Am 7.5.1958 hielt der einst gefeierte und heute weitgehend vergessene Regisseur und Schriftsteller Ludwig Berger in der Hamburger Musikhalle eine Gedenkrede im Rahmen der „Brahms-Festwoche“ anlässlich des 125. Geburtstages von Johannes Brahms. Bergers rund 60 Minuten lange Ansprache wurde mitgeschnitten und in kleiner Auflage von der Hamburger Schallplattenfirma Teldec als Langspielplatte vertrieben sowie mehrfach im Druck veröffentlicht, zunächst vom Senat der Hansestadt, dann vom Tübinger Wunderlich–Verlag. Dass hier ein deutscher Kulturschaffender jüdischer Herkunft von der Hamburger Kulturbehörde als Festredner eingeladen wurde, mag mit dem Bestreben zu tun gehabt haben, sich von dem 25 Jahre zuvor, im Mai 1933 zum 100-jährigen Jubiläum abgehaltenen „Reichs-Brahmsfest“ abzugrenzen. Obschon bereits seit 1931 in der Planung, waren diese Feierlichkeiten zumindest teilweise für die „völkischen“ Zwecke des kurz zuvor installierten Nazi-Regimes vereinnahmt worden.
Im Umfeld des „Reichs-Brahmsfests“ von 1933 waren Gerüchte aufgetaucht, der Hamburger Komponist sei jüdischer Abstammung (der Familienname leite sich angeblich aus „Abrahamson“ her). Peri Arndt, Das Gerücht über Brahms’ jüdische Abstammung, in: Arbeitsgruppe Exilmusik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg (Hrsg.), Das „Reichs-Brahmsfest“ 1933 in Hamburg. Rekonstruktion und Dokumentation, Hamburg 1997, S. 119–120. Es ist nicht klar, ob Berger von diesen Gerüchten wusste, interessanterweise setzte er sich in seiner Festrede aber ebenfalls mit der Herkunft des Nachnamens Brahms auseinander.
Zu Brahms und zur Hansestadt hatte Ludwig Berger, 1892 in Mainz als dritter Sohn der alteingesessenen großbürgerlichen Bankiersfamilie Bamberger geboren, eine besondere Beziehung: Zu Ludwigs frühesten Kindheitserinnerungen gehört eine Szene aus dem Jahre 1897, in der der fünfjährige Junge seine Mutter weinend vorfand: „Brahms ist gestorben – ihr werdet später einmal begreifen, was das heißt“, lautete die Erklärung. Ludwig Berger, Wir sind vom gleichen Stoff aus dem die Träume sind. Summe eines Lebens, Tübingen 1953, S. 20. Als junges Mädchen hatte Anna Klara Bamberger, geborene Lewino, als Klavierschülerin bei Clara Schumann den Hamburger Meister noch persönlich kennengelernt und blieb ihm und seinem Werk Zeit ihres Lebens in Verehrung verbunden. Ludwigs Vater, Franz Michael Bamberger, Bankdirektor und Handelskammerpräsident, war seinerseits ein leidenschaftlicher Amateurgeiger. Joseph Joachim, der berühmte und mit Brahms befreundete Geigenvirtuose ging im Mainzer Elternhaus ein und aus.
Hamburg war für eine Spielzeit (1917 / 18) die zweite Station von Bergers rasanter Karriere als Opern- und Theaterregisseur, die ihn innerhalb von nur zweieinhalb Jahren vom Mainzer Stadttheater an die bedeutendsten Bühnen in Berlin führte. Vor und nach dem Krieg war Ludwig Berger des öfteren bei der befreundeten Bankiersfamilie Warburg in Blankenese zu Gast. Für den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) bearbeitete er den zweiten Teil von Goethes „Faust“ als Hörspiel, das am 28.8.1949, Goethes 200. Geburtstag, ausgestrahlt wurde. Ebenfalls beim NWDR wurde Regisseur Berger ab 1954 zu einem der Pioniere der neuen Gattung des Fernsehspiels. Berger inszenierte wiederholt am Hamburger Deutschen Schauspielhaus (so 1954 Lessings „Minna von Barnhelm“) und wurde mehrmals zu Lesungen und Vorträgen, vor allem über Filmästhetik, in die Hansestadt eingeladen.
