Jüdische Kultur spiegelt die Erfahrungswelt von Juden in Hamburg wider. Dabei können Juden die Schöpfer, Auftraggeber oder Rezipienten des jeweiligen kulturellen Produkts sein. Oft ist es schwierig, jüdische Kultur von christlicher Kultur scharf zu trennen. Auf dem Friedhof der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde etwa verweisen die prunkvollen Gräber auf jüdische Überlieferungen, nehmen aber auch häufig Bezug zur christlichen Ikonografie. Weil es im 17. Jahrhundert keine jüdische Druckerei in Hamburg gab, erhielten sowohl jüdische Drucker aus den Niederlanden als auch christliche aus Hamburg Aufträge von sefardischen Gemeindemitgliedern. Auch im Synagogenbau sind jüdische und nichtjüdische Elemente sichtbar. Das in Hamburg sehr aktive Logenwesen war bestrebt, jüdische Kultur zu fördern, tat dies aber unter bürgerlichen Vorzeichen. Die Zusammenarbeit zumeist jüdischer Wissenschaftler im so genannten Warburg-Kreis galt vor allem einer christlich geprägten Kunstgeschichte. Schließlich gehört die Thematisierung und Vervielfältigung jüdischer Kultur, ohne dass daran Juden mitwirken müssen, seit den 1980er-Jahren zum Bild Hamburgs und vieler anderer deutscher Großstädte.
Nach allgemeiner Auffassung hängen Kunst und Kultur zusammen. Das Rothkobild und die Schönbergaufnahme gehören demzufolge zur Gesamtheit der geistigen, künstlerischen und gestalterischen Leistungen des 20. Jahrhunderts. Die Geschichtswissenschaft hat jedoch bereits seit einiger Zeit diese Vorstellung relativiert. Der Begriff der Kultur wurde erweitert, um auch das „Gewöhnliche“ miteinzubeziehen. Historikerinnen und Historiker nehmen mittlerweile nicht nur das Wahre, Schöne oder Gute in den Blick, sondern, darin ganz demokratisch, die gesamte menschliche Lebenswelt als Produkt selbstgestrickter Bedeutungsmuster. Ein solcher Zugang macht es allerdings schwierig, zwischen Bereichen wie Wissenschaft und Erziehung, Freizeit und Sport oder Gedenken und Erinnerung (ganz zu schweigen von der Kunst) zu unterscheiden. Somit handelt der Abschnitt Jüdische Kunst und Kultur von Themen, die seit jeher das Verständnis dieser Bereiche prägen: Architektur, Literatur, Musik, bildende Kunst und von deren jeweiligen Vertretern, Vermittlern und Vereinigungen. Daher werden diese Themen nicht nach dem Wahren, Schönen oder Guten befragt, sondern sollen das jüdische Leben in Hamburg jenseits strapazierter Gegenüberstellungen (Elite versus Massen, Isolation versus Assimilation, Einheit versus Auflösung) beleuchten.
Ist man beim Kulturbegriff aus pragmatischen Gründen auf gängige Vorstellungen angewiesen, muss man in anderer Hinsicht darauf verzichten. Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass es im Judentum ein Bilderverbot gäbe. Daraus wurde ein äußerst gespaltenes Verhältnis von Juden zur Kunst abgeleitet. Diese Sicht beruhte jedoch auf einer Verwechslung biblischer Textstellen mit einem angeblich allgemeinen Ausdruck jüdischer Existenz. Zum einen bestand für Juden nie ein generelles Verbot von visuell gestalteten Schöpfungen, zum anderen konnten sie sich nach der Aufklärung in den Künsten frei entfalten. Ist es für den Zeitraum vor der Emanzipation einfacher, jüdische Kunst anhand bestimmter Motive zu identifizieren, ist das für die nachfolgenden Jahrhunderte nicht der Fall. So verweist ein vom Katholiken Claude Monet gemalter Heuhaufen auf dasselbe Sujet wie ein vom Juden Camille Pissarro abgebildeter Heuhaufen: Die Themenstellung sagt nichts darüber aus, ob Pissarros Werk jüdisch ist. Wird das Gemälde dennoch zum jüdischen Objekt, weil der Künstler jüdisch war? Auch diese Frage ist zu verneinen. Jüdische Kunst spiegelt deshalb im weitesten Sinn die Erfahrungswelt von Juden in Hamburg ebenso wie andernorts wider. Dabei können Juden die Schöpfer, Auftraggeber, oder Rezipienten des jeweiligen Werks gewesen sein.
