Walter A. Berendsohn gilt als Nestor der Exilliteraturforschung und war zugleich selbst Exilant. Am 10.9.1884 wurde Berendsohn in Hamburg in ein jüdisches Elternhaus geboren. Der Germanist hatte 1926 eine außerplanmäßige Professur an der Universität Hamburg erhalten. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und seiner Entlassung auf Grundlage des antisemitischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ging Berendsohn im Juli 1933 ins dänische Exil, wo er sich vergeblich um eine akademische Anstellung bemühte. Hier begann er seine 1939 fertiggestellte Arbeit an „Die humanistische Front“, die, wenngleich erst 1946 gedruckt, erstmals in systematischer Weise die Literatur der „Flüchtlinge aus dem Dritten Reich“ erfasste. Nach der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen hielt sich der seit 1936 Staatenlose zunächst verborgen, floh im September 1943 schließlich in einem Ruderboot nach Schweden. In Stockholm, wo er zunächst als Archivar arbeitete, bevor ihm 1952 eine Dozentur am Deutschen Institut der Universität angeboten wurde, stellte er den zweiten und erst 1976 veröffentlichten Band seiner humanistischen Front fertig.
In der Nachkriegszeit bemühte sich Berendsohn um eine Rückkehr an die Universität Hamburg beziehungsweise um die Anerkennung seiner Pensionsansprüche. Er stieß jedoch auf den energischen Widerstand maßgeblicher Mitglieder des Literaturwissenschaftlichen Seminars. Insbesondere Hans Pyritz intrigierte gegen Berendsohn, der sich der Exil-Literatur verschrieben hatte. So wurden beispielsweise seine akademischen Leistungen in Zweifel gezogen. Auch das Fehlen der von den Nazis aberkannten Promotion wurde gegen Berendsohn vorgebracht. Damit hatten sich die Hamburger Literaturwissenschaftler eines Unrechtsakts der Nazis bedient. Berendsohns „Zweifache Vertreibung“ Hermann Zabel (Hrsg.), Zweifache Vertreibung. Erinnerungen an Walter A. Berendsohn, Nestor der Exil-Forschung, Förderer von Nelly Sachs. In Verbindung mit Jakob Hessing und Helmut Müssener, Essen 2000, bes. S. 209-222. verweist auf eine über politische Zäsuren hinausreichende Kontinuität deutschen Ungeistes an der Philosophischen Fakultät. Ernst gemeinte Rückkehrangebote unterbreitete die Universität Hamburg den von ihr ausgegrenzten und vertriebenen Wissenschaftlern ohnehin nur in Einzelfällen.
Seit Mitte der 1960er-Jahre verstärkte Berendsohn seine Bemühungen, die Exilliteratur in der Wissenschaft als Forschungsgegenstand zu etablieren. Das von ihm maßgeblich initiierte internationale Symposium in Stockholm 1969 gab den zentralen Anschub. Hier formulierte Berendsohn in seinen „Erläuterungen“ P. Walter Jacob Archiv: PWJA/BFDE/I/2, Rede Walter A. Berendsohns auf dem Symposium über Deutsche Literatur aus dem Dritten Reich. Online abrufbar unter: https://www.exilforschung.uni-hamburg.de/forschungsstelle/geschichte/berendsohn-1969-erlaeuterungen.pdf [Zugriff: 16.11.2016]. Stand und Aufgaben der Exilliteraturforschung. Seine Forderung, zunächst müsse das Sammeln und Archivieren von Schriften und Dokumenten im Vordergrund stehen, wurde in den kommenden Jahren aufgegriffen und prägte diese frühe Phase der Exilliteraturforschung entscheidend mit. Berendsohn verwandte hierfür den Begriff „Grundforschung“.