Der junge Ludwig war vielseitig musisch begabt, spielte ausgezeichnet Cello und Klavier, malte, hegte dichterische Ambitionen und studierte Kunstgeschichte in München und Heidelberg, wo er 1914 promovierte. Im August 1914 erfasste auch den 22-jährigen Ludwig die weit verbreitete Kriegsbegeisterung, aber der Versuch, seinen deutschen Patriotismus durch freiwillige Meldung unter Beweis zu stellen, schlug fehl: eine Knochenhautentzündung hatte zur Lähmung des rechten Knies geführt, und Ludwig wurde ausgemustert.
Die Familie Bamberger identifizierte sich, wie für das assimilierte deutsch-jüdische Bürgertum typisch, völlig mit der klassisch-humanistischen deutschen Bildungstradition. Die Söhne wurden allesamt protestantisch getauft, im assimilierten aufgeklärten Hause huldigte man, so heißt es in Bergers Erinnerungen, nur einer Religion – der „Kammermusik“. Ludwig Berger, Typoskript Mein Psalm. Psalm 23. Jüdische Kultursendung des Kirchenfunks des Senders Freies Berlin, 22. 5.1967, Ludwig-Berger-Archiv, Akademie der Künste, Berlin, Mappe 2241. Berger ließ die Namensvorsilbe „Bam-“– und damit den Verweis auf seine jüdische Herkunft – in dem Moment fallen, als er künstlerisch zum ersten Male an die Öffentlichkeit trat: als am 28.10.1915 eine von Ludwig gemeinsam mit seinem älteren Bruder Rudolf erstellte Spielfassung der Mozart-Oper „Die Gärtnerin aus Liebe“ am Mainzer Stadttheater uraufgeführt wurde, nannte der Theaterzettel „R. und L. Berger“ als Bearbeiter.
1920 von Produzent Erich Pommer zum Film geholt, erzielte Berger 1925 mit seinem fünften Film, der auf einer Operette von Oscar Straus basierenden Komödie „Ein Walzertraum“, einen der wenigen weltweiten Erfolge des Weimarer Kinos. Dies brachte ihm 1927 eine Einladung nach Hollywood ein. 1931 kehrte Berger nach Deutschland zurück und schuf für die Ufa zwei der erfolgreichsten Musikkomödien des frühen Tonfilms, „Ich bei Tag und du bei Nacht“ (im November 1932 im Hamburger Ufa-Palast uraufgeführt) und „Walzerkrieg“ (1933). Erst spät, 1936, ging Berger ins Exil und arbeitete in den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien, wo er 1939 an Alexander Kordas international erfolgreichem Abenteuer-Spektakel „The Thief of Bagdad“ beteiligt war. In Amsterdam überlebte Berger den Krieg und das deutsche Besatzungsregime unter bislang weithin ungeklärten Umständen. Anders als Berger blieb seine Mutter bis zu ihrem friedlichen Tod 1942 im besetzten Amsterdam ihrem jüdischen Glauben treu, der 1926 verstorbene Vater hatte sich, wie Berger später herausfand, heimlich protestantisch taufen lassen. Bruder Rudolf behielt, auch wenn er als Bühnenbildner bei Theaterproduktionen oder als Ausstatter bei Filmen seines Bruders mitarbeitete, seinen ursprünglichen Namen bei. Ihn ereilte ein tragisches Schicksal: 1938 war er nach Luxemburg geflohen, wo die Familie Bamberger eine Brauerei besaß. 1944 wurde er dort von den deutschen Besatzungstruppen verhaftet, nach Auschwitz verschleppt und im Januar 1945 ermordet. Der älteste Bruder, Ernst, hatte nach England auswandern können und kehrte in den 1950er-Jahren aus dem Exil nach Deutschland zurück.
