Exil und Exilliteratur. Walter A. Berendsohns Kampf für eine Rückkehr an die Universität Hamburg

Andreas Marquet

Quellenbeschreibung

Das P. Walter Jacob-Archiv der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur verwahrt den Teilnachlass Berendsohns, der auch seine umfangreiche Korrespondenz umfasst. Hieraus ist der handschriftliche Entwurf eines zweiseitigen Schreibens entnommen, das Berendsohn am 1.9.1965 in Bromma, Schweden, verfasst oder abgesandt hat. Ob sich der Zusatz „abgesandt“ auf das angegebene Datum bezieht oder aber der Archivierung diente, kann nicht entschieden werden. Adressat ist sein am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg lehrender Kollege Karl Ludwig Schneider, der wegen eines USA-Aufenthalts erst zwei Monate später antwortete. Der Briefentwurf enthält einige Hervorhebungen, Einfügungen und Streichungen und ist zudem auf die Rückseiten eines Mitteilungsblattes des Jakob Hegner Verlags geschrieben. Gemäß seiner Gewohnheit vermerkte Berendsohn nicht nur, dass es sich um einen Entwurf des Briefes handelte, sondern fügte auch die geographische Präzisierung „Westdeutschland“ wie bei allen Schreiben in die Bundesrepublik hinzu. Berendsohn erläuterte Schneider in diesem Schreiben seine Pläne für einen Gastaufenthalt an der Universität Hamburg im Sommersemester 1966, der sich mit Exilliteratur befassen sollte.
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Berendsohns Weg ins Exil


Wal­ter A. Be­rend­sohn gilt als Nes­tor der Exil­li­te­ra­tur­for­schung und war zu­gleich selbst Exi­lant. Am 10.9.1884 wurde Be­rend­sohn in Ham­burg in ein jü­di­sches El­tern­haus ge­bo­ren. Der Ger­ma­nist hatte 1926 eine au­ßer­plan­mä­ßi­ge Pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät Ham­burg er­hal­ten. Nach der Macht­über­tra­gung an die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten und sei­ner Ent­las­sung auf Grund­la­ge des an­ti­se­mi­ti­schen „Ge­set­zes zur Wie­der­her­stel­lung des Be­rufs­be­am­ten­tums“ ging Be­rend­sohn im Juli 1933 ins dä­ni­sche Exil, wo er sich ver­geb­lich um eine aka­de­mi­sche An­stel­lung be­müh­te. Hier be­gann er seine 1939 fer­tig­ge­stell­te Ar­beit an „Die hu­ma­nis­ti­sche Front“, die, wenn­gleich erst 1946 ge­druckt, erst­mals in sys­te­ma­ti­scher Weise die Li­te­ra­tur der „Flücht­lin­ge aus dem Drit­ten Reich“ er­fass­te. Nach der Be­set­zung Dä­ne­marks durch deut­sche Trup­pen hielt sich der seit 1936 Staa­ten­lo­se zu­nächst ver­bor­gen, floh im Sep­tem­ber 1943 schließ­lich in einem Ru­der­boot nach Schwe­den. In Stock­holm, wo er zu­nächst als Ar­chi­var ar­bei­te­te, bevor ihm 1952 eine Do­zen­tur am Deut­schen In­sti­tut der Uni­ver­si­tät an­ge­bo­ten wurde, stell­te er den zwei­ten und erst 1976 ver­öf­fent­lich­ten Band sei­ner hu­ma­nis­ti­schen Front fer­tig.

Die „Zweifache Vertreibung“


In der Nach­kriegs­zeit be­müh­te sich Be­rend­sohn um eine Rück­kehr an die Uni­ver­si­tät Ham­burg be­zie­hungs­wei­se um die An­er­ken­nung sei­ner Pen­si­ons­an­sprü­che. Er stieß je­doch auf den en­er­gi­schen Wi­der­stand maß­geb­li­cher Mit­glie­der des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Se­mi­nars. Ins­be­son­de­re Hans Py­ritz in­tri­gier­te gegen Be­rend­sohn, der sich der Exil-​Literatur ver­schrie­ben hatte. So wur­den bei­spiels­wei­se seine aka­de­mi­schen Leis­tun­gen in Zwei­fel ge­zo­gen. Auch das Feh­len der von den Nazis ab­erkann­ten Pro­mo­ti­on wurde gegen Be­rend­sohn vor­ge­bracht. Damit hat­ten sich die Ham­bur­ger Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler eines Un­rechts­akts der Nazis be­dient. Be­rend­sohns „Zwei­fa­che Ver­trei­bung“ Her­mann Zabel (Hrsg.), Zwei­fa­che Ver­trei­bung. Er­in­ne­run­gen an Wal­ter A. Be­rend­sohn, Nes­tor der Exil-​Forschung, För­de­rer von Nelly Sachs. In Ver­bin­dung mit Jakob Hes­sing und Hel­mut Müs­se­ner, Essen 2000, bes. S. 209-222. ver­weist auf eine über po­li­ti­sche Zä­su­ren hin­aus­rei­chen­de Kon­ti­nui­tät deut­schen Un­geis­tes an der Phi­lo­so­phi­schen Fa­kul­tät. Ernst ge­mein­te Rück­kehr­an­ge­bo­te un­ter­brei­te­te die Uni­ver­si­tät Ham­burg den von ihr aus­ge­grenz­ten und ver­trie­be­nen Wis­sen­schaft­lern oh­ne­hin nur in Ein­zel­fäl­len.

