Das kaiserliche Judenreglement von 1710: eine neue formale Rechtssicherheit für die Hamburger Juden

Ina Lorenz

Quellenbeschreibung

Nachdem am Ende des 17. Jahrhunderts ein Machtkampf zwischen Rat und Bürgerschaft der Stadt entbrannt war, sollte mit Hilfe einer revidierten Verfassung die politische Stabilität zurück gewonnen werden. Das Judenreglement von 1710 wurde zum rechtlichen Bestandteil der neuen städtischen Verfassung, dem sogenannten Hauptrezess, von 1712. Im Staatsarchiv Hamburg ist als Original die zwanzigseitige Pergamenturkunde des Reglements von 1710 als eine Bestätigung vom 17.7.1717 durch Kaiser Karl VI. überliefert. Sein 1711 verstorbener Bruder, Kaiser Josef I., hatte das Judenreglement am 17.9.1710 im Rahmen einer angestrebten Revision der Hamburger Verfassung als eine Neuordnung des Judenrechts erlassen.
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Entstehungsgeschichte des Judenreglements von 1710


Im Stadt­ge­biet von Ham­burg wohn­ten seit den zwan­zi­ger Jah­ren des 17. Jahr­hun­derts hoch­deut­sche Juden. Ihr Auf­ent­halt ent­behr­te einer ge­si­cher­ten recht­li­chen Grund­la­ge. Al­ler­dings be­sa­ßen sie zu­meist schaum­bur­gi­sche, spä­ter dä­ni­sche Schutz­brie­fe, die sich aber häu­fig nur auf Hol­stein be­zo­gen. Der Rat der Stadt dul­de­te sie, nicht zu­letzt auf­grund der Für­spra­che der in Ham­burg an­we­sen­den por­tu­gie­si­schen Juden. Auch über pri­va­te Ab­ma­chun­gen mit der Käm­me­rei wird be­rich­tet. Das ge­schah gegen den Wi­der­stand der lu­the­ri­schen Geist­lich­keit sowie der Bür­ger­schaft der protestantisch-​orthodoxen Stadt. Im Win­ter 1657/58 flo­hen zahl­rei­che Al­to­na­er Juden wegen des schwedisch-​dänischen Krie­ges nach Ham­burg. Ei­ni­ge konn­ten auf­grund pri­va­ter Ab­ma­chun­gen hier ein Nie­der­las­sungs­recht er­rei­chen. Auch die­ses ohne eine recht­li­che Grund­la­ge. Dies woll­te der Rat der Stadt am 28.5.1697 durch die „Re­vi­dir­te Ar­ti­cu­li, wor­nach die Hoch­deut­sche Juden, so in die­ser Stadt Schuz ge­nom­men, zu rich­ten haben sol­len“ Ab­ge­druckt bei Max Grun­wald, Ham­burgs deut­sche Juden bis zur Auf­lö­sung der Drei­gemein­den 1811, Ham­burg 1904, S. 184. än­dern. Der Rat konn­te die er­for­der­li­che Zu­stim­mung der Bür­ger­schaft je­doch nicht er­lan­gen. Da der Streit zwi­schen Rat und Bür­ger­schaft somit wei­ter schwel­te, wurde von der Ham­bur­ger Ju­den­schaft eine kai­ser­li­che Kom­mis­si­on unter dem spä­te­ren Kar­di­nal Da­mi­an von Schön­born an­ge­ru­fen, den Kon­flikt bei­zu­le­gen. Die Kom­mis­si­on ord­ne­te die Rechts­ver­hält­nis­se der asch­ke­na­si­schen (hoch­deut­schen) und se­far­di­schen (por­tu­gie­si­schen) Juden mit dem Ju­den­re­gle­ment von 1710 neu. Die­ses Re­gle­ment wurde zwei Jahre spä­ter zum recht­li­chen Be­stand­teil der neuen Ham­bur­ger Ver­fas­sung, dem so­ge­nann­ten Haupt­re­zess von 1712. Der Haupt­re­zess ent­spricht – aus heu­ti­ger Sicht – einem städ­ti­schen Ver­fas­sungs­recht.