Berger hat den Tod seines Bruders Rudolf nie verwunden. Nach dem Krieg sondierte er lange Arbeitsmöglichkeiten in den Niederlanden, in Großbritannien und den USA aus – er wollte nicht in Deutschland „unter meinen Moerdern“ leben. Ludwig Berger, Brief an Wilhelm / William Dieterle, 6. August 1951. Deutsche Kinemathek Berlin, Nachlaß Wilhelm Dieterle, Mappe 4.3 - 198024-2. Seinen Wohnsitz nahm er zunächst in Luxemburg, von wo aus er vorsichtige Besuche in seine alte Heimat unternahm, so 1947 zu einer Inszenierung von Goethes Schauspiel „Stella“ am Deutschen Theater in (Ost-)Berlin. Jahrelang mußte Berger vor Gericht darum kämpfen, sein Haus im Taunus-Kurort Schlangenbad rückerstattet zu bekommen, dessen Inneneinrichtung, von Bruder Rudolf dereinst geschmackvoll gestaltet, beim Novemberpogrom von 1938 demoliert worden war. Ludwig Berger, Briefwechsel mit Philipp Wirth, Ludwig-Berger-Archiv, Akademie der Künste, Berlin, Mappen 1587 und 1588.
Nach außen hin ließ Berger nur wenig von seinen Vorbehalten gegenüber der jungen Bundesrepublik und ihren restaurativen Tendenzen erkennen. Eine der wenigen Ausnahmen war etwa seine Kritik an der staatlichen Einflussnahme auf die Verfilmung seines mit Axel Eggebrecht verfassten Drehbuchs zu dem Film „Stresemann“ (1956). Für Bergers Empfinden stand dahinter die Bestrebung, Stresemann aufgrund seiner Politik des Ausgleichs mit Frankreich zum direkten Vorläufer Konrad Adenauers zu stilisieren. In der bundesdeutschen Kultur- und Theaterwelt nahm Berger den Status einer altersweisen, weithin unpolitischen grauen Eminenz ein und wurde 1956 als Leiter der neu gegründeten Sektion für darstellende Kunst der West-Berliner Akademie der Künste berufen. Ein Jahr darauf, aus Anlass seines 65. Geburtstages, wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz und der Gutenberg-Medaille der Stadt Mainz geehrt. Zu der Einladung, bei der Brahms-Gedenkfeier von 1958 die Festrede zu halten, kam es vermutlich auch durch Bergers literarische Tätigkeit. Ein Jahr zuvor hatte er unter dem von Shakespeare entliehenen Titel „Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist“ einen Band mit Prosaskizzen über namhafte Komponisten veröffentlicht. Eine dieser „14 Variationen des Dankes“, so der Untertitel des Buches, war der unglücklichen Liebe von Johannes Brahms zu Clara Schumann gewidmet.
Berger greift in seiner Hamburger Festrede unter dem Titel „Vom Menschen Johannes Brahms“ einige Motive dieser Prosaskizze auf, so etwa die These von dem Verbundensein des Künstlers mit seiner norddeutschen Heimat; die bodenständige Gradlinigkeit der Person, deren scheue Zurückhaltung von Außenstehenden oft als Grobheit fehlinterpretiert werde; die Enttäuschung der Hoffnungen auf eine der eigenen Begabung angemessene feste Anstellung; sowie eine gleichsam tragische Vereinsamung, welche laut Berger die Grundlage für die besondere künstlerische Kreativität des Komponisten bilde. Es fällt nicht schwer, in vielen der vor dem Festpublikum im Hinblick auf Brahms geäußerten Gedanken (auch) eine Art Selbstporträt Bergers zu sehen.
