Bei der Quelle handelt es sich um eine 15 Druckseiten (etwa 3400 Wörter) umfassende bildungsphilosophische Abhandlung, die zuerst im Schulprogramm der Hamburger Israelitischen Freischule von Juni 1821 erschien. Schulprogramme waren im 19. Jahrhundert übliche Einladungsschriften an das Publikum, sich bei Gelegenheit der ein- oder zweimal jährlich stattfindenden öffentlichen Prüfungen vom Kenntnisstand der Schüler und somit auch von der Leistungsfähigkeit der Schule zu überzeugen. Meist enthielten sie neben Nachrichten über Schülerzahl, Lehrpersonal und Förderer auch einen Aufsatz, der das Selbstverständnis der Schule pointiert darlegte.
Eduard Israel Kley, der Verfasser der vorliegenden Abhandlung, leitete die 1815 gestiftete Hamburger Israelitische Freischule von 1817 bis 1848. Zuvor war er Prediger im privaten Reformtempel von Israel Jacobson in Berlin gewesen: Die dort nach protestantisch-reformiertem Vorbild eingeführten und in traditionellen Synagogen verpönten Elemente – Predigten in deutscher Sprache, Gesang mit Orgelbegleitung, Konfirmation anstelle von Bar und Bat Mitzwa – brachte Kley nach Hamburg mit. Durch die Veröffentlichung in der von David Fränkel herausgegebenen Zeitschrift Sulamith erlangte die Abhandlung Bekanntheit überall im deutschen Sprachraum.
Nach zeitgenössischer Ansicht galt Kleys Abhandlung als die eines einsichtsvollen Verfassers, der zeige, dass das einzige Mittel zur Veredlung der Jugend gehörig und zweckmäßig eingerichtete Volksschulen seien. Und da von der Jugend „die bürgerliche Verbesserung der Juden selbst“ abhänge, dürften Volksschulen nicht bloß Unterrichtsanstalten, sondern müssten Erziehungs- und Bildungsanstalten sein: „wie die Veredlung des Menschen in der Volksschule bewirkt werden könne und solle durch Bildung des Denkvermögens und des Willens, durch Verbesserung des Religionsunterrichts, wird sehr gut entwickelt.“ Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1821, hrsg. von einer Gesellschaft Gelehrter und besorgt von Christian Daniel Beck, Bd. 4, Leipzig 1821, S. 397. Wie Kleys Text selbst, so lässt auch diese Einschätzung aus heutiger Sicht kaum mehr deutlich werden, wie umstritten seine Auffassungen waren und wie heftig die Kontroverse zwischen Traditionalisten und Modernisierern um Religionsreform damals ausgetragen wurde.
Eduard Israel Kley war Prediger und Pädagoge und gilt heute als einer der Begründer des Reformjudentums. Er wurde in Wartenberg bei Breslau geboren und war Schüler, später Lehrer an der Königlichen Wilhelmsschule in Breslau, einer jüdisch reformierten Schule, deren Gründung die preußische Provinzialregierung im Zuge einer umfassenden Neuordnung des „Judenwesens“ angeordnet hatte. Lange vor dem preußischen Emanzipationsedikt von 1812 erhielten dadurch die Juden Schlesiens bereits 1790 wesentlich erweiterte Freiheiten der Wahl von Beruf und Erwerbstätigkeit. Kley erfuhr bereits in jungen Jahren aus unmittelbarer Nähe von den rechts- und kulturpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit: von den zähen Bemühungen um rechtliche Gleichstellung der Juden, um ihre „bürgerliche Verbesserung“, von der seit Dohms Schrift (1781) verstärkt die Rede war, vom Konflikt um die Erneuerung der Religion in Synagoge und Schule, der sich in der Wilhelmsschule speziell am Stellenwert des Talmudunterrichts entzündete. Alle diese Kämpfe sind in seiner Abhandlung noch rund 30 Jahre später in und zwischen den Zeilen gegenwärtig.
