Im Vordergrund der 1944 entstandenen Tuschezeichnung „Blick vom ‚Landgut‘ auf Villa, Wälle und Hannover (B IV)“ von Alfred Bergel ist ein von Büschen begrenztes, terrassiertes rechteckiges Landstück zu erkennen, das von in Reihen angeordneten, niedrigen Pflanzen durchzogen ist. Diagonal durch das Gelände läuft ein Graben, der mit hohem Gras und weiteren Büschen bewachsen ist. Eine schmale Holzplanke ermöglicht seine Überquerung. Direkt daneben steht ein Schild, dessen großes Ausrufezeichen offenbar den Zutritt zu dem Gelände verbietet. Von zwei Seiten umschließen Wege das terrassierte Areal: Von rechts nach links läuft ein Weg über eine auf Pfeilern aufgeständerte Rundbogenkonstruktion und trifft ungefähr in der Bildmitte auf einen zweiten, der sich bogenförmig von links unten nach rechts bis zum Bildrand zieht. Dieser führt rechts an einem Holzzaun vor einem einstöckigen Haus mit Walmdach vorbei. Ein großes Schild am Zaun trägt die Aufschrift „STEINOKROYE, V PRENEMKOV“. Im weiteren Verlauf ist der Weg von einer Reihe niedriger Bäume begrenzt. Er folgt einer wallartigen Erhebung, die am rechten Bildrand von einem zweiten, noch deutlich höheren Wall ergänzt wird. Die Lücke zwischen Hausgiebel zur Linken und dem doppelten Wall zur Rechten gibt den Blick frei auf ein hohes und langgestrecktes Gebäude, dessen Mittelrisalit von einem Dreiecksgiebel bekrönt wird. Das Bild trägt die Signatur „Theresienstadt 1944, Bergel“. Als Teil des „Theresienstadt-Konvoluts“ befindet sich das Bild seit 2021 in der Sammlung des Altonaer Museums.
„Das Theresienstadt-Konvolut umfasst insgesamt 64 Zeichnungen, zwei Alben mit den Lebensläufen und Fotos von Deportierten, die im Lager Prominenten-Status hatten, sowie weitere Unterlagen. Seine Erhaltung ist Käthe Starke-Goldschmidt zu verdanken. Die 1905 in Altona geborene Käthe Goldschmidt, später verheiratete Starke, wurde am 23.6.1943 zusammen mit ihrer Schwester Erna Goldschmidt aus Hamburg in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Bei der Zwangsarbeit in der „Ghettozentralbücherei“ lernte sie eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern kennen, deren Zeichnungen ihr Vorgesetzter Hugo Friedmann in der Bibliothek versteckte. Die Bilder dokumentierten den Alltag in Theresienstadt aus der Perspektive der Deportierten. Unmittelbar vor seiner Deportation nach Auschwitz am 28.9.1944 übergab Hugo Friedmann seine geheime Sammlung an Käthe Starke-Goldschmidt. Nach ihrer Befreiung brachte sie die Zeichnungen zusammen mit weiteren Unterlagen aus Theresienstadt nach Hamburg.
Käthe Starke-Goldschmidts Erinnerungsbuch über ihre Verschleppung, „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt. Bilder, Impressionen, Reportagen, Dokumente“ erschien 1975. Die 64 Zeichnungen, die dort erstmals veröffentlicht wurden, bilden einen wichtigen Resonanzraum für ihre Erzählung. 2002 wurden die Bilder zusammen mit den beiden Prominenten-Alben und einem Rechenschaftsbericht der Bibliotheksleitung als „Theresienstadt-Konvolut“ in der gleichnamigen Ausstellung des Altonaer Museums im Heine Haus gezeigt und begleitend unter demselben Titel publiziert. Käthe Starke-Goldschmidts Sohn Pit Goldschmidt hat den Bestand 2021 dem Altonaer Museum vererbt. Der übrige Nachlass von Käthe Starke-Goldschmidt und Pit Goldschmidt wurde der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte übereignet und wird im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme aufgearbeitet.
