In der 1946 veröffentlichten Mappe mit Lithographien der ungarisch-jüdischen Künstlerin Ágnes Lukács unter dem Titel „Auschwitz Nöi Tábor“ (Das Frauenlager Auschwitz) befindet sich auch die Darstellung einer eng zusammenstehenden Frauengruppe, die einander umfasst und sich so zu wärmen oder trösten scheint. Die außen Stehenden versuchen dabei, so dicht wie möglich an die anderen heranzurücken. Der einem Beilagenblatt der Ausgabe entnommene Titel „Összebújva“ (Eng beieinander) unterstreicht die Aussage der Zeichnung. Die Zeichnung gehört zu einem Zyklus von insgesamt 24 Lithographien. In diesem Zyklus greift Ágnes Lukács mehrfach auf das Motiv der Gruppe wie auch das Mittel des Ausschnitts zurück und verdichtet so die visuellen Erzählungen von Zwangsarbeit, Selektion, Hunger, Gewalt und Tod. Ihre im Herbst 1945 entstandenen Vorzeichnungen gingen verloren, ebenso wie die Steine, auf die sie zeichnete.
Auch wenn Ágnes Lukács die Zeichnung Auschwitz zugeordnet hat, gehört sie zu den häufig reproduzierten Zeichnungen, wenn es um eine Visualisierung der Geschichte der weiblichen Häftlinge im Außenlagersystem des KZ Neuengamme bei Hamburg geht. Sowohl Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstättenpädagogik als auch Besucherinnen und Besuchern dient das Bild zur Auseinandersetzung mit den Haft- und Überlebensbedingungen weiblicher KZ-Häftlinge, aber auch mit Fragen nach Solidarität und Freundschaft unter Gewaltbedingungen.
Die mehrfach ausgezeichnete Künstlerin Ágnes Lukács wuchs in einer akkulturierten jüdischen Familie in Budapest auf. Noch während des Zweiten Weltkrieges studierte sie an der Akademie der Bildenden Künste in Budapest und schloss ihr Studium mit einem Diplom im Frühjahr 1944 ab. Kurz darauf wurde sie verhaftet und nach mehreren Haftstationen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, wo sie am 9.7.1944 eintraf. Von dort kam sie Mitte Dezember 1944 in das Außenlager Reichenbach des KZ Groß-Rosen und gehörte zu der Gruppe weiblicher Häftlinge, die nach dessen Auflösung am 18.2.1945 in das Frauen-Außenlager Porta Westfalica-Hausberge des KZ Neuengamme überstellt wurden. Anfang April 1945 kam die damals 24-jährige mit den anderen Frauen, nach einer wochenlangen Odyssee durch verschiedene Außenlager Neuengammes, in das Frauen-Außenlager Salzwedel (Altmark). Dort wurde sie am 14.4.1945 von US-amerikanischen Truppen befreit. Nach ungefähr drei Monaten kehrte Ágnes Lukács nach Budapest zurück, wo sie auf ihre Eltern traf, die ebenfalls überlebt hatten. Noch 1945 trat sie in die Kommunistische Partei ein und engagierte sich in der Lehrergewerkschaft. Schon vor ihrer Verhaftung hatte sie Kontakt zur Arbeiterbewegung gehabt, wie sie berichtete. Auf Anregung der sozialistisch-zionistischen Partei Ichud veröffentliche Ágnes Lukács kurz nach ihrer Rückkehr nach Budapest einige ihre Zeichnungen im Eigenverlag der Partei und fügte Titel und Kommentierungen hinzu. Mit ihrer Wahl des Veröffentlichungsortes der Zeichnungen ordnete sie sich den frühen Bemühungen jüdischer Organisationen zur Aufarbeitung des Holocaust zu, auch wenn sie sich – wie sie rückblickend formulierte – selbst nie als Zionistin sah.
Sieben Jahre später wurde Ágnes Lukács – nicht zuletzt aufgrund der antizionistischen Stimmung und Politik in Ungarn – zunächst von der Lehrergewerkschaft an die Studienabteilung der Kunsthochschule versetzt und drei Jahre später dann an ein Gymnasium, wo sie bis zu ihrem Ruhestand 1977 als Kunstlehrerin und später Schulleiterin arbeitete. Parallel malte und zeichnete sie bis in die 2000er-Jahre weiter. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. Heute befinden sich einige ihrer Bilder im Ungarischen Jüdischen Museum und Archiv in Budapest, wo Ágnes Lukács zuletzt zurückgezogen lebte.
Die serielle Grafik oder narrative Bildfolgen waren ein von NS-Verfolgten und ehemaligen KZ-Häftlingen oftmals gewähltes Medium, das facettenreiche Darstellungen mit Hinweisen auf Details und individuelle Erfahrungen erlaubte. Bereits kurz nach Kriegsende veröffentlichten Überlebende ihre Bildfolgen durch Unterstützung unterschiedlicher Organisationen in Buch- oder Mappenform, seltener wurden diese in Ausstellungen gezeigt. Ágnes Lukács bezieht sich in ihren Arbeiten auf die sozial-realistische Kunst der Vorkriegszeit. Eine ihrer Vertreterinnen, die Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz veröffentlichte den Holzschnitt-Zyklus „Krieg“, darunter 1921 / 22 das Blatt Nr. 6 mit dem Titel „Die Mütter“.
