Als der Konflikt um die Bebauung des jüdischen Friedhofgeländes in Ottensen bereits in vollem Gange war, nahm im November 1991 die Deutsche Rabbiner-Konferenz dazu Stellung. In ihrer Erklärung beurteilte sie das Vorgehen als einen klaren Verstoß gegen halachische Vorschriften und forderte einen Stopp jeglicher Baumaßnahmen auf dem Gelände. Das Dokument steht für die Hochphase des Streits, in dem die Konfliktlinien zwischen der Stadt, dem Bauträger sowie verschiedenen jüdischen Gruppen verliefen, deren Positionen aber keinesfalls einheitlich waren und sich zum Teil widersprachen.
Am 28.10.1661 erwarben aschkenasische Juden aus Hamburg auf holsteinischem Gebiet in dem dänisch regierten Ottensen einen Begräbnisplatz. Der Friedhof war auf freiem Gelände eingerichtet worden. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte verlor der Friedhof aufgrund der einsetzenden Siedlungsentwicklung seine Randlage. In wilhelminischer Zeit lag er dann inmitten eines gewerblich-industriell genutzten Gebietes der nun preußischen Stadt Altona. Diese wurde 1937 Teil der Hansestadt Hamburg. Während des Zweiten Weltkrieges errichtete die Wehrmacht auf dem Friedhofsgelände einen Hochbunker. Ein erheblicher Teil der Gräber wurde dabei zerstört. Im Dezember 1942 übertrug die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, der die Hamburger jüdische Gemeinde inzwischen angehörte, die Grundfläche zwangsweise auf die Hansestadt als neue Eigentümerin. Im November 1942 hatte die jüdische Gemeinde ihre Selbstständigkeit verloren, nachdem sie bereits im August der Reichsvereinigung eingegliedert worden war. Bereits im Sommer 1945 forderte die sich reorganisierende Gemeinde die Rückgabe des Friedhofsgeländes. Als die Hansestadt dies ablehnte, erhob die Gemeinde Klage vor dem Landgericht Hamburg (Wiedergutmachungskammer). Der Rechtsstreit wurde 1950 / 51 einverständlich beendet. Die Gemeinde und die Jewish Trust Corporation, die sich dazu als Treuhänderin früheren jüdischen Vermögens für befugt ansah, veräußerten das noch nicht rückübertragene Friedhofsgelände an den Warenhauskonzern Hertie. Auf dem Gelände entstand ein Kaufhaus.
Eine grundlegend neue Lage entstand 1990 und in den folgenden drei Jahren. Der Warenhauskonzern Hertie hatte 1988 den Betrieb des Ottensener Kaufhauses aufgegeben und das Gelände an den Hamburger Großinvestor Büll & Lüdtke veräußert. Dieser beabsichtigte, nach Abriss der vorhandenen Bauten, einschließlich des Hochbunkers, auf dem Gelände ein neues Einkaufszentrum zu errichten. Hierzu erteilte ihm das zuständige Bezirksamt Altona im November 1990 einen baurechtlichen Vorbescheid. Darin wurde die grundsätzliche Zulässigkeit des geplanten Bauvorhabens verbindlich bestätigt. Bereits zuvor war öffentlich bekannt geworden, dass das Bauvorhaben auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof realisiert werden sollte. Ob die Jüdische Gemeinde bereits seit Anfang 1990 die Bauabsichten kannte, ist ungewiss. Im März 1991 beantragte der Investor eine Baugenehmigung für das neue Einkaufszentrum. Spätestens im Frühsommer 1991 dürften gezielte Informationen aus Hamburg ausländische Juden in Israel, England und den USA erreicht haben. Fast zeitgleich fanden erste Proteste der Athra Kadischa, eine internationale, sehr gut vernetzte Gemeinschaft strenggläubiger Juden „zur Erhaltung heiliger jüdischer Stätten“, statt. Im August 1991 begannen Abbrucharbeiten, die genehmigt worden waren, und damit das, was man in der Fachsprache das „Freimachen des Baufeldes“ bezeichnet. Im September 1991 besetzten etwa 30 orthodoxe Juden aus Amsterdam die Baustelle. Das erregte, auch im Ausland, große Aufmerksamkeit. Die Athra Kadischa forderte die bedingungslose Rückgabe des ehemaligen Friedhofsgeländes. Sie argumentierte, dass die Veräußerung eines jüdischen Friedhofes religionsgesetzlich unzulässig sei. Der Konflikt erhielt jetzt zudem eine außenpolitische Dimension. Der Bundesinnenminister und der Bundesaußenminister wurden von jüdischen Organisationen in Israel, in Kanada und in den USA dringlich aufgefordert, gegen das Bauvorhaben einzuschreiten. Die städtischen Politiker mussten seit dem Sommer 1991 einsehen, dass sie das Bauvorhaben nicht länger allein unter „baurechtlichen“ Gesichtspunkten betrachten konnten.