Die Geschichte der Hamburger Juden beginnt Ende des 16. Jahrhunderts, als von der Iberischen Halbinsel vertriebene sefardische Juden in die Stadt flüchteten und sich dort niederlassen durften. Die so genannten „Portugiesen“, zu denen erfolgreiche Bankiers, Ärzte und Juwelenhändler zählten, pflegten Verbindungen zu anderen sefardischen Gemeinden in Europa und Amerika. Ihre letzte Bleibe fanden viele auf dem Friedhof der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde. Dort kann man noch heute die oft prunkvollen Gräber betrachten, die Zeugnis darüber ablegen, wie sefardische Juden sich selber sehen wollten: als Teilnehmer einer wieder entdeckten (weil durch ihre vermeintliche Konversion unterbrochenen) jüdischen Tradition, als Mitglieder ehrbarer Berufszweige und als Angehörige bedeutender Familien. Die kunstvollen Inschriften in hebräischer, portugiesischer und spanischer Sprache belegen diese reiche Geschichte. Die steinernen Verzierungen in Form von Löwen und Kronen, Engeln und Vögeln, Totenschädeln und Stundengläsern offenbaren gleichwohl mehr: Jenseits biblischer Szenen, die auf jüdische Überlieferungen verweisen, erkennen wir häufig Bezüge zur christlichen Ikonografie (etwa dem Memento mori-Motiv, das der mittelalterlichen Mönchliturgie entstammt) oder zu bestimmten Werten der einstmaligen katholischen Heimat (etwa persönliche Ehre oder Spiritualität). Darüber hinaus waren die Steinmetze und Bildhauer der Grabsteine keine Juden. Das auf dem Friedhof zu bestaunende Kunsthandwerk ist also das Produkt verschiedener Bräuche und Konventionen.
Zeichnungen biblischer Szenen auf sefardischen Gräbern des Friedhofs Königstraße in
Hamburg-Altona, Mary Fink
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, FRI00051,
aus: Max Grunwald, Portugiesengräber auf deutscher Erde. Beiträge zur
Kultur- und Kunstgeschichte, Hamburg 1902, S. 31 und S. 62.
Ähnliches lässt sich für den Buchdruck feststellen. Im 16. Jahrhundert erschienen Hunderte von hebräischen Büchern, davon 17 in Hamburg, das damit zu den wichtigen Druckorten Nordeuropas gehörte. Die Autoren dieser Bücher waren jedoch christliche Hebraisten. Zwischen 1600 und 1638 kamen weitere 18 Bücher hinzu, darunter auch das Werk eines jüdischen Schriftstellers, Binjamin Mussaphia. Weil es im 17. Jahrhundert keine jüdische Druckerei in Hamburg gab, erhielten sowohl jüdische Drucker aus den Niederlanden als auch christliche aus Hamburg Aufträge von sefardischen Gemeindemitgliedern, die Predigtsammlungen oder Grammatiken veröffentlichen wollten. Die Zusammenarbeit zwischen jüdischen Gelehrten und christlichen Druckereien erinnert nicht von ungefähr an mittelalterliche jüdische Manuskripte, deren reich verzierte Illuminationen gestalterische Elemente der Gotik wie den goldenen Hintergrund oder typische geometrische Formen aufnahmen. Oft zeichneten christliche Miniaturisten für diese Illustrationen verantwortlich. Dessen ungeachtet gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen jüdischen Buchkunst auf der einen Seite und späteren jüdischen Kunstformen auf der anderen: War erstere wegen des Inhalts, der Sprache, des Motivs oder der Auftraggeber erkennbar jüdisch, galt das nicht unbedingt für spätere Werke.
