gewalt, mit der die Nationalsozialisten ihre Herrschaft festigten und ihre Kritiker einschüchterten. Offiziell hatte die Aktion das Ziel, mit einem groß angelegten Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland ein Ende der angeblichen „Greuelpropaganda“ zu erzwingen.
[03:58-06:17]Um die ausländischen Medien anprangern zu können, malt der Gauleiter das Bild eines friedlichen Deutschlands, in dem keinem Juden „ein Haar gekrümmt“ und kein sozialdemokratischer „Hetzer“ zur Rechenschaft gezogen worden sei. Richtig daran ist, dass in dieser ersten Phase nationalsozialistischer Gewaltausübung weder die Sozialdemokraten noch die Juden, sondern die Kommunisten das bevorzugte Angriffsziel der SA-Stürme bildeten. Gleichwohl kam es auch im Frühjahr 1933 bereits zu zahlreichen Gewalttaten gegen andere Gegner der NSDAP – so beispielsweise in Kiel, wo am 12. März der Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel ermordet wurde, der den Nationalsozialisten als Jude und als Sozialdemokrat gleich in doppelter Weise verhasst war.
[10:32-12:47]Ein zweites Leitmotiv der Rede bildet Kaufmanns Forderung nach „Gleichberechtigung“ der Deutschen gegenüber den Juden, wobei die deutschen Staatsbürger jüdischer Konfession wie selbstverständlich nicht zu den Deutschen gerechnet werden. Mit taktischem Geschick wird das aggressive Vorgehen der Nationalsozialisten gegen das „Gastvolk der Juden“ dadurch zu einem Akt der Selbstverteidigung gegen eine jüdische Übermacht umgedeutet. Um die Forderung nach „Gleichberechtigung“ plausibel zu machen, verweist Kaufmann vor allem auf die Rolle der Juden in der Ärzteschaft und in der Justiz, das „in keinem Verhältnis zur Zahl der jüdischen Bevölkerung in Deutschland“ stehe. In diesen Berufen waren Juden traditionell stark vertreten und – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – in der Tat überrepräsentiert. Gleichwohl operiert der Hamburger Gauleiter in seiner Rede mit falschen Zahlen. So waren keineswegs 43 Prozent aller Hamburger Rechtsanwälte Juden, wie Kaufmann behauptet. Tatsächlich gehörten zu diesem Zeitpunkt 134 von 646 Hamburger Anwälten der jüdischen Gemeinde an (21 Prozent). Selbst wenn man jene Rechtsanwälte, die ganz oder teilweise jüdischer Herkunft waren (getaufte Juden und „Mischlinge“), mit einbezieht, lag der Anteil der sogenannten „Nichtarier“ bei 32 Prozent und damit immer noch deutlich unter den Angaben des Hamburger Gauleiters.
[13:24-17:10]Kaufmanns Polemik gegen die Überrepräsentation der Juden in einigen Berufen und Wirtschaftszweigen knüpfte an weit verbreitete Existenzängste im akademischen Nachwuchs und im gewerblichen Mittelstand an. Anders als die Kampagne gegen die angebliche „Greuelpropaganda“ appellierte diese Argumentation an materielle Interessen und versprach eine Überwindung bestehender Probleme durch die Ausschaltung jüdischer Konkurrenz. Hier zeichnete sich bereits die massenhafte Vertreibung von Juden aus den akademischen Berufen ab, die wenige Tage später mit den antisemitischen Aprilgesetzen begann.
Am 1.4.1933 postierten sich SA-Männer vor jüdischen Geschäften, Anwaltsbüros und Arztpraxen, um potentielle Kunden, Klienten oder Patienten abzuschrecken. Nicht selten wurden Schaufensterscheiben mit antisemitischen Parolen beschmiert; vereinzelt kam es zu Gewalttätigkeiten. Die Betroffenen empfanden den Boykott oft als traumatische Erfahrung, weil sie erstmals öffentlich von der Mehrheitsgesellschaft abgesondert wurden.
Viele jüdische Geschäftsleute resignierten angesichts der abschreckenden Wirkung der SA-Posten auf potentielle Kunden und schlossen ihre Läden im Laufe des Tages. Andere fühlten sich dagegen durch demonstrative Solidaritätsbekundungen ihrer Patienten oder Kunden eher ermutigt. Zu ihnen gehörte die Wandsbeker Ärztin Henriette Necheles-Magnus, die später über diesen Tag berichtete: „Die Patienten kamen und kamen mit Blumen, mit kleinen Gaben: ‚Wir wollen Ihnen zeigen, was wir von dieser Politik halten.‘ ‚Ich bin nicht krank, Doktor, ich komme, um zu sehen, wie es Ihnen geht.‘ […] Meiner Nachbarin auf der anderen Seite der Straße ging es genau so, sie sagte, sie hätte noch nie so viel einzelne Eier verkauft als an diesem Tag, da die armen Leute nicht mehr Geld als zu einem Ei übrig hatten und doch irgendwie ihr das Gefühl des Zusammenhanges zeigen wollten […] Im ganzen war der Boykott unpopulär“.
Offiziell endete der Boykott nach einem Tag, doch das war nur die halbe Wahrheit.
Tatsächlich zogen NSDAP
und SA am 2. April lediglich die uniformierten Posten von den
jüdischen Geschäften ab. Gleichzeitig setzten zahlreiche Ortsgruppen der
NSDAP die
Boykottaktion im Stillen fort. Parteimitglieder, die in jüdischen Geschäften
einkauften oder in Restaurants mit „nichtarischem“ Besitzer verkehrten, mussten
mit einem Parteigerichtsverfahren rechnen. Darüber hinaus waren vor allem in der
Provinz auch „Volksgenossen“, die nicht der NSDAP angehörten, erheblichem
Druck ausgesetzt, jüdische Geschäfte zu meiden. Wer sich diesem Druck nicht
beugte, wurde in zahllosen Fällen öffentlich angeprangert.
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Michael Grüttner, Prof. Dr. phil., *1953, ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche und europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte des Nationalsozialismus und Universitätsgeschichte.
Michael Grüttner, Radioaufruf zum antijüdischen Boykott, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-99.de.v1> [06.12.2024].