1814, noch in Berlin, versuchte Kley, für das von ihm mitverfasste Lehrbuch „Katechismus der mosaischen Religion“ die Approbation des orthodoxen Vize-Oberlandrabbiners Meyer Simon Weyl zu erwirken, was misslang. Bemerkenswert ist jedoch das Motiv, das er für die Schrift nannte: Es bestehe nämlich die Gefahr, dass „mit dem leider überhand nehmenden Verfall der hebräischen Sprache in öffentlichen Anstalten sowohl, als auch in Privat-Erziehung die Kenntniß der mosaischen Religion und mit derselben alles religiöse Gefühl täglich geringer wird und endlich ganz zu erlöschen droht.“ Es sei jedoch gerade die Religion, „welche durch ihre heiligen Gefühle und Lehren die Menschen nicht nur zu guten Menschen, sondern auch zu gewissenhaften Staatsbürgern, zu würdigen Haus- und Familienvätern bildet.“ Eduard Kley, Brief an die Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im April 1814, in: Ingrid Lohmann (Hrsg.), Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin 1778-1825 im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform, Münster u.a. 2001, S. 827. Hier wird deutlich, dass Kley die Situation in der jüdischen Gemeinde als Krise wahrnahm, die damals durch Säkularisierungsprozesse verursacht war. Ablesbar war die Krise etwa an der Zahl der Konversionen von Jüdinnen und Juden zum Christentum, an der speziell in aufgeklärten und gebildeten Kreisen verbreiteten Indifferenz gegenüber Religion überhaupt, am Verlust der hebräischen Sprache.
Angesichts dessen hatten Moses Mendelssohn, Naphtali Herz Wessely, Isaak Euchel, David Friedländer und andere Maskilim für ihr Programm einer Aufklärung der Juden die Reform der Religion in den Mittelpunkt gestellt. Zugleich sollten Erziehung und Unterricht der Jugend auf die entstehende moderne bürgerliche Gesellschaft hin ausgerichtet, jungen Juden andere Erwerbszweige als Trödel und Kleinhandel eröffnet werden. Insbesondere Wessely nahm in einer Streitschrift (1782) die argumentative Grundfigur einer Erziehung des Menschen zum Menschen vorweg, wie sie für die klassische liberale Konzeption allgemeiner Bildung kennzeichnend wurde: Neben die allgemeine Bildung des Menschen sollte auch für die jüdische Jugend die besondere Bildung des Bürgers treten, nämlich eines Bürgers jüdischen Glaubens. Diese Auffassung bestimmt auch Kleys Abhandlung. Dass er mit seinen Gestaltungsvorstellungen für die Hamburger Israelitische Freischule auf den Widerstand der Orthodoxen stieß, ist bekannt. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass er noch an einer anderen Front kämpfte: So fällt auf, dass Kley eine Bildungsbegrenzung für seine überwiegend aus unterbürgerlichen Schichten stammende Schülerschaft abwehrte – in Frage zu stellen, „ob Denken für das Volk zuträglich sei“ (S. 388), wies er ausdrücklich ab – und forderte auch für sie, nicht allein „für einen bestimmten Stand oder Beruf vorbereitet“ (S. 386), sondern vor allem auch allgemein gebildet zu werden.
Anders als die programmatischen Reformvorstellungen der Haskala aus späterer Sicht oft gewertet worden sind, waren in den Augen ihrer Protagonisten Maßnahmen notwendig, um das Judentum zu erhalten und den Verfall der Religion abzuwehren. Die meisten Ober- und Mittelschichtfamilien hatten sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft längst geöffnet und trieben die historische Tendenz der Verbürgerlichung aktiv mit voran; Bildung galt dafür als wichtigstes Mittel. Kley nutzte seine organisatorischen Möglichkeiten als Schulleiter, um auch seine Schülerschaft in den Genuss des liberalen Konzepts allgemeiner Bildung des Menschen zu bringen – und sie trotzdem jüdisch-religiös zu erziehen. Dass es nicht zuletzt darum ging, bei der Jugend Akzeptanz für ihre künftigen nicht-privilegierten sozialen Positionen zu erzeugen, zeigen Formulierungen wie die, dass sie nur so, auf diese Weise gebildet, „zu Arbeiten jeder Art willig und unverdrossen“ (S. 394) bereit sein werde.
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Ingrid Lohmann (Thema: Erziehung und Bildung), Prof. Dr. phil, ist Professorin für Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Zusammenhänge von Wirtschaft und Bildung seit Beginn der Neuzeit, besonders Privatisierung und Kommerzialisierung im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, sowie jüdische Bildungsgeschichte, insbesondere in der deutschen Spätaufklärung.
Ingrid Lohmann, Der Bürger jüdischen Glaubens als Bildungsideal. Eduard Israel Kleys Abhandlung zu Israelitischen Volksschulen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 09.08.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-28.de.v1> [21.12.2024].