Einen direkten jüdischen Bezug gab es selbstredend beim Synagogenbau. Die Sefarden behalfen sich zunächst mit heimlichen Beträumen, wollten sie dem Senat gegenüber ihre jüdische Herkunft doch weiterhin verschweigen. Erst im Jahr 1771 errichteten sie eine eigene Synagoge. In der aschkenasischen Nachbargemeinde Altona war bereits 1682 ein Gotteshaus entstanden. Die Ausrichtung des Pults für die Toralesung, des Toraschreins und des Gestühls entsprach den jeweiligen Traditionen sefardischer und aschkenasischer Gemeinden. Wie anderswo in Europa üblich, befanden sich die Gebäude in Hinterhöfen, um nicht mit der christlichen Mehrheitskonfession in „Konkurrenz“ zu treten. Ein Hamburger Gesetz aus dem Jahr 1710 formalisierte diese gezielte Unsichtbarmachung jüdischer Religiosität.
Auf einen spezifischen Synagogenbaustil konnte man sich indes nicht berufen, denn den hatte es nie gegeben. Wie im Fall des Buchdrucks nahmen fast ausnahmslos Nichtjuden Aufträge entgegen. Im 19. Jahrhundert, als Hamburg ein Zentrum des Reformjudentums wurde, passte sich die Architektur dem neuen Ritus an. Im neuen Israelitischen Tempel fand sich das Predigtpult (Bima) nun an der Ostwand wieder und erinnerte stark an eine protestantische Kanzel. Außerdem installierte man eine Empore für die Orgel und den Chor und die Vergitterung der Frauengalerie verschwand. Auch im Synagogenbau sind jüdische und nichtjüdische Elementen sichtbar. Religiös-inhaltliche Vorgaben, wie beispielsweise der Toraschrein, blieben naturgemäß bestehen, ästhetische Präferenzen spiegelten den jeweiligen Zeitgeschmack wider. Und wie bei der Friedhofsgestaltung kam es zum Zusammenspiel zwischen jüdischen Interessen, lokalen Bauvorschriften und architektonischen Strömungen. Die englische Gotik und die Schinkelschule standen beim Tempelbau Pate; die Synagoge des jüdischen Krankenhauses am Wall orientierte sich an Vorbildern der Renaissance und Romantik; der Grundriss der Synagoge auf den Kohlhöfen folgte dem Vorbild byzantinischer Kirchen, während sich die Fassade an die oberitalienische Architektur anlehnte. Im 20. Jahrhundert wiederholte sich dieses Zusammenspiel, diesmal auch unter manchmal anderen Vorzeichen: Einige vom Jugendstil und Neuen Bauen beeinflusste Entwürfe stammten von jüdischen Architekten wie Semmy Engel, Felix Ascher und Robert Friedmann. Wenn in diesem Zusammenhang von einer Hamburger Besonderheit zu berichten ist, dann allenfalls von der späten Entscheidung für einen orientalischen Baustil in der 1895 eingeweihten Neuen Dammtor Synagoge am Bornplatz. Im übrigen Land (mit der Ausnahme Kölns) hatten sich die Gemeinden von orientalisierenden Anklängen in der Synagogenarchitektur verabschiedet, um damit den Vorwurf zu entkräften, Juden gehörten nicht zu Deutschland. Ob sich die Juden Hamburgs trotz des sich zu dieser Zeit „wissenschaftlich“ gebärdenden Antisemitismus sicherer fühlten als jüdische Gemeinden im restlichen Reich, geht aus einer solchen Anomalie nicht hervor.