Regelungsgehalt


Das Ju­den­re­gle­ment wurde zur ge­setz­li­chen Grund­la­ge für das Bleibe-​ und Wohn­recht der Juden in Ham­burg. Es rich­te­te sich in fast gleich­lau­ten­den Ar­ti­keln an die se­far­di­schen und an die asch­ke­na­si­schen Juden. Schutz­gel­der, wie in an­de­ren deut­schen Län­dern üb­lich, waren nicht zu zah­len. Die ers­ten Ar­ti­kel re­gel­ten die Re­li­gi­ons­aus­übung der Juden: Die Aus­übung ihres ei­ge­nen jü­di­schen Glau­bens wurde ihnen ge­währt. Gleich­wohl ver­hielt sich das lu­the­ri­sche Ham­burg stren­ger als etwa die geist­li­chen Fürs­ten­tü­mer oder Preu­ßen. An Sonn- und Fei­er­ta­gen hat­ten sich die Juden still und un­auf­fäl­lig zu ver­hal­ten. Ihre Klei­dung soll­te be­schei­den „mo­dest und ohne Pracht und Ubermuht“ sein. Sie durf­ten die Chris­ten nicht rei­zen oder be­lei­di­gen. Der Got­tes­dienst muss­te sich leise und dis­kret voll­zie­hen, also ohne „Läu­tens, Ge­rufs und Bla­sen auf Hör­nern und Po­sau­nen“. Das „ex­er­ci­ti­um re­li­gio­nis pu­bli­cum“, das heißt die öf­fent­li­che Re­li­gi­ons­aus­übung, wurde ihnen ver­sagt. Das Be­gräb­nis­we­sen wurde näher ge­re­gelt, so durf­ten etwa dem To­ten­wa­gen höchs­tens zwei Kut­schen fol­gen. Ein Jude, der 14 oder 15 Jahre alt war, durf­te nicht daran ge­hin­dert wer­den, zum Chris­ten­tum zu kon­ver­tie­ren. Ihren Got­tes­dienst soll­ten Juden nur in pri­va­ten Häu­sern ab­hal­ten. Ehe­bruch mit Chris­ten wurde be­straft. Christ­li­che Dienst­bo­ten konn­ten an­ge­stellt, durf­ten aber an ihrer Re­li­gi­ons­aus­übung nicht ge­hin­dert wer­den. Den Juden wurde ein recht um­fas­sen­der staat­li­cher Schutz zu­ge­si­chert. In Streit­fra­gen waren mit Aus­nah­me von Ze­re­mo­ni­al­sa­chen (die Summe jü­di­scher Ge­set­ze und Ver­ord­nun­gen) die Ham­bur­ger Ge­rich­te, nicht aber die Ju­ris­dik­ti­on des Al­to­na­er Ober­rab­bi­nats zu­stän­dig. Ein rab­bi­ni­scher Schei­de­brief blieb un­ter­sagt. Zahl­rei­che Re­ge­lun­gen be­fass­ten sich mit dem wirt­schaft­li­chem Ver­hal­ten und hier­auf be­zo­ge­nen Ver­feh­lun­gen. Die Zins­er­he­bung war er­laubt, der Wu­cher bei Ver­lust des Ka­pi­tals ver­bo­ten. Eine all­ge­mei­ne Nie­der­las­sungs­frei­heit si­cher­te das Re­gle­ment nicht zu. Auch Grund­be­sitz durf­te nicht auf den Namen eines Juden ein­ge­tra­gen und damit nicht er­wor­ben wer­den. Im­mer­hin soll­ten die Juden nicht ge­hal­ten sein, nur in be­stimm­ten Be­zir­ken get­to­ar­tig zu woh­nen.

Wirkungsgeschichte


Das Re­gle­ment be­deu­te­te für die Stadt einen innen-​ und au­ßen­po­li­ti­schen Er­folg. Zum einen gab es dem Rat das er­wünsch­te Rechts­in­stru­ment in die Hand, seine staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät und sei­nen welt­li­chen Ju­ris­dik­ti­ons­an­spruch ge­gen­über den in Ham­burg woh­nen­den Juden durch­zu­set­zen. Zum an­de­ren war es eine kai­ser­li­che An­er­ken­nung der Han­se­stadt ge­gen­über den dä­ni­schen Macht­an­sprü­chen. Denn bis zum Got­tor­fer Ver­gleich von 1756 ver­trat Dä­ne­mark die Auf­fas­sung, Ham­burg sei kei­nes­wegs eine reichs­un­mit­tel­ba­re Reichs­stadt, son­dern liege viel­mehr auf hol­stei­ni­schem Ter­ri­to­ri­um. Für die Ham­bur­ger Juden be­deu­te­te es hin­ge­gen – auch im Be­reich re­li­giö­ser Pri­vi­le­gi­en und Re­strik­tio­nen – ein hohes Maß an zu­min­dest for­ma­ler Rechts­si­cher­heit. Noch im sel­ben Jahr er­gin­gen die neuen Sta­tu­ten der Ham­bur­ger (asch­ke­na­si­schen) Ge­mein­de. Den­noch ver­moch­te das Re­gle­ment von 1710 den Ver­gleich mit den wei­ter­ge­hen­den, li­be­ra­len dä­ni­schen Pri­vi­le­gi­en nicht zu be­stehen.