Die Ausführungen Berendsohns in dem Schreiben an Schneider stehen programmatisch in der Kontinuität seiner Arbeiten. Die „Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich“ sollte schon begrifflich nicht auf die Zäsur von 1945 beschränkt bleiben. Die damit einhergehende Unterscheidung von Exil und Emigration sah Berendsohn als hinfällig an und glaubte sie durch den Gebrauch der Bezeichnung Flüchtling überwinden zu können. Mit literarischen Werken mit Exil-Bezug setzte er sich am Maßstab ihrer internationalen Rezeption auseinander und ging dabei von wechselseitigen Einflüssen verschiedener Kulturen aus. Dies schloss ausdrücklich jüdische Traditionen mit ein. Mit diesem am Begriff der Weltliteratur orientierten Ansatz erteilte er auch nationalistischen Literaturkonzepten eine Absage.
Mit der Auswahl der zu behandelnden Werke und ihrer Autoren verfolgte Berendsohn, wie er auch Schneider darlegte, das Ziel, verschiedene Gattungen wie „Prosa, Dramatik und Lyrik“ und damit die Bandbreite literarischer Arbeiten abzudecken. Während alle Autoren für ihr Schaffen international anerkannt waren, maß Berendsohn Nelly Sachs und ihrem Werk besondere Bedeutung bei. Berendsohn warb für das Stück „Eli, ein Mysterium vom Leiden Israels“ Arie Goral, Walter A. Berendsohn. Chronik und Dokumentation, Hamburg 1984, S. 77. und organisierte die Subskription einer kleinen Auflage von 500 handsignierten Exemplaren, um die Not leidende „Dichterin jüdischen Schicksals“ ebd. und ihre Mutter zu unterstützen. An der Verleihung des Literaturnobelpreises an Nelly Sachs 1966 hatte Berendsohn maßgeblichen Anteil.
Das hier präsentierte Schreiben an Karl Ludwig Schneider entstand vor dem Hintergrund der Initiative Berendsohns, der Exilliteratur eine größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Trotz der entwürdigenden Zurückweisung, die er durch Mitglieder des Literaturwissenschaftlichen Seminars der Universität Hamburg nach 1945 erlebte, wandte Berendsohn sich mit diesem Brief abermals an einen Hamburger Kollegen. Mit Schneider korrespondierte er jedoch mit einem Mann des Widerstands gegen die Nazis. Schneider war Mitglied der Hamburger Weißen Rose und entging nur knapp seiner drohenden Hinrichtung. Zudem hatte Schneider bereits Monate zuvor Möglichkeiten mit Berendsohn erörtert, die Exil-Literatur in den universitären Lehrveranstaltungen stärker zu verankern. Die Bemühungen um eine Gastprofessur Berendsohns in Hamburg scheiterten dennoch. Stattdessen wurde Berendsohn angeboten, im Sommer 1966 zwei Vorträge an der Universität Hamburg zu halten, was er jedoch ablehnte. Seine konzeptionellen Überlegungen zu den Lehrveranstaltungen waren aber keineswegs vergeblich; im Wintersemester 1966/67 hielt Berendsohn an der Universität Stockholm eine Veranstaltung mit dem Titel „Deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich. Einführung, Probleme, Aufgaben“ ebd., S. 90. . Die Exilliteraturforschung wurde 1970 schließlich von Hans Wolffheim mit der „Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur“ an der Universität Hamburg etabliert. 17 Jahre nach Berendsohns Tod wurde 2001 in einem Festakt die Arbeitsstelle in „Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur“ umbenannt. Freilich: diese Ehrung erfolgte Jahrzehnte nachdem der Exilant mit seinem Rückkehrwillen und seinem Forschungsthema in Hamburg gescheitert war und doch durch seine Beharrlichkeit und Umtriebigkeit als ihr Nestor, der Exilliteraturforschung zum Durchbruch in Deutschland verhalf.
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Andreas Marquet, Dr. phil., geb. 1981, ist wissenschaftlicher Referent im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuvor war er Archivar an der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur des Insituts für Germanistik an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Heimatvertriebene im deutschen Südwesten nach 1945, pfälzische Arbeiterbewegung, politische Linke im Exil
Andreas Marquet, Exil und Exilliteratur. Walter A. Berendsohns Kampf für eine Rückkehr an die Universität Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.02.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-10.de.v1> [22.12.2024].