Je weiter die Integration in die Mehrheitsgesellschaft fortschritt, desto schwieriger ist es für die heutige Geschichtswissenschaft, eine dezidiert jüdische Kunst oder Kultur auszumachen. Jüdische Vereine bilden da noch eine Ausnahme. Das in Hamburg sehr aktive Logenwesen war bestrebt, jüdische Kultur zu fördern. So entstand 1898 auf Betreiben der Henry Jones-Loge die Gesellschaft für jüdische Volkskunde, deren Museum, Bibliothek und Archiv die Loge bald beherbergte. Vorträge und Ausstellungen bereicherten nicht nur das jüdische Kulturleben, sondern sollten auch ein selbstbewusstes Judentum repräsentieren. Ähnliche Motive kann auch den Gründern des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur unterstellt werden. Der nationale Verband hatte um diese Zeit 180 Ortsvereine mit ca. 15.000 Mitgliedern. Angesichts einer zunehmenden Judenfeindschaft ging es letzteren nicht zuletzt darum, die jüdische Selbstachtung zu stärken. Zudem zählten die Gesellschaft für jüdische Volkskunde und der Vereins für jüdische Geschichte und Kultur zu einem immer dichter werdenden Netz von jüdischen und nichtjüdischen Vereinigungen. Plurale Interessen innerhalb der verschiedenen Bevölkerungsgruppen führten auch in Hamburg zu Experimenten mit neuen Organisationsformen.
Im „Dritten Reich“ gehörten solche Experimente der Vergangenheit an. Die Nationalsozialisten schalteten „gleich“, was nicht mit ihrem Alleinvertretungsanspruch zu vereinbaren war. Als das Regime jüdische Künstler aus dem Kulturbetrieb ausschloss, reagierten die vom Berufsverbot Betroffenen mit der landesweiten Gründung des Kulturbunds deutscher Juden, der 1935 auf Geheiß der Machthaber in „Jüdischer Kulturbund“ umbenannt wurde. Aus dieser Sprachregelung geht hervor, dass für die meisten jüdischen Künstler das Jahr 1933 keineswegs das Ende ihrer deutschen Identität einläutete. Vielmehr sahen sich die nunmehr arbeitslosen Sänger, Schauspieler, Musiker oder Tänzer gezwungen, nach neuen Verdienstmöglichkeiten zu suchen. In Hamburg entstand im Mai 1933 eine Gemeinschaft Jüdischer Künstler, aus der wenig später die Jüdische Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft hervorging. Von August 1935 bis zu seiner Schließung Anfang 1939 firmierte dieser Zusammenschluss als Jüdischer Kulturbund Hamburg. Wurden anfangs Klassiker wie Lessings „Nathan der Weise“, Beethovens „Egmont-Ouvertüre“ oder Schuberts „Unvollendete“ Symphonie auf die Bühne gebracht, untersagte die Gestapo nach und nach die Aufführung von Werken „deutscher“ Autoren und Komponisten. Trotzdem beschränkten sich die in Hamburg verbliebenen Kulturschaffenden nicht auf eine vermeintlich jüdische Kunst. Von den im ganzen Reich aufgeführten Stücken des Kulturbundes waren lediglich ein Drittel von Juden geschrieben worden, und von den 27 Stücken jüdischer Autoren behandelten weniger als die Hälfte explizit „jüdische“ Stoffe. Das Verhältnis zum deutsch-jüdischen bzw. europäisch-jüdischen Erbe blieb also trotz aller nationalsozialistischen Schikanen komplex.
Zur jüdischen Kultur um 1900 gehören selbstverständlich Juden in der allgemeinen deutschen Kultur dazu, jedoch nicht im Sinne einer problematischen „Beitragsgeschichte“, wonach Juden eine „Bereicherung“ darstellen, so als sei die eigentliche Kultur immer eine nichtjüdische, die hin und wieder von jüdischen Geistesblitzen profitiere. Sondern eher nach soziologischem Verständnis, dass einige Juden genügend integriert und vor allem künstlerisch ambitioniert gewesen waren, um in der Kulturwelt an vorderster Stelle mitzuwirken. Einige Beispiele müssen genügen. Baruch Pohl, der sich in Hamburg Bernhard Pollini nannte, leitete in den 1890er-Jahren mit dem Stadttheater, dem Altonaer Theater und dem Thalia Theater gleich drei bedeutende Bühnen. Unter den Mitgliedern der Hamburger Sezession waren lokale Größen wie Willy Davidsohn, Paul Henle, Alma del Banco und Gretchen Wohlwill. Das Stadttheater (seit 1934 Staatsoper) unterstand in der Weimarer Republik lange Zeit Egon Pollak. Die Direktion der Kammerspiele teilte sich die Schauspielerin Mirjam Horwitz bis 1926 mit ihrem nichtjüdischen Mann Erich Ziegel.
