Am 25.10.1941 rollte der erste Zug von Hamburg aus in das Ghetto Lodz. Am Tag zuvor hatten sich etwa 1.000 Hamburger Jüdinnen und Juden, die laut Transportliste für die Deportation vorgesehen waren, im ehemaligen Logenhaus in der Moorweidenstraße einzufinden. In den kommenden Wochen (8. und 18.11., 6.12.1941) sollten weitere Transporte in die „Ostgebiete“ folgen. Die Verfasserin des Briefes, die Hamburger Arabistin Hedwig Klein, mochte die drohende Gefahr, selbst deportiert zu werden, gespürt haben. Sie richtete am 2.11.1941 einen Brief an den Hamburger Bankier Dr. Rudolf Brinckmann, der seit 1920 im Bankhaus M. M. Warburg tätig war. Jenes Bankhaus war 1933 Mitgründer der Palästina Treuhandstelle zur Beratung Deutscher Juden (Paltreu) und organisierte den Finanztransfer des Vermögens deutscher Jüdinnen und Juden, die nach Palästina emigrierten. 1938, nachdem die Familie Warburg selbst aus Deutschland emigriert war, hatte Brinckmann die Leitung der Bank übernommen. Er verfügte über gute Kontakte in die Türkei, da er neben seinem Jura- und Nationalökonomiestudium auch orientalische Sprachen studiert hatte und bis 1920 für die Deutsche Bank im ehemaligen Konstantinopel tätig war. Als Hedwig Klein diesen Brief verfasste war sie 30 Jahre alt.
Die Tochter eines Kaufmanns aus Antwerpen, der im Ersten Weltkrieg auf Seiten des Deutschen Reiches gefallen war, hatte an der Hamburger Universität die Fächer Islamwissenschaft, Semitistik und Englische Philologie belegt. Ihr Studium schloss sie 1937 mit einer Doktorarbeit über eine „textkritische Teilausgabe einer arabischen Handschrift über die Geschichte von Oman“ ab, wie sie dem Adressaten berichtet. Trotz einer ebenso erfolgreichen mündlichen Prüfung im Jahr 1938 wurde ihr der Doktortitel aufgrund der „verschärften Massnahmen“ gegenüber der jüdischen Bevölkerung versagt. Diese verschärften Maßnahmen, die durch zunehmende Diskriminierung und Gewaltbereitschaft gegenüber der jüdischen Minorität gekennzeichnet waren, fanden mit den Novemberpogromen, bei denen auch in Hamburg Geschäfte demoliert, Synagogen geschändet oder niedergebrannt und Juden verschleppt wurden, einen ersten Höhepunkt. Carl Rathjens, den die Arabistin noch während ihres Studiums an der Hamburger Universität im Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients (Klopstockstrasse 33) kennengelernt hatte, unterstützte Kleins Entschluss, Deutschland zu verlassen. Er nutzte seine persönlichen Kontakte in den USA und Indien, um der in seinen Augen hervorragenden Arabistin ein Visum und eine angemessene Arbeitsmöglichkeit an einer Universität oder Forschungseinrichtung im Ausland zu verschaffen. Neben dem aus Hamburg emigrierten Orientalisten Julian Obermann, der nunmehr an der Yale University einen Lehrstuhl für Semitische Sprachen innehatte, fand sich auch in Bombay (heute Mumbai) ein Kollege, der seine Unterstützung anbot. Hedwig Klein erhielt im Sommer 1939 ein Visum für Indien und bestieg am 19.8.1939 den Dampfer „Rauenfels“, der sie in eine, wenn auch unbekannte Zukunft geleiten sollte. In einer vom 21.8.1939 datierten Briefkarte, die Hedwig Klein von Bord des Schiffes an Carl Rathjens richtete, heißt es: „[…] ich bin ganz allein an Bord gegangen und war doch traurig darüber – aber nicht wegen der Tatsache an sich. […] Mich bedrückt nur der Gedanke an die Lage meiner Angehörigen. Gestern Nachmittag hat das Schiff den Hafen verlassen, und morgen früh soll es in Antwerpen sein, wo ein viertägiger Aufenthalt vorgesehen ist. […] Ich fühle mich bei dem schönen Wetter sehr wohl an Bord und mache mir im Augenblick keine Sorgen um die Zukunft. Allah wird schon helfen.“ Nachlass Carl Rathjens, Staatsarchiv Hamburg, zitiert in: Peter Freimark, Promotion Hedwig Klein – zugleich ein Beitrag zum Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orient, in: Eckart Krause et al. (Hrsg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, Bd. 2, Hamburg 1991, S. 851–864, hier S. 854.