Auch die Hamburger Jüdische Gemeinde erkannte immer deutlicher, in welche politischen und innerjüdischen Schwierigkeiten sie geraten war. Sie befand sich jetzt im Mittelpunkt öffentlichen Interesses, eine Entwicklung, die sie in den vergangenen Jahrzehnten bewusst hatte vermeiden wollen. In dieser Lage suchte die Gemeinde Hilfe, um aus der eingetretenen Isolation und aus der Erklärungsnot herauszukommen. Viele fragten, auch innerjüdisch, wie es dazu hatte kommen können, dass ein jüdisches Friedhofsgelände veräußert und kommerziell bebaut wurde. Unterstützung erhielt die Gemeinde durch eine Erklärung der Deutschen Rabbiner Konferenz. Die Erklärung vom November 1991 beschreibt einen eindeutigen Verstoß gegen die Halacha, das jüdische Religionsgesetz und enthält die Aufforderung, „dass alles Menschenmögliche unternommen werden muss, um die Entweihung dieses Friedhofs zu verhindern und jegliche Arbeiten auf diesem heiligen Boden zu untersagen“. Natürlich war den beteiligten Rabbinern bewusst, dass der Verstoß gegen die Halacha die nach staatlichem Recht eingetretene Eigentumsübertragung unberührt ließe. So ist ihr Gutachten in erster Linie als ein moralischer Appell zu verstehen.
Die Stadt wirkte politisch hilflos. Sie hatte kein städtebauliches Konzept für diesen Teil von Ottensen. Längst hätte sie Anfang der 1980er-Jahre eine Sanierungssatzung erlassen können. Dies hätte ihr ermöglicht, durch Ausübung eines gesetzlichen Vorkaufsrechtes die Bebauung des Geländes zu verhindern. Das alles war unterblieben. Der Investor bot einen Rückkauf des Geländes für 30 Millionen DM an. Auf jüdischer Seite konnte man diese Summe nicht aufbringen. Die Stadt schwieg dazu zunächst, erst später signalisierte sie Bereitschaft zu einem Zuschuss. Der war leicht zugestanden, denn es war ausgeschlossen, dass die Gemeinde oder der Zentralrat der Juden in Deutschland einen erheblichen Teil der Rückkaufsumme würden aufbringen können.
Anfang März 1992 besetzten etwa 100 bis 150 orthodoxe Juden aus England, Belgien, der Schweiz und Israel das Baugelände. Ein neuer rechtlicher Gesichtspunkt war nun zutage getreten. Der Aushub der Baugrube stellte einen Verstoß gegen die Totenruhe dar. Das war nach deutschem Strafrecht ein Straftatbestand. Die Staatsanwaltschaft erhielt eine Anzeige wegen Störung der Totenruhe. Das Verwaltungsgericht Hamburg untersagte einstweilen den Fortgang des Baugeschehens. In dieser Lage votierte der zuständige Landesrabbiner Dr. Nathan Peter Levinson im April 1992 für eine rituell durchgeführte Exhumierung. Sein halachisches Gutachten verwies auf talmudische Rechtsquellen, aber vor allem auf die Möglichkeit einer Umbettung nach Maßgabe des Schulchan Aruch, eine Zusammenstellung religiöser Vorschriften aus dem 16. Jahrhundert und von höchster halachischer Autorität. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als eine Straßenverbreiterung durchgeführt werden sollte, hatte der damalige Altonaer Oberrabbiner Dr. Meier Lerner in gleicher Weise für eine Umbettung von Gräbern auf dem Ottensener Friedhof votiert. Als 1936 der jüdische Friedhof am Grindel für den Bau neuer Wohnungen aufgegeben werden musste, hatte Oberrabbiner Dr. Joseph Carlebach ebenfalls eine Umbettung für zulässig angesehen. Beide Oberrabbiner sahen also in der Umbettung der Toten ein „geringeres Übel“, als wenn auf den Gräbern „für alle Zukunft Menschen, Tiere und Fuhrwerke aller Art herumtreten“, wie der Landesrabbiner Levinson in seinem Gutachten aus einer früheren Stellungnahme des Hamburger Oberrabbiners Dr. Samuel Spitzer referierte. Er ließ allerdings einen gewichtigen halachischen Gesichtspunkt unerwähnt: Die Stellungnahmen von Meier Lerner und Joseph Carlebach betrafen städtische Ziele, also Interessen, die dem Gemeinwohl zuzuordnen waren. Bei dem Ottensener Friedhof waren hingegen ausschließlich wirtschaftliche Gründe maßgebend. Nach halachischer Auffassung darf aus einem Friedhof in keinem Falle ein kommerzieller Gewinn erzielt werden.