Mit der Zeichnung „Összebújva“ greift Lukács kompositorisch auf die von Kollwitz als pazifistischer Ausdruck verstandene Bildformel der eng umschlungenen, sich gegenseitig unterstützenden Frauen zurück, ohne jedoch explizit Kinder darzustellen. Allein die Figur rechts im Bild kann mit ihrem etwas vorstehenden Bauch, vor den sie ihre verschränkten Händen hält, als Schwangere gelesen werden.
Ágnes Lukács verweist mit den kahlen Köpfen auf den von vielen weiblichen KZ-Überlebenden betonten Verlust ihrer Weiblichkeit, einen gewaltvollen Akt der Entindividualisierung dem die weiblichen wie auch die männlichen Inhaftierten nicht nur nach der Einlieferung in die Lager ausgesetzt waren. Gleichzeitig gestaltet sie die Kittel der Frauen mit Punkten, Strichen und kleinen Mustern verschieden und trotz der gleichförmigen, kahlen Köpfe deutet Lukács mit wenigen Linien unterschiedliche Gesichtszüge an und betont so das Individuelle der Dargestellten. An den Füßen tragen zudem einige der Dargestellten übergroße Schnürschuhe oder Holzpantinen, die ihre mageren Beine betonen. Der skizzierte Stacheldraht im Hintergrund, von der Kunsthistorikerin Ziva Amishai-Maisels auch als ein „Primary Holocaust Symbol“ kategorisiert, verweist auf den Kontext der Darstellung: das Lager. Die Zeichnung thematisiert des Weiteren Solidarität und Gruppenbildung. Das Motiv von Nähe der sich umarmenden, eng beieinander stehenden Figuren wiederholte und variierte Ágnes Lukács auch später immer wieder in ihren Arbeiten und zeigt so ihre Perspektive auf Themen wie gegenseitige Unterstützung im Lager, die Erfahrung von Gewalt und das Ringen um Selbstbehauptung und Individualität.
Die Zeichnung von Ágnes Lukács nun als visuelles Narrativ einer spezifisch weiblichen Erfahrung oder der oftmals als spezifisch weiblichen Strategie des Überlebens bezeichneten Gruppenbildung sogenannter Ersatz- oder Lagerfamilien zu deuten, wäre naheliegend. In Interviews und Gesprächen thematisierte Ágnes Lukács Freundschaft und Nähe, die sie im Lager erfahren hatte. Allerdings verwies sie immer gezielt auf einzelne andere Mithäftlinge, mit denen sie befreundet gewesen sei bzw. die sich gegenseitig unterstützten, eine konkrete Gruppe von Frauen, die sich gegenseitig unterstützte, nannte sie nicht. Die neuere KZ- und Holocaust-Forschung hat darauf hingewiesen, dass ein genauer Blick auf die unterschiedlichen Lager und ihre jeweiligen strukturellen Rahmenbedingungen wie auch die damit verbundenen subjektiven Erfahrungen notwendig ist, um die Bedingungen und Möglichkeiten von sozialen Beziehungen und solidarischem Gruppenverhalten zu erklären. Diese unterschieden sich von Lager zu Lager, sowohl in Männer- als auch Frauenlagern.
Die Kunsthistorikerin Pnina Rosenberg hat für Porträtzeichnungen aus Auschwitz und dem Ghetto Theresienstadt festgestellt, dass besonders weibliche Häftlinge in ihren Zeichnungen oftmals die „Verschönerung“ der von ihnen Porträtierten als Strategie wählten, um einen Kontrapunkt zur alltäglichen Gewalt und Lebensbedrohung zu setzen. Dagegen sind nur wenige Zeichnungen aus der Lagerzeit überliefert, die das Motiv des Haare-Scherens oder der bereits geschorenen Köpfe aufgreifen. Diese Motive finden sich vielmehr – in unterschiedlicher Ausgestaltung – in den künstlerischen Bildproduktionen weiblicher wie auch männlicher Überlebender unmittelbar nach Kriegsende, so beispielsweise in den Zeichnungen und Grafikzyklen von ehemaligen Häftlingen der Konzentrationslager Ravensbrück und Neuengamme, Violette Lecoq, France Audoul oder auch Hans-Peter Sørensen. Diese Beobachtung macht deutlich, dass eine differenzierte Betrachtung der visuellen Zeugnisse, ihrer Entstehungsbedingungen und –kontexte notwendig ist, um diesen Bildern hinsichtlich ihrer Ästhetik, Materialität wie auch der damit verbundenen sozialen Praktiken gerecht werden zu können. Dies gilt auch für die Arbeiten von Ágnes Lukács.
Wie auch andere Künstlerinnen und Zeichner versuchte sie nach ihrer Befreiung aus den Lagern eine – individuelle – Darstellungsweise zu finden, griff traditionelle Bildmotive auf und entwickelte neue symbolische Bildzeichen. Ihre Zeichnung „Összebújva“ verdeutlicht dies auf eindrückliche Weise. Aber erst im Kontext des gesamten Bildzyklus eröffnet sich die Vielschichtigkeit der Narrative und die Differenziertheit von Lukács‘ Perspektive auf ihre Erfahrungen im Lager.
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Christiane Heß studierte Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Hamburg und Salamanca/Spanien. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/ Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Ihre Dissertation zu Zeichnungen aus den NS-Konzentrationslagern hat sie 2017 an der Universität Bielefeld abgeschlossen.
Christiane Heß, Gezeichnete Erfahrung? Über das Motiv der Nähe im Bilderzyklus von Ágnes Lukács, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 21.09.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-230.de.v1> [21.12.2024].