In ihrem Buch geht Käthe Starke-Goldschmidt ausführlich auf die Entstehungsgeschichte des Bildes und seine besondere biografische Bedeutung als Geburtstagsgeschenk für sie selbst ein. Sie erklärt auch, wie sie zu einem „Landgut“ in Theresienstadt kam. Am 1.5.1944 gelangten Käthe und ihre Schwester Erna in den Besitz eines „unglaublichen Privilegs“. Sie bekamen Passierscheine zum Betreten des Grundstücks Südstraße 5 zu Gartenarbeiten. Erna Goldschmidt hatte Volkswirtschaftslehre studiert, nach dem Tod des Vaters 1936 dessen Bank weitergeführt und schließlich bis zu ihrer Deportation in Hamburg für Max Plaut gearbeitet, den Geschäftsführer des Jüdischen Religionsverbandes. In Theresienstadt wurde sie der „Jüdischen Selbstverwaltung“ in der Magdeburg-Kaserne zugeteilt, und zwar als Sekretärin von Kurt Levy, dem Leiter der Zentralverwaltung. Bei einer Verlosung unter den Verwaltungs-Angestellten gewann Erna die Berechtigung, ein Beet, „nicht größer als ein Grab“ in der Südstraße 5 als Garten zu nutzen. Die Versuche der Schwestern, dort Gemüse anzubauen, scheiterten aber, da ein Baum ihre Parzelle verschattete.
Obwohl das Beet nahezu keine Verbesserung für ihre prekäre Versorgung mit Nahrungsmitteln erbrachte, vermittelte es den Schwestern dennoch das Gefühl einer kleinen Freiheit. Normalerweise durften die nach Theresienstadt deportierten Menschen den inneren Befestigungsring in der ehemaligen Festung nicht verlassen. Zutritt zu den Wallanlagen war nur denjenigen gestattet, die dort in Zwangsarbeit Lebensmittel für die Versorgung des Ghettos oder die SS anbauten. Im Sommer 1944 wurden die Restriktionen etwas gelockert und manche Bereiche freigegeben. Die Schwestern Goldschmidt nutzten ihr Privileg, um ihre Mittagspausen bei ihrem Gartenbeet zu verbringen. An ihrem Rückzugsort fanden die beiden einen Gegenpol zur fehlenden Privatsphäre und dem Gestank im Ghetto. Käthe Starke-Goldschmidt verglich die Sonnenuntergänge, die sie „draußen“ genießen konnte mit Gemälden der deutschen Romantik. Ihren sehnsüchtigen Blick richtete sie stadtauswärts, in Richtung Flussniederung: „Dort ist die Freiheit“.
Die Südstraße führte durch das Bauschowitzer Tor, das die zentrale Verbindung zur Außenwelt darstellte, durch die äußeren, begrünten Festungswälle Richtung Bohušovice nad Ohří (Bauschowitz) und der dortigen Eisenbahnstrecke Prag-Dresden. Neu eintreffende Deportierte gelangten entweder zu Fuß über die Südstraße nach Theresienstadt oder (ab Juni 1943) über ein parallel zur Südstraße verlaufendes und von Deportierten in Zwangsarbeit errichtetes Bahngleis. Das Grundstück Südstraße 5 lag offiziell außerhalb des Ghettos. Direkt an der Südstraße und am Anfang der Bahnlinie befanden sich die Räume, in denen Angehörige Abschied von Verstorbenen nehmen konnten, ehe die Leichname zum Krematorium gebracht wurden. Deshalb verglich Käthe Starke-Goldschmidt den Gang zum Grundstück mit dem Weg zu einer Beerdigung. Nach dem Passieren des Tores ging sie einhundert Meter über die Brücke und schließlich durch einen Tunnel an den Fuß des zweiten Festungsrings.