An­ge­sichts der lo­ka­len Nähe zwi­schen Al­to­na und Ham­burg konn­te der Rat der Stadt die Be­schrän­kun­gen des Re­gle­ments indes nicht wirk­lich durch­set­zen. Das gilt ins­be­son­de­re ge­gen­über den dä­ni­schen Schutz­ju­den, wenn sich diese in Ham­burg auf­hiel­ten. Durch die Hoch­kon­junk­tur in Ham­burg wäh­rend und nach dem Sie­ben­jäh­ri­gen Krieg ver­än­der­ten sich die öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se der Stadt grund­le­gend. Der Ein­fluss des ultra-​orthodoxen Lu­ther­tums sank. Das bot den Juden die Mög­lich­keit des wirt­schaft­li­chen Auf­stie­ges und damit eine Sta­tus­ver­bes­se­rung.

1811 wurde das Ju­den­re­gle­ment mit der Ein­glie­de­rung in den fran­zö­si­schen Staats­ver­band und der Über­nah­me des fran­zö­si­schen Eman­zi­pa­ti­ons­rechts außer Kraft ge­setzt und die Fö­de­ra­ti­on der Drei Ge­mein­den AHW be­en­det. Es galt jetzt das fran­zö­si­sche Ge­setz vom 13.11.1791. Au­ßer­dem waren drei De­kre­te Na­po­le­ons vom 17.3.1808 an­zu­wen­den: Sie re­gel­ten unter an­de­rem die Or­ga­ni­sa­ti­on des jü­di­schen Kul­tus. Am 30.5.1814 räum­te die fran­zö­si­sche Macht Ham­burg end­gül­tig. Die Grün­dung des Deut­schen Bun­des be­stä­tig­te die stadt-​staatliche Stel­lung Ham­burgs, al­ler­dings im Sinne politisch-​restaurativer Kräf­te. Die Re­ge­lung der recht­li­chen Stel­lung der jü­di­schen Min­der­heit stand somit er­neut auf der Ta­ges­ord­nung. Be­reits am 13.5.1813 wand­ten sich die Ham­bur­ger Juden in einer Sup­plik an den Rat der Stadt und for­der­ten ihre Gleich­stel­lung. Das blieb eben­so er­folg­los wie ihre Ein­ga­be an den Wie­ner Kon­gress. Der in letz­ter Mi­nu­te ge­än­der­te Art. XVI Abs. 2 der Wie­ner Schluss­ak­te zer­stör­te alle ihre und an­de­re Hoff­nun­gen. Die Ham­bur­ger Juden muss­ten hin­neh­men, dass die Stadt auf sie das Ju­den­re­gle­ment von 1710 mehr oder min­der un­ver­än­dert wie­der an­wand­te. Nur die Tren­nung vom Al­to­na­er Ober­rab­bi­nat mit der Se­pa­ra­ti­ons­ak­te von 1812 ließ Ham­burg be­stehen. Un­klar bleibt, ob und wann die­ses Re­gle­ment förm­lich auf­ge­ho­ben wurde. An­fang der 1830er-​Jahre ver­such­ten die Ham­bur­ger Juden er­neut unter maß­geb­li­cher Be­tei­li­gung von Ga­bri­el Ries­ser eine Än­de­rung ihres Sta­tus zu er­rei­chen. Aber erst die Pro­vi­so­ri­sche Ver­ord­nung vom 21.2.1849 be­en­de­te der Sache nach das Re­gle­ment von 1710, ohne die­ses je­doch förm­lich auf­zu­he­ben. Ob­wohl Ham­burg auch nach dem Schei­tern der Pauls­kir­chen­ver­fas­sung nicht mehr zu dem Ju­den­re­gle­ment von 1710 zu­rück­kehr­te, be­deu­te­te erst die ham­bur­gi­sche Ver­fas­sung von 1860 einen wirk­li­chen Schluss­stein, indem sie die Tren­nung von Kir­che und Staat fest­schrieb.

Auswahlbibliografie


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Zur Autorin

Ina Lorenz (1940), Prof. Dr. phil. habil., bis 2005 stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonders im norddeutschen Raum; Quelleneditionen zu den jüdischen Gemeinden Hamburg, Altona und Wandsbek vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sowie Sozial- und Gemeindegeschichte der Juden mit Schwerpunkt NS-Zeit in Hamburg. Auch: http://mitglieder.gegj.de/lorenz-prof-em-dr-ina/

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Ina Lorenz, Das kaiserliche Judenreglement von 1710: eine neue formale Rechtssicherheit für die Hamburger Juden, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-38.de.v1> [23.05.2025].

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