Als das Schiff den Hafen von Antwerpen bereits verlassen hatte, wurden alle deutschen Schiffe aufgefordert, schnellstmöglich Kurs auf nächstgelegene Heimathäfen zu nehmen, ein indirektes Signal für den baldigen Einmarsch in Polen und die möglichen Konsequenzen.
Hedwig Klein musste zwangsweise nach Deutschland zurückkehren und zog erneut in das in Familienbesitz befindliche Haus in der Parkallee 26, das sie wenige Wochen zuvor in der Gewissheit verlassen hatte, wahrscheinlich nie wieder dorthin zurückzukehren. Die nächsten Monate waren von der Hoffnung gekennzeichnet, Deutschland doch noch verlassen zu können. Eine Zukunft in Indien rückte in weite Ferne, da sich das Land seit dem 3.9.1939 mit dem Deutschen Reich im Kriegszustand befand.
So wie im gesamten Deutschen Reich verschärfte sich auch in Hamburg die Lage für die jüdische Bevölkerung zusehends. Hedwig Klein und ihre Schwester Therese mussten nunmehr ihr ganzes Bemühen auf die Sicherung des Lebensunterhaltes für sich, die Mutter sowie die Großmutter richten.
Durch Vermittlung von Professor Arthur Schaade, der vier Jahre zuvor der Zweitgutachter von Hedwig Kleins Doktorarbeit war, wurde der Arabist Hans Wehr im August 1941 auf die jüdische Arabistin aufmerksam gemacht. Wehrmacht und Kriegspropaganda waren in hohem Maße an der Fertigstellung des Arabischen Wörterbuchs für die Schriftsprache der Gegenwart interessiert, das als Basis für eine vom Deutschen Reich autorisierte Arabisch-Übersetzung von Hitlers Mein Kampf dienen sollte und die Mitarbeit von Hedwig Klein wurde als „kriegswichtig“ bewertet. Wehr beauftragte die um drei Jahre jüngere Kollegin mit der Auswertung von Werken der zeitgenössischen arabischen Literatur. Dafür erhielt sie für jede auf einem Zettel angelegte Wortbedeutung 10 Pfennig Honorar. Ein Arbeitsplatz in der Redaktion wurde ihr verwehrt und so sandte sie die beschrifteten Zettel an Wehrs Mitarbeiter, die die „ausgezeichnete Qualität“ ihrer Beiträge schätzten. Gab es seitens mancher Redaktionsmitglieder schon gegenüber dem Kollegen Andreas Jacobi Vorbehalte, dessen Vater Jude war, was die Gleichberechtigung bei der redaktionellen Arbeit am Wörterbuch betraf, so formulierte ein Wehr-Mitarbeiter in einem Schreiben an Arthur Schaade vom 8.8.1941 ganz unverblümt: „Allerdings ist es natürlich völlig unmöglich, dass sie Hedwig Klein später unter den Mitarbeitern genannt wird.“ Nachlass Arthur Schaade, Staatsarchiv Hamburg, zitiert in: Freimark, Promotion Hedwig Klein , S. 856.
Als am 23.10.1941 die Auswanderung von Juden endgültig verboten wurde und sich zwei Tage später der erste Deportationszug von Hamburg nach Lodz in Bewegung setzte, mag Hedwig Klein nochmals ihren ganzen Mut zusammengenommen haben um am 2.11.1941 den vorliegenden Brief, vermutlich auf Empfehlung ihres Mentors, dem Wirtschaftsgeografen und Orientexperten Dr. Carl Rathjens, zu verfassen. Ohne dies explizit zu formulieren, bat sie den an Einfluss und Kontakten sicherlich reichen Bankier Brinckmann um Hilfe. Unmittelbar nach der Anrede formulierte sie ihren Wunsch in die Türkei auszuwandern und dies nicht um aus Deutschland zu fliehen, sondern vielmehr um sich als in Deutschland solide ausgebildete Orientalistin in der Türkei nützlich zu machen, insbesondere durch die (noch nicht erfolgte) Erschließung des „reichen Quellenmaterials“. Möglicherweise war Hedwig Klein zu Ohren gekommen, dass die Türkei an deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern interessiert sei, die dabei halfen neue Universitäten in der Türkei aufzubauen und ein Bibliothekswesen nach deutschem Vorbild zu etablieren. Letzteres war schließlich das Berufsziel, das die einstige Studentin in ihrem Lebenslauf angegeben hatte: „Wissenschaftlicher Bibliotheksdienst“.