Gretchen Wohlwill,
„Selbstportrait“, Holzschnitt auf Papier, 18,5 cm x 25 cm, Entstehung ca.
1940–1950
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung der Galerie „Der
Panther“.
Und nach der Schoah sollte Ida Ehre über Jahrzehnte als Prinzipalin die Geschicke des Theaters bestimmen.
Auch wenn diese Namensliste (und es könnten noch viele weitere hinzugefügt werden) nicht an die Prominenz des Berliner Kulturlebens heranreicht, ist es doch erstaunlich, wie viele Juden an gehobener Stelle Hamburgs Kultur beeinflussten. Aber sie taten dies – und dies verweist noch einmal auf den Heuhaufen von Pissarro – nicht als Juden und nicht im Namen des jüdischen Volkes, zumindest nicht bis die nationalsozialistische Politik ihnen nahelegte, nur noch als Juden zu handeln. Ihre Arbeiten erinnerten an Cézanne oder Maillol. In ihren Inszenierungen setzten sie sich mit dem Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit oder dem Existentialismus auseinander. Ihre Konzerte und Opern widmeten sie den Klassikern oder der Neuen Musik. Wenn der jüdischer Hintergrund der Künstler hier überhaupt eine Rolle spielte (und es gibt in dieser Beziehung keine überprüfbaren Kausalitäten), dann insofern, als sie sich für neue Kunstformen engagierten – wie der hohe Anteil von Juden in der Hamburger Sezession nahelegt. Als Außenseiter in einer zutiefst christlich geprägten (und deshalb die Minderheit nicht selten diskriminierenden) Gesellschaft suchten sie nach Möglichkeiten, ihrer Neugier oder ihrem Schöpferwillen Ausdruck zu verleihen.
Bis zum heutigen Tag wird Hamburg mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) in Verbindung gebracht. Aber um die Bedeutung dieses Erbes angemessen zu würdigen, wäre es vielleicht angebrachter, von einem Warburg-Kreis oder von der Hamburger Schule zu sprechen. Obwohl dieser Kreis nicht an die Bedeutung der Psychoanalyse oder der „Frankfurter Schule“ heranreicht, war er doch von der Struktur her ähnlich: die Zusammenarbeit zumeist jüdischer Wissenschaftler, welche die Neubegründung einer wissenschaftlichen Disziplin ins Auge fassten oder disziplin-übergreifend bisheriges Denken zu bestimmten Themen in Frage stellten.
Der Warburg-Kreis steht vor allem für die Neuausrichtung der Kunstgeschichte. Aby Warburg begriff sie als Versuch, allgemeine Bedeutungszusammenhänge jenseits von formalen Fragestellungen zu untersuchen, die eine Art kollektives Gedächtnis freilegten. Dem Kreis gehörten auch Forscher anderer Fachrichtungen an, zuvorderst Ernst Cassirer, dessen philosophisches Werk diesem Umfeld viel verdankt. Fritz Saxl, der zusammen mit Gertrud Bing über Jahre die Bibliothek leitete, berichtete über die ständige Anwesenheit Cassirers in den Räumen der KBW. Ohne die von Warburg erstellte Sammlung, die nicht nur aus Spezialliteratur zur Kunstgeschichte bestand, sondern auch alchemistische, anthropologische oder psychologische Werke beinhaltete, hätte Cassirer den zweiten Band seiner Philosophie der Symbolischen Formen Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Meiner Verlag, Hamburg 2010 nicht schreiben können. Erwin Panofsky, ab 1926 Ordinarius für Kunstgeschichte an der noch jungen Universität, arbeitete eng mit Mitgliedern des Kreises zusammen: Von Warburg übernahm er die ikonologische Methode, die sich mit der kulturellen Bedeutung von Kunstwerken beschäftigte; von Cassirer die Idee der „symbolischen Form“, die er auf Fragen der Bildwissenschaft anwendete. Panofsky sollte zu einem der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts werden. Die Bedeutung Cassirers für die moderne Philosophie wird zunehmend anerkannt.