Der Standort des Zeichners befand sich wahrscheinlich auf einer der Schanzen beim Südberg, ein Bereich, dessen Betreten ab Sommer 1944 allgemein erlaubt war. Der aufgeständerte Weg im Bild ist also der als Brücke konstruierte Teil der Südstraße. Hinter der „Villa des Uniformschneiders“ trifft sie auf den am Bauschowitzer Tor abgesenkten inneren Festungswall. In der Bildunterschrift im Buch benannte Käthe Starke-Goldschmidt das in der Lücke auszumachende große Gebäude mit gegiebeltem Mittelrisalit als die Hannover-Kaserne (B4). Im Vordergrund des Bildes sind die Pflanzenreihen auf den Gartengrundstücken zu sehen, jedoch ohne dass erkennbar wäre, welcher Teil von Käthe und ihrer Schwester genutzt wurde. Eventuell liefert der kleine Baum im Graben einen Hinweis.
Seit 1944 pflegte Käthe Starke-Goldschmidt eine enge Freundschaft mit ihrem Kollegen Hugo Friedmann und mit Alfred Bergel, dem Zeichner des Bildes. Alfred Bergel hatte die Wiener Kunstakademie besucht und von 1925 bis 1938 an einer Wiener Realschule als Zeichenlehrer gearbeitet. In Theresienstadt leistete er Zwangsarbeit in einer der von der SS betriebenen Kunstwerkstätten und wurde dort wahrscheinlich zum Fälschen von Kunstwerken gezwungen, die das NS-Regime zur Devisengewinnung auf den internationalen Kunstmarkt brachte. Für die SS-Lagerleitung fertigte er außerdem „dokumentarische“ Zeichnungen, die zur Unterstützung der Propaganda von Theresienstadt als „Musterlager“ dienen sollten. Parallel schuf Bergel heimlich Portraits von Inhaftierten, die sich ein persönliches Erinnerungsstück wünschten. Zudem zeichnete er für Hugo Friedmanns geheime Bildersammlung Ansichten der Ghettobibliothek und topografische Skizzen des Lagers. Außerdem überließ er dem Freund auch etliche Bilder, die er zwar im Auftrag der Lagerleitung gefertigt hatte, die von dieser jedoch nicht akzeptiert worden waren.
Das vorliegende Bild „Landgut Goldschmidt“ zeichnete er ohne Auftrag, und zwar als Geburtstagsgeschenk für Käthe Starke-Goldschmidt. Die Umstände der Entstehung des Bildes und seiner Übereignung schildert Starke-Goldschmidt in ihren Erinnerungen wie folgt: Zum Neujahrsfest Rosch HaSchana am 18. und 19.9.1944 sei die Bibliothek für den Publikumsverkehr geschlossen gewesen, aber Freunde wie zum Beispiel Alfred Bergel seien dennoch vorbeigekommen. Nach Bergels Aufbruch habe Hugo Friedmann hinter einer Bücherreihe ein gerahmtes Bild hervorgezogen, das der Künstler dort versteckt habe: die Zeichnung des „Landguts“. „Friedmann war mit Bergel heimlich draußen gewesen, es hatte eine Geburtstagsüberraschung für mich sein sollen“. Dies belegen auch die beiden Widmungen, die sich in Käthe Starke-Goldschmidts Nachlass erhalten haben. Der größere Karton mit dem Text „Blick vom Goldschmidtschen Landgut (die Kürsary-Villa war schon fertig - !) zum 27. September 1944, alles Liebe, AB“ war wahrscheinlich auf der Rückseite des Passepartouts angebracht. Auf dem zweiten Karton ein etwas kürzerer Text: „Blick vom Goldschmidtschen Landgut, zum 27. September 1944, alles Liebe, B“. Vermutlich war die Beschriftung auf die Außenseite des Rahmens oder einer Verpackung geklebt, denn an den Rändern verläuft ein Papier-Klebeband mit dem Stempel „Jüdische Selbstverwaltung Theresienstadt“. Der Rahmen, in Theresienstadt damals eine Kostbarkeit, ist nicht erhalten. Der Umstand, dass Käthe Starke-Goldschmidt die Widmungen jahrzehntelang aufbewahrt hat, zeigt, wie viel ihr dieses Geschenk bedeutet haben muss.