Der Vorschlag von Landesrabbiner Nathan Peter Levinson im Mai 1992 scheiterte am Widerstand der Athra Kadischa. Diese lehnte jedwede Exhumierung als religionsgesetzwidrig ab. Indes hatten sich jetzt die Fronten des Konfliktes verändert. Es bestand nunmehr auch ein innerjüdischer Streit über den richtigen Weg. Vielen auf nichtjüdischer Seite war dies nicht unangenehm. Sie waren ihrer moralischen Verantwortung, wie der Konflikt gelöst werden könnte, einstweilen enthoben. Für eine Verständigung im innerjüdischen Streit brauchte man jetzt eine ausgewiesene jüdische Persönlichkeit mit hoher religiöser Reputation. Niemand wusste später zu sagen, wer die Person des aschkenasischen orthodoxen Oberrabbiners von Jerusalem, Itzchak Kolitz, erstmals genannt hatte. Bereits Anfang Mai 1992 einigten sich die Jüdische Gemeinde und die orthodoxen Demonstranten auf Oberrabbiner Kolitz „als Schiedsrichter“. Nach vielerlei Vorgesprächen war Kolitz bereit, diese Rolle anzunehmen. Er kam nach Hamburg und besichtigte den Rest des ehemaligen Friedhofsgeländes, also was nach dem Bunker- und dem Kaufhausbau noch vorhanden war. Am 21.5.1992 traf er in Jerusalem seine Entscheidung. Wiederum wird, wie auch in der Erklärung der deutschen Rabbiner-Konferenz und in dem Gutachten von Landesrabbiner Levinson, beklagt, dass die Hamburger Gemeinde das Friedhofsgelände seinerzeit veräußert hätte. Aber Oberrabbiner Kolitz sah in einer Exhumierung jedenfalls keine streitbefriedende Lösung und verbot diese. Dies widersprach der entstandenen Tradition der Hamburger Gemeinde. Eine halachische Begründung wurde nicht gegeben. Auch den zuvor mehrfach diskutierten Ausweg, Gräber und Erdreich nach Israel zu bringen, lehnte er ab. Eine Bebauung, auch zu ökonomischen Zwecken, wurde zugestanden, indes zugleich jegliches neues Ausschachten der Baugrube untersagt. Ein von Oberrabbiner Kolitz bestellter ständiger Aufseher aus Israel sollte den gesamten Prozess überwachen. Kolitz Wort stand also gegen das des zuständigen Landesrabbiners. Die Jerusalemer Lösung mochte in halachischer Sicht anfechtbar sein, indes war sie jedenfalls vordergründig pragmatisch. Stimmten der Investor und die staatlichen Behörden zu, war der Streit beendet. Es war ein innerjüdischer Schiedsspruch, kein rabbinisches „Gutachten“, wie es später in einer Beschlussvorlage des Senates an die Hamburger Bürgerschaft fehlerhaft hieß. Bei der Durchführung der Bauarbeiten ergab sich, dass von den um die Jahreswende zum 20. Jahrhundert vorhandenen etwa 4.500 Gräbern nur noch 400 bis 500 Gräber aufgefunden werden konnten. Sie blieben im Erdreich und wurden gleichsam „auf ewig“ zubetoniert.
Im August 1993 erfuhr die Öffentlichkeit, welchen Preis die Hansestadt Hamburg zum Zwecke der politischen Streitbefriedung zu zahlen hatte. Der Senat präsentierte der Hamburger Bürgerschaft den mit dem Bauträger ausgehandelten Kompromiss. Mit ihm sollten die wirtschaftlichen Verluste des Investors für den Verzicht der Ausschachtung der Baugrube ausgeglichen werden. Der Senat hatte zugestehen müssen, dass der Investor die politischen Kosten des Abzugs der demonstrierenden Athra Kadischa und das schlichtende Votum des Oberrabbiners Kolitz politisch „vorfinanziert“ hatte. Man verständigte sich rechnerisch auf ein Ausgleichsvolumen von rund 16,4 Millionen DM. Der Betrag setzte sich durch günstige Preisgestaltung zweier an den Investor zusätzlich veräußerter Grundstücke in bester Lage und den Verzicht fälliger Abgaben zusammen. Unerwähnt blieb, dass der Investor das ehemalige Friedhofsgelände 1990 zu einem Preis von 14,2 Millionen DM erworben hatte und wenn man so will, letztlich den größten Vorteil aus dem „Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen“ zog.
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Ina Lorenz (1940), Prof. Dr. phil. habil., bis 2005 stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonders im norddeutschen Raum; Quelleneditionen zu den jüdischen Gemeinden Hamburg, Altona und Wandsbek vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sowie Sozial- und Gemeindegeschichte der Juden mit Schwerpunkt NS-Zeit in Hamburg. Auch: http://mitglieder.gegj.de/lorenz-prof-em-dr-ina/
Ina Lorenz, Streitfall jüdischer Friedhof Ottensen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 04.09.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-249.de.v1> [02.11.2024].