Mindestens vier Elemente sind es, die diese Zusammenarbeit vor dem Hintergrund der Geschichte Hamburgs erklären können: erstens Fügung, Glück oder Zufall. Zweitens die relative Rückständigkeit des Hamburger Kunstbetriebs, die es schon Alfred Lichtwark ermöglicht hatte, die Kunsthalle ohne staatliche Bevormundung zu führen und dabei innovativen Stilrichtungen bzw. pädagogischen Ansätzen zu öffnen. Diese relative Abwesenheit festgefügter Strukturen, beharrender Kräfte oder gar Seilschaften half all jenen, die etwas Neues wagen wollten. Drittens die von Warburg mitbetriebene Neugründung der Universität, die in der Tradition des jüdischen Mäzenatentums stand. Und viertens die finanzielle Unabhängigkeit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, die vieles zuließ, was anderswo undenkbar gewesen wäre. Vieles von dem erinnert an die Situation in Frankfurt am Main, wo das Institut für Sozialforschung für die Soziologie genauso bedeutend wurde wie der Hamburger Kreis für die Kunstgeschichte.
Frankfurt hatte das Glück, dass durch die Rückkehr Theodor W. Adornos und Max Horkheimers an die dortige Universität das intellektuelle Leben der Stadt auch nach dem Holocaust ein recht hohes Niveau erreichte. Allerdings ist es wichtig, die sogenannte „Frankfurter Schule“ nicht mit dem jüdischen Geistesleben gleichzusetzen, denn die meisten Juden in der Mainmetropole (und anderswo) waren in der Nachkriegszeit mit anderen Dingen beschäftigt, als die „Kulturindustrie“ zu hinterfragen oder einer „Dialektik der Aufklärung“ nachzuspüren.
Mit wenigen Ausnahmen wollten jüdische Überlebende Deutschland so schnell wie möglich wieder verlassen. Bevor sie diesen Plan in die Tat umsetzen konnten, machten sie nach eigener Einschätzung „Zwischenstation“ in den westlichen Besatzungszonen. Die zumeist aus Osteuropa stammenden Displaced Persons (DPs) verzichteten dabei keineswegs auf Kultur. Laientheatergruppen und professionelle Ensembles wie das Kazet-Theater in Bergen-Belsen und das Münchner Jiddische Theater ermöglichten es den Lagerbewohnern, jiddische Literatur neu- oder wieder zu entdecken. Kabarett und Liederabende wechselten sich mit Bühnenklassikern von Avrom Goldfaden und Scholem Aleichem ab. Unmittelbar zuvor gemachte Erfahrungen wurden in den Aufführungen behandelt. Damit sollte das historische Bewusstsein derjenigen Überlebenden gestärkt werden, welche die Verfolgung nicht unmittelbar erlebt hatten und vielleicht weniger geneigt waren, das zionistische Ziel einer Emigration nach Palästina ins Auge zu fassen. Für viele Juden bedeutete Kultur nach 1945 also nicht nur Zerstreuung oder Unterhaltung, sondern Widerspruch zu erheben gegenüber einer Diasporaexistenz, die endgültig der Vergangenheit angehören sollte.
Von den ca. 200.000 Juden, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in verschiedenen DP-Camps oder Großstädten lebten, blieben nur um die 30.000 im Land, davon 1.200 bis 1.400 in Hamburg. Ein Vergleich des „geretteten Rests“ der Hansestadt mit der einst viertgrößten deutschen Gemeinde von fast 20.000 Mitgliedern verbietet sich von selbst. Dennoch litt Hamburg, zumindest was die jüdische Kultur angeht, verhältnismäßig stark unter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: Anders als Berlin, Frankfurt, München und Düsseldorf wurde die Stadt nie ein „Zentrum“ jüdischer Erneuerung nach 1945.
