Im Stadtgebiet von Hamburg wohnten seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts hochdeutsche Juden. Ihr Aufenthalt entbehrte einer gesicherten rechtlichen Grundlage. Allerdings besaßen sie zumeist schaumburgische, später dänische Schutzbriefe, die sich aber häufig nur auf Holstein bezogen. Der Rat der Stadt duldete sie, nicht zuletzt aufgrund der Fürsprache der in Hamburg anwesenden portugiesischen Juden. Auch über private Abmachungen mit der Kämmerei wird berichtet. Das geschah gegen den Widerstand der lutherischen Geistlichkeit sowie der Bürgerschaft der protestantisch-orthodoxen Stadt. Im Winter 1657/58 flohen zahlreiche Altonaer Juden wegen des schwedisch-dänischen Krieges nach Hamburg. Einige konnten aufgrund privater Abmachungen hier ein Niederlassungsrecht erreichen. Auch dieses ohne eine rechtliche Grundlage. Dies wollte der Rat der Stadt am 28.5.1697 durch die „Revidirte Articuli, wornach die Hochdeutsche Juden, so in dieser Stadt Schuz genommen, zu richten haben sollen“ Abgedruckt bei Max Grunwald, Hamburgs deutsche Juden bis zur Auflösung der Dreigemeinden 1811, Hamburg 1904, S. 184. ändern. Der Rat konnte die erforderliche Zustimmung der Bürgerschaft jedoch nicht erlangen. Da der Streit zwischen Rat und Bürgerschaft somit weiter schwelte, wurde von der Hamburger Judenschaft eine kaiserliche Kommission unter dem späteren Kardinal Damian von Schönborn angerufen, den Konflikt beizulegen. Die Kommission ordnete die Rechtsverhältnisse der aschkenasischen (hochdeutschen) und sefardischen (portugiesischen) Juden mit dem Judenreglement von 1710 neu. Dieses Reglement wurde zwei Jahre später zum rechtlichen Bestandteil der neuen Hamburger Verfassung, dem sogenannten Hauptrezess von 1712. Der Hauptrezess entspricht – aus heutiger Sicht – einem städtischen Verfassungsrecht.
Das Judenreglement wurde zur gesetzlichen Grundlage für das Bleibe- und Wohnrecht der Juden in Hamburg. Es richtete sich in fast gleichlautenden Artikeln an die sefardischen und an die aschkenasischen Juden. Schutzgelder, wie in anderen deutschen Ländern üblich, waren nicht zu zahlen. Die ersten Artikel regelten die Religionsausübung der Juden: Die Ausübung ihres eigenen jüdischen Glaubens wurde ihnen gewährt. Gleichwohl verhielt sich das lutherische Hamburg strenger als etwa die geistlichen Fürstentümer oder Preußen. An Sonn- und Feiertagen hatten sich die Juden still und unauffällig zu verhalten. Ihre Kleidung sollte bescheiden „modest und ohne Pracht und Ubermuht“ sein. Sie durften die Christen nicht reizen oder beleidigen. Der Gottesdienst musste sich leise und diskret vollziehen, also ohne „Läutens, Gerufs und Blasen auf Hörnern und Posaunen“. Das „exercitium religionis publicum“, das heißt die öffentliche Religionsausübung, wurde ihnen versagt. Das Begräbniswesen wurde näher geregelt, so durften etwa dem Totenwagen höchstens zwei Kutschen folgen. Ein Jude, der 14 oder 15 Jahre alt war, durfte nicht daran gehindert werden, zum Christentum zu konvertieren. Ihren Gottesdienst sollten Juden nur in privaten Häusern abhalten. Ehebruch mit Christen wurde bestraft. Christliche Dienstboten konnten angestellt, durften aber an ihrer Religionsausübung nicht gehindert werden. Den Juden wurde ein recht umfassender staatlicher Schutz zugesichert. In Streitfragen waren mit Ausnahme von Zeremonialsachen (die Summe jüdischer Gesetze und Verordnungen) die Hamburger Gerichte, nicht aber die Jurisdiktion des Altonaer Oberrabbinats zuständig. Ein rabbinischer Scheidebrief blieb untersagt. Zahlreiche Regelungen befassten sich mit dem wirtschaftlichem Verhalten und hierauf bezogenen Verfehlungen. Die Zinserhebung war erlaubt, der Wucher bei Verlust des Kapitals verboten. Eine allgemeine Niederlassungsfreiheit sicherte das Reglement nicht zu. Auch Grundbesitz durfte nicht auf den Namen eines Juden eingetragen und damit nicht erworben werden. Immerhin sollten die Juden nicht gehalten sein, nur in bestimmten Bezirken gettoartig zu wohnen.
