Das 1898 in Hamburg gegründete Israelitische Familienblatt war eine jüdische Wochenzeitung. Angesichts der verschiedenen politischen, kulturellen und religiösen Strömungen innerhalb des deutschen Judentums und der wachsenden antisemitischen Stimmung, versuchte das Familienblatt als verbindendes Organ zu wirken, das politisch neutral blieb. Früh fand das Israelitische Familienblatt überregionale Verbreitung und nach 1933 wurde es von jeder vierten jüdischen Familie in Deutschland abonniert.
Die Überschrift des Artikels führt den Leser in das Thema ein – es geht um die Reederin Lucy Borchardt, die durch Text und Bild als „Mutterfigur“ etabliert wird. Entsprechend wird sie auf vier Fotos in Szene gesetzt und im kurzen Begleittext erwähnt. Das Medium des Fotoessays entwickelte sich in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren zum eigenständigen und populären Medium. Meist geprägt von einer neuen Art des Sehens und fotografischen Betrachtens, die sich unter dem Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ etablierte, bekräftigen Fotoessays die Idee des Fotos als „wahrer“, „neutraler“ Darstellungsform. Wie auch andere Zeitungen folgte das Israelitische Familienblatt daher dem Bedürfnis seiner Leser nach visueller Berichterstattung und ergänzte ab 1924 die herkömmliche Ausgabe um die illustrierte Beilage „Aus alter und neuer Zeit“.
Das erste Foto zeigt Lucy Borchardt an der Reling eines ihrer Schiffe, das sie, so erfährt der Leser durch die Bildunterschrift, gerade einem Besucher zeigt. Selbstbewusst liegt Bochardts Arm auf dem Geländer der Reling, von der sie stolz hinunter schaut – nicht nur auf den Rest ihres Schiffes oder die Werft, sondern auch auf den Fotografen und damit den Betrachter. Eine strenge Frisur und Kleidung, sowie markante Gesichtszüge deuten einen resoluten Charakter an.
Zur Reederei war die 1877 geborene Borchardt 1915 gekommen, als sie ihren in den Krieg gezogenen Mann Richard Borchardt zum ersten Mal als Prokuristin vertreten musste. Borchardt hatte die Reederei im Jahre 1905 von ihrem Gründer Carl Tiedemann übernommen. „Fairplay“ war der Name des ersten Schleppers gewesen, den Carl Tiedemann für sein junges Unternehmen im Jahre 1895 erworben hatte. Diesen Namen wählte er für seine Reederei. Er sollte Vertrauen erwecken und der Reederei so Vorteile im internationalen Geschäft verschaffen. Mit dem Tod ihres Mannes im Jahre 1930 wurde Lucy Borchardt zur alleinigen Geschäftsführerin der angesehenen Reederei.
Nach der Vorstellung Borchardts auf dem ersten Foto, macht das Foto rechts daneben den Betrachter mit den Schiffen der Reederei vertraut. Es zeigt einen Schlepper der Reederei, wie er einen großen Dampfer zieht, der laut Bildunterschrift durch ein Leck in Not geraten ist. Die Größenverhältnisse der beiden Schiffe und die Abhängigkeit des großen Dampfers vom kleinen Schlepper begünstigen das Bild einer einflussstarken, angesehenen Reederei. Der programmatische Name des Schiffes, „Fairplay XV“, der deutlich sichtbar ist, und die Tatsache, dass es sich bei dem ziehenden Schlepper um das Schiff einer Reederei unter dem Vorsitz einer jüdischen Reederin handelt, entbehren nicht einer gewissen Ironie in einer Zeit täglicher Schikanen und Drohungen gegen die jüdische Bevölkerung. Bei gleichzeitiger Einschränkung durch eine scharfe Zensur der nationalsozialistischen Behörden, waren zweideutige Bildbotschaften ein Mittel, ein wenig jüdisches Selbstbewusstsein zu wahren und sich gegen die täglichen Demütigungen durch die nationalsozialistischen Behörden zur Wehr zu setzen.
Borchardt war nicht nur eine angesehene Hamburgerin, sondern sie setzte sich auch tatkräftig für Hamburgs Juden ein. Zusammen mit Naftali Unger aus Palästina, der einige Zeit in Hamburg verbrachte, organisierte sie 1935 die zionistische Seefahrts-Hachschara. Die Hachschara war ein Vorbereitungsprogramm, das es jungen deutschen Juden ermöglichte, einen Beruf zu erlernen und sich so für die Auswanderung nach Palästina zu qualifizieren. Die Reederei wurde durch Borchardts Engagement ebenfalls zum Ort der beruflichen Umschulung. Absolventen erhielten Zertifikate des Palästina-Amtes für Auswanderung, mit denen sie Deutschland verlassen konnten. Zur gleichen Zeit wurden in Palästina zwei Kibbutzim gegründet, welche die Seefahrt als Industrie in Palästina etablierten und die Auswanderer aufnehmen konnten.
Die Hachschara-Arbeit der Fairplay geschah nicht ohne gewisse Risiken, da von Seiten der Deutschen Arbeitsfront (DAF) offiziell das Verbot bestand, jüdische anstelle von „arischen“ Arbeitern zu beschäftigen. Borchardt schaffte es, dieses Verbot unter anderem aufgrund vieler Uneinigkeiten innerhalb der Behörden erfolgreich zu umgehen.