Außenansicht der Synagoge Hohe Weide in Hamburg am Tag der
Eröffnung, 4.9.1960
Quelle: Bilddatenbank des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, BAU00231,
Fotograf:
Andres,
Erich / Jüdische Gemeinde
Hamburg, Album 13.
Wenn hier trotzdem von Wiederaufbau die Rede ist, dann, weil auch in Hamburg jüdisches Leben nicht nur aus der Sorge ums tägliche Überleben bestand. Bereits in den 1950er-Jahren wurden Synagogen fertiggestellt, unter anderem in Stuttgart und Köln. Im September 1960 kamen Gemeindemitglieder und Vertreter der Hansestadt zusammen, um die neue Synagoge in Eimsbüttel einzuweihen. Bürgermeister Max Brauer fand dafür Worte, die von jüdischer Seite sehr viel später, nämlich anlässlich der Eröffnung des Frankfurter Gemeindezentrums im Jahr 1986, übernommen wurden: „Ein dem Dienst am Höchsten gewidmetes Bauwerk schafft nur, wer den festen Willen zum Bleiben hat.“ Michael Brenner, 1950: Neue Synagogen, in: Jüdische Allgemeine, 15.11.2012, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/14482 (4.4.2016).
Der Architekt Klaus May, Sohn des wesentlich bekannteren ehemaligen Frankfurter Stadtbaurats Ernst May, hatte zusammen mit seinem Mitarbeiter Karl Heinz Wrongel den Auftrag erhalten, ein modernes Gebäude zu gestalten, das schlicht, funktional und weitgehend schmucklos sein sollte. Ausnahmen bilden die vom Hamburger Maler Herbert Spangenberg entworfenen bunten Fenster sowie die von der Hamburger Künstlerin Traute Beermann gestalteten Außentüren. Das Ritualbad (Mikwe) hatte der jüdische Frankfurter Architekt Hermann Zvi Guttmann geplant, der schon zuvor mit der Gestaltung der Synagogen in Düsseldorf und Offenbach beauftragt worden war. Die Kulturkommission führte im zur Synagoge gehörenden Gemeindehaus musikalische und literarische Veranstaltungen durch, von denen viele, wie im übrigen Land auch, den zionistischen Geist der Nachkriegszeit widerspiegelten. Fürs Erste blieb Israel der kulturelle Bezugspunkt vieler Hamburger Juden. Die Kosten für den gesamten Neubau wurden im Übrigen vom Entschädigungsfond des Amtes für Wiedergutmachung getragen.
Wegen ihrer verschwindend kleinen Zahl waren Juden in der Stadt darauf angewiesen, dass sich auch Nichtjuden für jüdische Kultur interessierten. Was letzteres beinhaltete, darüber herrschte selten Einigkeit. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten befassten sich nichtjüdische Hamburger mit Anne Franks Schicksal oder versuchten in der 1952 von Ida Ehre, Harry Goldstein und Erich Lüth mitbegründeten Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, das Judentum nicht nur als überholte „Vorstufe“ des Christentums kennenzulernen. 1953 formierte sich unter dem Vorsitz des Historikers Fritz Fischer eine Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der Juden in Hamburg, deren Bemühungen schließlich dreizehn Jahre später in der Gründung des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden münden sollte, das sich als erste Forschungseinrichtung in Europa ausschließlich mit der deutsch-jüdischen Geschichte beschäftigte. Nachdem Israel und die Bundesrepublik 1965 diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten, engagierten sich Mitglieder der zehn Jahr später gegründeten Deutsch-Israelischen Gesellschaft verstärkt für den kulturellen Austausch beider Länder. Künstler aus Israel und solche, die sich in ihrer Arbeit mit dem Land beschäftigten, konnten ihre Werke immer wieder in Hamburg ausstellen. Auch heute noch lädt der Verein, oft in Kooperation mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Liberalen Jüdischen Gemeinde, Kulturschaffende in die Hansestadt ein.
