Das Schreiben der Hamburger Sportgruppe „Schild“ aus dem Juni 1933 veranschaulicht auf wenigen Zeilen exemplarisch die Situation der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und die Reaktionen von jüdischer Seite, obwohl es eigentlich nur um die Bekanntgabe der Gründung einer Sportgruppe geht. Der Absender des Schreibens war der 1919 gegründete „Vaterländische Bund jüdischer Frontsoldaten“, der dann als Ortsgruppe des 1920 gegründeten „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) fungierte. Ziel des RjF war es, Verleumdungen jüdischer Soldaten entgegenzutreten und die Loyalität zum deutschen Vaterland zu betonen. Sport spielte beim RjF zunächst keine Rolle, es ging nicht um Freizeitgestaltung, sondern um die Vermittlung der Werte und Ideen des RjF. Das Schreiben sprach dann auch davon, dass „jetzt“, im Juni 1933, eine Sportgruppe ins Leben gerufen werde. Dieser späte Zeitpunkt war spezifisch für Hamburg, denn schon Mitte der 1920er-Jahre hatte sich der RjF zwei Dinge eingestehen müssen: erstens die Bedeutung des Sports für das Gemeinschaftsgefühl, zweitens die Bedeutung des Sports als Vorbereitung auf die Abwehr körperliche Angriffe. Die Sportgruppe „Schild“ wurde 1925 offiziell ins Vereinsregister eingetragen, war aber mit dem RjF zunächst nur korporativ verbunden. 1933 allerdings wurde „Schild“ als Teil des RjF aufgenommen, eine der Bedrohung geschuldete Entscheidung. In Hamburg aber hatte es bis 1933 keine „Schild“-Gruppe gegeben.
Konkreter Anlass für das Schreiben war die Einführung des „Arierparagraphen“, der sich zunächst im Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (7.4.1933) zeigte, der dann aber, obwohl noch nicht in Gesetzesform gegossen, an die Sportverbände und Vereine weitergegeben und von vielen deutschen Organisationen sofort und eilfertig umgesetzt wurde. Die größte Sportorganisation, die Deutsche Turnerschaft, tat dies bereits am 8.4.1933, also einen Tag nach dem Erlass des Gesetzes. Das Schreiben des „Schild“ nahm direkt auf den „Arierparagraphen“ Bezug und führte aus, die jüdischen Sportler seien zwar „kaltgestellt“, aber jetzt gelte es, den Sport weiterzuführen, wofür der „Schild“ die Basis bieten könne, da „sportliche Ertüchtigung der jüdischen Jugend eines der ersten Erfordernisse unserer Tage ist“. Diese Argumentation erklärt auch, warum eine „Schild“-Gruppe in Hamburg gegründet wurde, man wollte eine größere Basis für den Sport bieten und als RjF auch in diesem Bereich in Hamburg präsent sein. Schaut man in die jüdische Sportgeschichte, erstaunt es nicht, dass explizit auch die jüdischen Sportlerinnen angesprochen wurden. Das Frauenturnen war in den jüdischen Turnvereinen schon länger ein Thema und früher anerkannt als in paritätischen Vereinen, worunter Sportvereine verstanden wurden, die keine konfessionelle Zuordnung hatten und sowohl christliche als auch jüdische Mitglieder aufnahmen. Die gezielte Anrede auch der Frauen hier zeugt ebenfalls davon, dass der Schild nicht nur auf ein männliches Körperbild abzielen wollte, sondern die Wichtigkeit körperlicher Ertüchtigung für Männer und Frauen als höchst wünschenswert, später dann auch überlebensnotwendig erkannte.