Die Anfänge des Forschungsfelds Exilliteratur


Seit Mitte der 1960er-​Jahre ver­stärk­te Be­rend­sohn seine Be­mü­hun­gen, die Exil­li­te­ra­tur in der Wis­sen­schaft als For­schungs­ge­gen­stand zu eta­blie­ren. Das von ihm maß­geb­lich in­iti­ier­te in­ter­na­tio­na­le Sym­po­si­um in Stock­holm 1969 gab den zen­tra­len An­schub. Hier for­mu­lier­te Be­rend­sohn in sei­nen „Er­läu­te­run­gen“ P. Wal­ter Jacob Ar­chiv: PWJA/BFDE/I/2, Rede Wal­ter A. Be­rend­sohns auf dem Sym­po­si­um über Deut­sche Li­te­ra­tur aus dem Drit­ten Reich. On­line ab­ruf­bar unter: https://www.exil­for­schung.uni-​hamburg.de/for­schungs­stel­le/ge­schich­te/berendsohn-​1969-​erlaeuterungen.pdf [Zu­griff: 16.11.2016]. Stand und Auf­ga­ben der Exil­li­te­ra­tur­for­schung. Seine For­de­rung, zu­nächst müsse das Sam­meln und Ar­chi­vie­ren von Schrif­ten und Do­ku­men­ten im Vor­der­grund ste­hen, wurde in den kom­men­den Jah­ren auf­ge­grif­fen und präg­te diese frühe Phase der Exil­li­te­ra­tur­for­schung ent­schei­dend mit. Be­rend­sohn ver­wand­te hier­für den Be­griff „Grund­for­schung“.

„Literatur der Flüchtlinge“


Die Aus­füh­run­gen Be­rend­sohns in dem Schrei­ben an Schnei­der ste­hen pro­gram­ma­tisch in der Kon­ti­nui­tät sei­ner Ar­bei­ten. Die „Li­te­ra­tur der Flücht­lin­ge aus dem Drit­ten Reich“ soll­te schon be­griff­lich nicht auf die Zäsur von 1945 be­schränkt blei­ben. Die damit ein­her­ge­hen­de Un­ter­schei­dung von Exil und Emi­gra­ti­on sah Be­rend­sohn als hin­fäl­lig an und glaub­te sie durch den Ge­brauch der Be­zeich­nung Flücht­ling über­win­den zu kön­nen. Mit li­te­ra­ri­schen Wer­ken mit Exil-​Bezug setz­te er sich am Maß­stab ihrer in­ter­na­tio­na­len Re­zep­ti­on aus­ein­an­der und ging dabei von wech­sel­sei­ti­gen Ein­flüs­sen ver­schie­de­ner Kul­tu­ren aus. Dies schloss aus­drück­lich jü­di­sche Tra­di­tio­nen mit ein. Mit die­sem am Be­griff der Welt­li­te­ra­tur ori­en­tier­ten An­satz er­teil­te er auch na­tio­na­lis­ti­schen Li­te­ra­tur­kon­zep­ten eine Ab­sa­ge.

Mit der Aus­wahl der zu be­han­deln­den Werke und ihrer Au­toren ver­folg­te Be­rend­sohn, wie er auch Schnei­der dar­leg­te, das Ziel, ver­schie­de­ne Gat­tun­gen wie „Prosa, Dra­ma­tik und Lyrik“ und damit die Band­brei­te li­te­ra­ri­scher Ar­bei­ten ab­zu­de­cken. Wäh­rend alle Au­toren für ihr Schaf­fen in­ter­na­tio­nal an­er­kannt waren, maß Be­rend­sohn Nelly Sachs und ihrem Werk be­son­de­re Be­deu­tung bei. Be­rend­sohn warb für das Stück „Eli, ein Mys­te­ri­um vom Lei­den Is­ra­els“ Arie Goral, Wal­ter A. Be­rend­sohn. Chro­nik und Do­ku­men­ta­ti­on, Ham­burg 1984, S. 77. und or­ga­ni­sier­te die Sub­skrip­ti­on einer klei­nen Auf­la­ge von 500 hand­si­gnier­ten Ex­em­pla­ren, um die Not lei­den­de „Dich­te­rin jü­di­schen Schick­sals“ ebd. und ihre Mut­ter zu un­ter­stüt­zen. An der Ver­lei­hung des Li­te­ra­tur­no­bel­prei­ses an Nelly Sachs 1966 hatte Be­rend­sohn maß­geb­li­chen An­teil.