Erst ab den 1970er-Jahren wurde aus „Wiedergutmachung“ so etwas wie ein breites Interesse an „jüdischer“ Kultur. Nicht selten bezog sich diese Neugier auf ein imaginiertes Judentum, das für einige zu einem Sehnsuchtsort wurde. Ein gutes Beispiel dafür ist das Musical Anatevka. 1964 in New York uraufgeführt, inszenierte das Operettenhaus Hamburg die deutsche Adaption des Stücks, in dem die ostjüdische Schtetl-Romantik im vorrevolutionären Russland geschildert wird, vier Jahre später. Neben dem israelischen Schauspieler Shmuel Rodensky gelangte in der Rolle des Milchmanns Tevje vor allem Ivan Rebroff in der Bundesrepublik zu großer Popularität.
Häufiger aber war das Interesse einem Gefühl von historischer Verantwortung geschuldet. Das Prädikatsgutachten der Filmbewertungsstelle für den teilweise in der Hansestadt gedrehten Streifen „Der Rosengarten“ (1989), in dem die medizinischen Experimente an jüdischen Kindern während der NS-Zeit thematisiert wird, erinnert noch an diesen Zusammenhang. Wenig später sollten Nostalgie oder Verantwortung beim Konsum jüdischer Kultur nicht mehr so wichtig sein. Ein neues, postmodernes Lebensgefühl erlaubte es vielen Menschen, Bagels und jüdische Salons, Chanukka-Leuchter und Klezmer-Musik, Manischewitz-Wein und Woody Allen irgendwie so zu verbinden, dass dabei – gefühlt zumindest – etwas Jüdisches herauskam. Die Thematisierung und Vervielfältigung jüdischer Kultur, ohne dass daran Juden mitwirken müssen, gehört seitdem zum Bild vieler deutscher Großstädte. Im Hamburger Fall kann auf das Grindelviertel verwiesen werden, wo Juden wie Nichtjuden von verschiedenen Kulturangeboten profitieren, etwa im Café Leonar, wo Lesungen stattfinden und ein jüdischer Salon regelmäßig zusammenkommt.
In diesem Sinne kann die von der Geschichtswissenschaft bevorzugte Vorstellung von Kultur wieder aufgegriffen werden. Jüdische Kunst und Kultur wären demnach heutzutage nicht nur mit den geistigen und gestalterischen Leistungen einzelner Juden oder jüdischer Gruppierungen (von denen es in Hamburg nicht mehr sehr viele gibt) zu assoziieren, sondern mit jenen Bedeutungsmustern, die Juden und Nichtjuden immer dann hervorbringen, wenn sie glauben, jüdische Kultur zu produzieren oder zu reproduzieren. Auch die Immigration zehntausender von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion unterstreicht diese neue Vielfalt. Viele russische oder ukrainische Juden stehen einem religiös definierten Judentum fremd gegenüber, sodass sie zum Beispiel weniger mit Synagogenarchitektur anfangen können als einige „alteingesessene“ Gemeindemitglieder. Vorstellungen von jüdischer Kunst entsprechen ihren Erfahrungen in einem anderen (und anderssprachigen) Kulturkreis, wo das Judentum ethnisch definiert wurde. Mit anderen Worten: Wer heutzutage im Café Leonar einer Lesung über jüdische Kultur lauscht, wird mit einem ganz unterschiedlichen Vorwissen an das Thema herantreten als diejenigen, die noch vor 30 Jahren zu kulturellen Veranstaltungen in die jüdischen Gemeinde gingen.
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Anthony D. Kauders (Thema: Kunst und Kultur), Dr. phil., ist stellvertretender Programmleiter für Geschichte an der Keele University, sowie Professor für Moderne Europäische Geschichte. Zur Zeit erforscht er die Geschichte der Hypnose, Sozialpsychologie und Psychotherapie.
Anthony D. Kauders, Kunst und Kultur, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-214.de.v1> [21.12.2024].