Das dritte Foto, das durch seine Platzierung in der Mitte der Seite wie auch die Wahl des Rundauschnittes in besonderer Weise ins Auge fällt, zeigt Borchardt im Gespräch mit einem Heizer. Erstmals sieht man nicht nur den Kopf von Lucy Borchardt, sondern ihre gesamte, matronenhafte Statur einschließlich ihrer stolzen, geraden Haltung. Wie auf dem ersten und dem letzten Foto ist sie auch hier von der Seite aufgenommen, nie blickt sie geradeaus in die Kamera, was eine gewisse Unnahbarkeit andeutet, die wiederum auf eine besondere Geschäftigkeit und Würde hinweist. Der Heizer schaut von seiner Arbeitsstelle zu Borchardt auf, gleichzeitig lässt die lockere Haltung des Arbeiters und sein vertrauensvoller Blick zu Borchardt auf ein gutes Verhältnis zwischen ihm und seiner Vorgesetzen schließen. Die Ähnlichkeit dieses Fotos zur Arbeiter- und Industriefotografie der 1920er- und 1930er-Jahre in Deutschland ist auffällig. So nehmen die klaren, geometrischen Formen der Maschinen, an denen der Heizer arbeitet, und mit denen er sich auskennt, genauso viel Raum ein wie die beiden Personen. Das Foto wirkt gestellt; es wird augenscheinlich viel Wert auf die Proportionen im Bild, die Blicke und Haltung der Personen und das Zusammenspiel aus Mensch und Maschine gelegt.
Auf dem vierten und letzten Foto, das gleichzeitig das größte von allen ist, steht Borchardt links im Kreis umringt von sieben Schiffsleuten. Dass die Mienen aller freundlich, interessiert und fast belustigt wirken, lässt auf eine zwanglose Konversation schließen. Die Bildunterschrift unterstreicht Borchardts mütterliche Rolle, indem hier von „ihren“ Seeleuten die Rede ist. Durch die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den jungen Männern wird ihr mütterlicher Charakter einmal mehr betont, der nicht nur ihre Stellung als Chefin der Belegschaft zu verfestigen scheint, sondern auch auf ihren Einsatz für die zionistischen Jugendbewegung anspielen könnte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, aus jüdischen Jugendlichen „neue“ Juden zu machen. Neben der Vermittlung der jugendlichen Auszubildenden nach Palästina verhalf Borchardt außerdem der unter anderem von einem ihrer Söhne Jens neu gegründeten Atid Navigation Company in Haifa zu zwei Schiffen. Darin liegt ein weiterer Grund für die Charakterisierung Borchardts als „Mutter der jüdischen Seefahrt“. Jens Borchardt war 1934 nach Palästina ausgewandert. Im Text wird zusätzlich zu den zahlreichen Anspielungen auf die Mutter-Rolle Borchardts mit Stolz die Tatsache betont, dass die Reederei Fairplay von einer Frau geleitet werde und, dass Borchardt damit, „so weit man weiß, die einzige Reederin der Welt“ (S. 7) sei. Für einen Artikel in der Fotobeilage des Israelitischen Familienblattes durfte ein Kommentar zu ihrer Rolle innerhalb des jüdischen Lebens in Hamburg nicht fehlen. So wird hervorgehoben, dass sie auch dort eine „bekannte und geachtete Persönlichkeit“ (S. 7) sei. Quellen zu ihrem Engagement in der Gemeinde bestätigen diese Aussage jedoch nicht. Borchardt soll der Gemeinde „nicht allzu nahe“ Lorenz, Seefahrts-Hachschara, S. 450. gestanden haben und war weniger am jüdischen Leben als am Zionismus interessiert.
Deutlich wird insgesamt, dass der Urheber des Artikels bemüht ist, fern jeder politischen oder parteiischen Gesinnung, ein positives Bild einer Frau zu zeichnen, auf welche die Hamburger Juden und darüber hinaus sämtliche Leser des Israelitischen Familienblattes stolz sein konnten – dies in einer Zeit, die von den Einschüchterungen nationalsozialistischer Behörden durch alltäglichen Antisemitismus beherrscht wurde. Wenigstens bis 1938 verkörperten sowohl das Israelitische Familienblatt als auch Borchardts Reederei „Fairplay“ ein selbstbewusstes deutsches Judentum. 1938 wurde die Reederei arisiert, was auch die Seefahrts-Hachschara unmöglich machte. Lucy Borchardt und ihr zweiter Sohn Kurt konnten Deutschland rechtzeitig Richtung London verlassen. Bereits vor 1938 war es der Reederei erlaubt worden, drei ihrer Schiffe ins Ausland zu bringen. Der Rest des Besitzes wurde beschlagnahmt. In London gründeten Lucy und Kurt Borchardt mit den drei mitgebrachten Schiffen wieder eine „Fairplay“-Reederei. Obwohl ihnen nach dem Krieg ihr Hamburger Besitz zurück übergeben wurde, kehrte Lucy Borchardt nicht nach Hamburg zurück, sondern blieb Geschäftsführerin der englischen Niederlassung der Reederei. Sie starb 1969 in London.
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Rebekka Großmann, M. A., schreibt derzeit ihre Dissertation zum Thema „Die Mobilität der Bilder. Fotografie und Nationalität in Palästina 1920-1950“. Zu ihren Forschungsinteressen zählen: jüdische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, jüdische Politik, Geschichte des jüdischen Nationalismus, Filmgeschichte, visuelle Kultur und europäische Ideengeschichte.
Rebekka Großmann, „Mutter Borchardt“ – eine jüdische Reederin, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 09.01.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-168.de.v1> [22.12.2024].