Ob es ein Antwortschreiben von Dr.
Rudolf Brinckmann gab,
ist nicht bekannt. Während sich ihre Schwester
Therese am
6.12.1941 in dem auch für
Hedwig Klein
vorgesehenen vierten Hamburger Deportationszug nach
Riga befand, wo sie
unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurde, arbeitete
Hedwig Klein in den
nächsten Monaten weiter an der Fertigstellung des Arabischen Wörterbuchs für
die Schriftsprache der Gegenwart. Derweil mussten sie, ihre
Mutter und
Großmutter die eigene Wohnung, die wie das
gesamte Wohnhaus im Besitz der Familie war, verlassen und in ein
„Judenhaus“
in die Kielortallee 13
ziehen. Dort erhielt sie am 11.7.1942 die
Aufforderung, sich an der Sammelstelle für den fünften Hamburger
Judentransport einzufinden. Es war der erste und einzige Zug, der direkt von
Hamburg nach
Auschwitz fahren sollte.
Hedwig Klein wurde
vermutlich wenig später dort ermordet. Am
10.8.1951 gab das
Amtsgericht
Hamburg
dem Antrag von Carl
Rathjens statt und erklärte sie für tot. Mit der Verlegung von
Stolpersteinen für Hedwig
Klein vor dem
Wohnhaus
der Familie sowie vor dem
Hauptgebäude
der Universität
Hamburg
wurden erste Schritte der lokalen Erinnerungsarbeit getan. Es bleibt zu
wünschen, das weitere folgen werden, wie beispielsweise ein längst
überfälliger Hinweis in einem Standardwerk: Nachdem bis zur 5. Auflage
(1985) die Mitarbeit
Hedwig Kleins am
Arabischen Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart ignoriert wurde,
heißt es im letzten Absatz des Vorwortes der am
16.12.2020 erschienene 6. Auflage:
„Den Erben Hans
Wehrs und dem
Verlag ist es ein
besonderes Anliegen, an dieser Stelle einer Mitarbeiterin
Hans Wehrs zu
gedenken, die an der ersten Auflage beteiligt war, der Jüdin
Hedwig Klein. Ihre
Mitwirkung an einem als „kriegswichtig“ eingestuften Wörterbuchunternehmen
bewahrte sie nicht vor der Deportation nach
Auschwitz, wo sie
1942 ermordet wurde.
Wiesbaden im
Juli 2020
Für den Verlag
Dr.
Barbara Krauß“
Der vorliegende handschriftliche Brief
Hedwig Kleins an
Rudolf Brinckmann ist
eines der wenigen überlieferten persönlichen Dokumente jener klugen und
überaus talentierten Arabistin, der unter anderen Konstellationen sicherlich
eine vielversprechende Karriere bevorgestanden hätte. Bis zuletzt, und das
zeigt diese Quelle recht eindrücklich, blieb
Hedwig Klein
optimistisch und hoffte auf eine Zukunft: „wenn ich den Wunsch äussere, in
die Türkei
auszuwandern, so glaube ich, dass ich mich dort als
Orientalistin betätigen könnte.“
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Kotowski, Elke-Vera, Dr. phil., Studium der Politische Wissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaft in Duisburg und Berlin. Promotion in Jüdischen Studien. 1994–2000 Assistentin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte II (deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam und während dieser Zeit am Aufbau des Studiengangs „Jüdische Studien“ beteiligt. Seit 2000 forscht und lehrt sie am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam (Geschichte, Jüdische Studien, Kultur und Medien). Forschungsschwerpunkte: Europäisch-jüdische Kultur- und Sozialgeschichte, in diesen Themenfeldern ist sie auch als Ausstellungskuratorin tätig.
Elke-Vera Kotowski, Wissenschaftsnetzwerke – die versuchte Emigration der Arabistin Hedwig Klein, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 27.10.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-280.de.v1> [22.12.2024].