Das Reglement bedeutete für die Stadt einen innen- und außenpolitischen Erfolg. Zum einen gab es dem Rat das erwünschte Rechtsinstrument in die Hand, seine staatliche Souveränität und seinen weltlichen Jurisdiktionsanspruch gegenüber den in Hamburg wohnenden Juden durchzusetzen. Zum anderen war es eine kaiserliche Anerkennung der Hansestadt gegenüber den dänischen Machtansprüchen. Denn bis zum Gottorfer Vergleich von 1756 vertrat Dänemark die Auffassung, Hamburg sei keineswegs eine reichsunmittelbare Reichsstadt, sondern liege vielmehr auf holsteinischem Territorium. Für die Hamburger Juden bedeutete es hingegen – auch im Bereich religiöser Privilegien und Restriktionen – ein hohes Maß an zumindest formaler Rechtssicherheit. Noch im selben Jahr ergingen die neuen Statuten der Hamburger (aschkenasischen) Gemeinde. Dennoch vermochte das Reglement von 1710 den Vergleich mit den weitergehenden, liberalen dänischen Privilegien nicht zu bestehen.
Angesichts der lokalen Nähe zwischen Altona und Hamburg konnte der Rat der Stadt die Beschränkungen des Reglements indes nicht wirklich durchsetzen. Das gilt insbesondere gegenüber den dänischen Schutzjuden, wenn sich diese in Hamburg aufhielten. Durch die Hochkonjunktur in Hamburg während und nach dem Siebenjährigen Krieg veränderten sich die ökonomischen Verhältnisse der Stadt grundlegend. Der Einfluss des ultra-orthodoxen Luthertums sank. Das bot den Juden die Möglichkeit des wirtschaftlichen Aufstieges und damit eine Statusverbesserung.
1811 wurde das Judenreglement mit der Eingliederung in den französischen Staatsverband und der Übernahme des französischen Emanzipationsrechts außer Kraft gesetzt und die Föderation der Drei Gemeinden AHW beendet. Es galt jetzt das französische Gesetz vom 13.11.1791. Außerdem waren drei Dekrete Napoleons vom 17.3.1808 anzuwenden: Sie regelten unter anderem die Organisation des jüdischen Kultus. Am 30.5.1814 räumte die französische Macht Hamburg endgültig. Die Gründung des Deutschen Bundes bestätigte die stadt-staatliche Stellung Hamburgs, allerdings im Sinne politisch-restaurativer Kräfte. Die Regelung der rechtlichen Stellung der jüdischen Minderheit stand somit erneut auf der Tagesordnung. Bereits am 13.5.1813 wandten sich die Hamburger Juden in einer Supplik an den Rat der Stadt und forderten ihre Gleichstellung. Das blieb ebenso erfolglos wie ihre Eingabe an den Wiener Kongress. Der in letzter Minute geänderte Art. XVI Abs. 2 der Wiener Schlussakte zerstörte alle ihre und andere Hoffnungen. Die Hamburger Juden mussten hinnehmen, dass die Stadt auf sie das Judenreglement von 1710 mehr oder minder unverändert wieder anwandte. Nur die Trennung vom Altonaer Oberrabbinat mit der Separationsakte von 1812 ließ Hamburg bestehen. Unklar bleibt, ob und wann dieses Reglement förmlich aufgehoben wurde. Anfang der 1830er-Jahre versuchten die Hamburger Juden erneut unter maßgeblicher Beteiligung von Gabriel Riesser eine Änderung ihres Status zu erreichen. Aber erst die Provisorische Verordnung vom 21.2.1849 beendete der Sache nach das Reglement von 1710, ohne dieses jedoch förmlich aufzuheben. Obwohl Hamburg auch nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung nicht mehr zu dem Judenreglement von 1710 zurückkehrte, bedeutete erst die hamburgische Verfassung von 1860 einen wirklichen Schlussstein, indem sie die Trennung von Kirche und Staat festschrieb.
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Ina Lorenz (1940), Prof. Dr. phil. habil., bis 2005 stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonders im norddeutschen Raum; Quelleneditionen zu den jüdischen Gemeinden Hamburg, Altona und Wandsbek vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sowie Sozial- und Gemeindegeschichte der Juden mit Schwerpunkt NS-Zeit in Hamburg. Auch: http://mitglieder.gegj.de/lorenz-prof-em-dr-ina/
Ina Lorenz, Das kaiserliche Judenreglement von 1710: eine neue formale Rechtssicherheit für die Hamburger Juden, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-38.de.v1> [20.11.2024].