Wenn er die Bedeutung der deutschen Volksliedtradition für das Schaffen des Komponisten betont, erinnert dies an die Art, in der er sein eigenes Schaffen mit deutschen Kulturtraditionen in Verbindung brachte. Im Programmheft zu seinem 1923 entstandenen Aschenputtel-Film „Der verlorene Schuh“ hatte Berger zum Beispiel die Gattung des Märchens als eine genuin deutsche Ausdrucksform gedeutet, die direkt aus dem Boden deutschen Volkstums emporsteige – womit Berger sich und die eigene künstlerische Tätigkeit in der Bearbeitung dieses Volksmärchens implizit ebenfalls als genuin deutsch definiert. Ludwig Berger, Der verlorene Schuh, Decla-Bioscop-Film der Ufa, Berlin 1923, S. 6. Auch die eingangs erwähnte Diskussion um die Deutung des Namensursprungs von Brahms lässt sich in diesem Kontext verorten. So argumentiert Berger, dass „in Deutschland […] die planta genista da, wo sie recht eigentlich zu Hause ist, im Dithmarischen und Holsteinischen auch heute noch ‚Brahm‘ (heiße), und Brahms oder eigentlich ‚Brahmst‘, mit einem t am Ende, […] ‚Sohn der Heide‘“ bedeute. Er präsentiert den Komponisten als Vertreter eines regional verankerten, spezifisch deutschen Künstlertums: „So liegt die Landschaft schon im Namen eingebettet, die dem norddeutschen Meister zum Urquell seiner Kraft wird“. Es liegt nahe auch hier eine Parallele zu Berger zu ziehen, der seiner rheinhessischen Heimat zeitlebens aufs Engste verbunden war. So schrieb er 1943, im Amsterdamer Exil, ein Gedicht als Huldigung an die Taunuslandschaft nahe dem kleinen Ort Kiedrich, wo „Liebe sich ins Bett des Schauens legt“, und sandte es an seinen Freund Carl Zuckmayer. Ludwig Berger, Kiedrich (geschrieben in Amsterdam 1943), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, Carl Zuckmayer 86.1421/11.
Gleichzeitig aber war es die Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit, die Berger als prägend für Brahms Biografie ausmacht, „immer wieder hoffend, daß man ihm da, wo er hingehört, ein Wirkungsfeld einräumt“. Und auch Bergers Leben in der Nachkriegszeit war durch dieses Bestreben gekennzeichnet. Nachdem verschiedene Bemühungen erfolglos verlaufen waren, sich im Ausland zu etablieren, unternahm Berger Anfang der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik Anstrengungen, eine seinem Selbstverständnis als bedeutendem Film- und Theatermann angemessene Stelle, etwa als Intendant einer führenden deutschsprachigen Bühne, zu erlangen. Keines der zahlreichen Filmprojekte, welche Berger verfolgte, konnte in der damaligen kränkelnden bundesrepublikanischen Filmindustrie realisiert werden. Trotz einer öffentlichen Anerkennung seines Schaffens bedeutete die fehlende feste Anstellung für Berger ein unstetes Leben, das durch die ständige Suche nach Auftragsarbeiten geprägt war.
So liest sich Bergers Hamburger Lobrede auf Brahms als einem, dem „da, wo er hingehört“ die gebührende Anerkennung versagt war, mitunter als eine Art unterschwelliges Klagelied über das eigene Außenseitertum, als ein „deutsches Requiem“ eines Menschen, der sich wie Brahms als „echter Sohn Deutschlands“ und als Vertreter der glühend verehrten deutschen Kultur verstanden hatte, aber nach Verfolgung und Exil eine Brahmssche ungestillte „Sehnsucht nach Heim und Herd“ in sich trug. In diesem Zusammenhang erscheint es mehr als passend, dass man 1969 nach Bergers Tod bei der Mainzer Trauerfeier für den „großen Sohn der Stadt“ auf ein Werk des norddeutschen Meisters zurückgriff: In der Mainzer Liedertafel am 28. November des Jahres erklang das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms.
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Christian Rogowski ist Germanist und Filmhistoriker und als G. Armour Craig Professor of Language and Literature am Department of German am Amherst College, Amherst, Massachusetts (USA) tätig. Er studierte in Mannheim, London und Harvard und promovierte über Robert Musil. Veröffentlichungen zu Literatur, Drama, Geistesgeschichte, Oper und Film, mit Schwerpunkt auf der Kultur der Weimarer Republik.
Christian Rogowski, Heimatverbundenheit und fehlende Anerkennung. Ludwig Bergers Festrede auf Johannes Brahms, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 29.03.2019. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-248.de.v1> [20.11.2024].