Der späte Durchbruch der Exilliteraturforschung


Das hier prä­sen­tier­te Schrei­ben an Karl Lud­wig Schnei­der ent­stand vor dem Hin­ter­grund der In­itia­ti­ve Be­rend­sohns, der Exil­li­te­ra­tur eine grö­ße­re wis­sen­schaft­li­che Auf­merk­sam­keit zu ver­schaf­fen. Trotz der ent­wür­di­gen­den Zu­rück­wei­sung, die er durch Mit­glie­der des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Se­mi­nars der Uni­ver­si­tät Ham­burg nach 1945 er­leb­te, wand­te Be­rend­sohn sich mit die­sem Brief aber­mals an einen Ham­bur­ger Kol­le­gen. Mit Schnei­der kor­re­spon­dier­te er je­doch mit einem Mann des Wi­der­stands gegen die Nazis. Schnei­der war Mit­glied der Ham­bur­ger Wei­ßen Rose und ent­ging nur knapp sei­ner dro­hen­den Hin­rich­tung. Zudem hatte Schnei­der be­reits Mo­na­te zuvor Mög­lich­kei­ten mit Be­rend­sohn er­ör­tert, die Exil-​Literatur in den uni­ver­si­tä­ren Lehr­ver­an­stal­tun­gen stär­ker zu ver­an­kern. Die Be­mü­hun­gen um eine Gast­pro­fes­sur Be­rend­sohns in Ham­burg schei­ter­ten den­noch. Statt­des­sen wurde Be­rend­sohn an­ge­bo­ten, im Som­mer 1966 zwei Vor­trä­ge an der Uni­ver­si­tät Ham­burg zu hal­ten, was er je­doch ab­lehn­te. Seine kon­zep­tio­nel­len Über­le­gun­gen zu den Lehr­ver­an­stal­tun­gen waren aber kei­nes­wegs ver­geb­lich; im Win­ter­se­mes­ter 1966/67 hielt Be­rend­sohn an der Uni­ver­si­tät Stock­holm eine Ver­an­stal­tung mit dem Titel „Deut­sche Li­te­ra­tur der Flücht­lin­ge aus dem Drit­ten Reich. Ein­füh­rung, Pro­ble­me, Auf­ga­ben“ ebd., S. 90. . Die Exil­li­te­ra­tur­for­schung wurde 1970 schließ­lich von Hans Wolff­heim mit der „Ham­bur­ger Ar­beits­stel­le für deut­sche Exil­li­te­ra­tur“ an der Uni­ver­si­tät Ham­burg eta­bliert. 17 Jahre nach Be­rend­sohns Tod wurde 2001 in einem Fest­akt die Ar­beits­stel­le in „Wal­ter A. Be­rend­sohn For­schungs­stel­le für deut­sche Exil­li­te­ra­tur“ um­be­nannt. Frei­lich: diese Eh­rung er­folg­te Jahr­zehn­te nach­dem der Exi­lant mit sei­nem Rück­kehr­wil­len und sei­nem For­schungs­the­ma in Ham­burg ge­schei­tert war und doch durch seine Be­harr­lich­keit und Um­trie­big­keit als ihr Nes­tor, der Exil­li­te­ra­tur­for­schung zum Durch­bruch in Deutsch­land ver­half.

Auswahlbibliografie


Doerte Bischoff, Die jüdische Emigration und der Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung: Walter A. Berendsohn, in: Rainer Nicolaysen (Hrsg.), Auch an der Universität. Über den Beginn von Entrechtung und Vertreibung vor 80 Jahren. Reden der Zentralen Gedenkveranstaltung der Universität Hamburg im Rahmen der Reihe „Hamburg erinnert sich 2013“ am 8. April 2013, Hamburger Universitätsreden N.F., 19, Hamburg 2014, S. 53–76.
Arie Goral, Walter A. Berendsohn. Chronik und Dokumentation, Hamburg 1984.
Claudia von Mickwitz, Walter Arthur Berendsohn – Vom Emigranten zum Exilforscher. Germanistisches Wirken unter den spezifischen Bedingungen des schwedischen Exils, Frankfurt am Main 2010.
Rainer Nicolaysen, Die Frage der Rückkehr. Zur Remigration Hamburger Hochschullehrer nach 1945, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 94 (2008), S. 117–152.
Hermann Zabel (Hrsg.), Zweifache Vertreibung. Erinnerungen an Walter A. Berendsohn, Nestor der Exil-Forschung, Förderer von Nelly Sachs. In Verbindung mit Jakob Hessing und Helmut Müssener, Essen 2000.

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Zum Autor

Andreas Marquet, Dr. phil., geb. 1981, ist wissenschaftlicher Referent im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuvor war er Archivar an der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur des Insituts für Germanistik an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Heimatvertriebene im deutschen Südwesten nach 1945, pfälzische Arbeiterbewegung, politische Linke im Exil

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Andreas Marquet, Exil und Exilliteratur. Walter A. Berendsohns Kampf für eine Rückkehr an die Universität Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.02.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-10.de.v1> [14.06.2025].

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