Der 27.9.1944 war Käthe Starke-Goldschmidts 39. Geburtstag. Der Freund zeigte ihr die Überraschung also mehr als eine Woche zu früh. Am 23. September erfuhr Hugo Friedmann, dass er einem Transport „nach Osten“ zugeteilt war. Am 27. September wurde er wie alle zu Deportierenden von den übrigen Ghettobewohnern getrennt, am 28. September verließ der erste von elf Zügen der sogenannten Herbsttransporte Theresienstadt in Richtung Auschwitz. Mehr als 18.000 Ghettobewohner und -bewohnerinnen fuhren in den Tod. Alfred Bergel wurde am 16.10.1944 deportiert und ermordet. Deshalb bezeichnete Käthe Starke-Goldschmidt das Blatt in ihrer Bildunterschrift als Bergels „letzte Zeichnung“. Ob er ihr das Bild persönlich übergeben konnte, nachdem Friedmann ihr das Bild ja bereits zuvor gezeigt hatte, ist nicht bekannt. In Käthe Starke-Goldschmidts Worten: „An meinem Geburtstag hätte schwerlich noch irgendjemand Sinn dafür gehabt.“ Es blieb sein letztes Geschenk an sie. Ihr Geburtstag am Vortrag der Deportation von Hugo Friedmann macht die Zeichnung zu einem besonders zwiespältigen Gedenkobjekt an ihren Freund und Kollegen.
Für Betrachtende, die mit der Entstehungsgeschichte des Bildes nicht vertraut sind, zeigt Alfred Bergels Tuschezeichnung eine nicht näher zu definierende Grünfläche. Erst in Verbindung mit Käthe Starke-Goldschmidts Erinnerungen an Theresienstadt wird die biografische Relevanz als Gedenkbild an die ermordeten Freunde Alfred Bergel und Hugo Friedmann deutlich.
Über die persönliche Bedeutung hinaus stellt die Zeichnung eine wichtige bildliche Quelle zur Shoah dar. Bei den erhaltenen Fotografien aus Theresienstadt handelt es sich zum allergrößten Teil um Propagandabilder des NS-Regimes. Im Gegensatz dazu bringen heimlich entstandene Häftlings-Zeichnungen wie die aus dem Theresienstadt-Konvolut die Perspektive der Opfer ins Bild. Oft beinhalten deren Motive eine stark verklausulierte Kritik an den Lebensumständen und sind erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar.
Dies gilt auch für Alfred Bergels Zeichnung. So kann der Blick auf den Grünstreifen als Verweis für den Mangel an Lebensmitteln im Ghetto Theresienstadt gelesen werden. Darüber hinaus aber als Metapher für das Stückchen Freiheit, das Käthe Starke-Goldschmidt und ihre Freunde mit der kleinen Parzelle verbanden.
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Vanessa Hirsch, Dr. phil., ist Fachbereichsleitung Sammlungen und stellvertretende Direktorin im Altonaer Museum, sie studierte Kunstgeschichte, Italienisch sowie Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Bonn und Leicester und promovierte zu Malerei und Installationen bei Robert Irwin. Ausstellungen und Forschungstätigkeit zur Altonaer Geschichte und zur Kunst- und Kulturgeschichte Norddeutschlands.
Vanessa Hirsch, Ein Landgut in Theresienstadt? Entstehung und Nachgeschichte einer Zeichnung von Alfred Bergel, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. <https://schluesseldokumente.net/beitrag/jgo:article-301> [05.10.2025].