Nun war der „Schild“ nicht die einzige jüdische Sportorganisation, es gab auch noch die Zionisten, die sich in den Vereinen des Makkabi-Verbandes engagierten. Beide Gruppen bekämpften sich bis 1933, gingen sie doch von zwei diametralen Positionen aus. Während der RjF seine deutsch-vaterländische Gesinnung verteidigte und große Hoffnungen in die Assimilation setzte, dabei aber ab 1933 stark unter Druck geriet, agierten die Makkabi-Vereine im Zeichen des Zionismus, warben für die Auswanderung und boten Kurse zur Vorbereitung dafür an. Doch 1933 war nur noch wenig Platz für diese Dispute, und dem trug auch das Schreiben des „Schild“ Rechnung, hieß es dort doch, wenn man bisher in einem anderen jüdischen Verein tätig gewesen sei, diesem „gesinnungsmässig“ näher stünde, solle man in dem Verein bleiben und mit „noch grösserer Aktivität“ tätig sein. Es ging also tatsächlich um „sportliche Ertüchtigung“ der gesamten jüdischen Jugend. Dies bedeutete für den „Schild“ aber nicht unbedingt Vorbereitung zur Auswanderung (und damit verbunden der „Hachschara“ – der Vorbereitung, zum Beispiel auf die Arbeit als Landwirt in Palästina), denn 1933 war der RjF weit davon entfernt, die Auswanderung zu empfehlen. Das Hauptanliegen war es, sich körperlich verteidigen zu können. Daher fanden sich im Sportangebot klassische Sportarten (zum Beispiel Leichtathletik, Schwimmen, Fußball), aber auch Boxen und Jiu-Jitsu, die japanische Form der Selbstverteidigung. Die japanischen Kampfkünste Judo und Jiu-Jitsu wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland eingeführt, wurden begeistert aufgenommen und entwickelt. Der „Schild“ war daran stark beteiligt, Jiu-Jitsu gehörte dann zu den Sportarten, in denen jüdische Sportler sehr erfolgreich waren. Ab 1925 wurden in der Zeitung des RjF immer Notizen zu Trainingszeiten der Jiu-Jitsu-Kurse abgedruckt, ein deutlicher Hinweis, welche Sportart dem RjF wichtig war.
Aber der RjF wollte nicht nur Kampfkunst und Fitness fördern, wie im Brief deutlich wird, er warb auch für die Idee des deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens, denn nur so erklärt sich der Satz, im „Schild“ sei jeder willkommen, der eine „vaterländische Gesinnung“ hege, auch wenn er nicht im Weltkriege mitgefochten habe. Hierunter verstand der RjF nichts anderes als die unverbrüchliche Verbindung von Judentum und Deutschtum. „Vaterländisch“ war dabei der argumentative und emotionale Schlüsselbegriff. Der RjF begriff sich als Teil der deutschen Gesellschaft.
Gerade die vorauseilende und rücksichtslose Umsetzung des „Arierparagraphen“ durch die Sportverbände zeigte jedoch, wie schnell schon 1933 die Forderung „Juden raus“ umgesetzt wurde – bis dato ohne gesetzlichen Zwang oder Grundlage, wie es noch einmal zu betonen gilt.
Die jüdischen Sportvereine erlebten in den Jahren nach 1933 tatsächlich einen erheblichen Zulauf, in Hamburg waren zehn
Prozent der Mitglieder der Jüdischen Gemeinden auch Mitglied in einem jüdischen
Sportverein. Doch der Sport konnte die Entwicklung nicht aufhalten, die Olympischen Spiele 1936 in
Garmisch-Partenkirchen und Berlin ließen die
Machthaber gegenüber Sportvereinen noch Zurückhaltung üben, man wollte das
gigantische Propaganda-Projekt Olympia nicht gefährden. Doch eine SA-Parole lautete: „Wenn die
Olympiade vorbei, schlagen wir die Juden zu Brei.“ 1938
wurden alle jüdischen Sportvereine verboten.
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Erik Petry, PD Dr. phil., geb. 1961, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Jüdische Studien und Lehrbeauftragter für Geschichte und Kultur der Juden im 19. und 20. Jahrhundert, beides an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte sind: neuzeitliche Geschichte der Juden in Deutschland und der Schweiz, Zionismus, Geschichte des Antisemitismus, Geschichte des Nahen Ostens, Oral History und Gedächtnisgeschichte.
Erik Petry, Jüdischer Kampfsport. Die Sportgruppe „Schild“ in Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-84.de.v1> [21.12.2024].