Ludwig Berger, Vom Menschen Johannes Brahms. Als Gedenkrede gehalten beim Festakt der Freien und Hansestadt Hamburg zum 125. Geburtstag von Johannes Brahms am 7. Mai 1958, Hamburg


    Herr Bürgermeister, Herr Präsident, meine sehr verehrten, festlich versammelten Damen und Herren,
    lassen Sie mich von dem Menschen Johannes Brahms sprechen, denn seine Werke sprechen für sich selbst, sind längst Allgemeingut geworden, nicht nur Deutschlands, sondern der Welt, und bedürfen keines Kommentars.
    Von der Scheu, dem Humor und der Empfindsamkeit des Hamburgers und von dem Adel des einfachen Musikersohns, der sich in Stolz und Bescheidenheit ausdrückt, und von der Meisterschaft eines Lebens, in dem Zufall, Liebe und Einsamkeit höchst wundersam ineinanderspielen.
    Es gibt keine Regung des deutschen Menschen, keine zarte Sehnsucht und keine bewußte Entbehrung, die sich nicht im Gesicht und in den Gesichten des Mannes, den wir heute feiern, verdichtet und verklärt hat. Johannes Brahms ist ein großer Sohn der Stadt Hamburg, aber darüber hinaus ein echter Sohn Deutschlands. Sein Jugendbildnis, das den Ausdruck einer hölderlinschen Reinheit und einer wie im Traum befangenen, romantischen Nachdenklichkeit zeigt, ist ebenso deutsch wie die späteren Karikaturen des dicklichen älteren Herrn, der seine mächtige Güte hinter viel Bart versteckt und mit den Menschen, die er gern hat, am liebsten wie mit Kindern scherzt, damit er nur ja nicht die Empfindung preiszugeben braucht, die aus seinen Liedern, dramatisch und innig, liebend und schwermütig ins Herz der Welt strömt.
    In England wird die „planta genista“, der struppige, graugrüne und goldgelb blühende Besenginster, zum Wappensymbol eines Königsgeschlechts, der „Planta genet“, in Deutschland heißt die planta genista da, wo sie recht eigentlich zu Hause ist, im Dithmarischen und Holsteinischen auch heute noch ‚Brahm‛, und Brahms oder eigentlich ‚Brahmst‛, mit einem t am Ende, bedeutet ‚Sohn der Heide‛. So liegt die Landschaft schon im Namen eingebettet, die dem norddeutschen Meister zum Urquell seiner Kraft wird.
    Sproß eines alten Bauerngeschlechts, schwingt seine liebenswerte Güte oft bis zur Grobheit hin, die nichts ist als ein Mantel, den sich der Älter-Werdende umhängt, weil er im Grunde der Welt und den Menschen gegenüber hilflos bleibt. []
    Seine Scheu vor den Menschen lag ihm im Weg. Wo immer er konnte, entzog er sich unerwarteten Begegnungen, und je berühmter er wurde, desto spitzbübischer. Als er eines Tags seine Wiener Wohnung verließ, begegnete ihm im Haustor unten ein junger Mann. „Wohnt hier Meister Brahms?“, fragte der Fremde. „Gewiß, mein Herr, im dritten Stock“, antwortete Brahms mit besonderer Freundlichkeit und entfloh, so schnell er konnte. War das Hamburg im Blut?
    Rührend, wie dieser Sohn Hamburgs um die Liebe seiner Vaterstadt geworben und gerungen hat, wie er immer wieder nach Haus zurückkommt, immer wieder hoffend, daß man ihm da, wo er hingehört, ein Wirkungsfeld einräumt, und wie ihn, den Enttäuschten, dann die Engel ganz woanders hintrugen, in die sanfteren Gärten Wiens, wo sein Genie die Grazie, die ihm innewohnte, zu voller Blüte entfalten konnte, denn den besten Männern dieser Zeit war trotz ihrer martialischen Vollbärte das Gnadengeschenk der Anmut beschert worden und unter den wildesten Mähnen sehen oft Kinderaugen fromm und sternenklar in die Welt. Daher auch die unendliche Liebe zum Volkslied, die diese Erben der Romantik beseelt hat. Es ist nicht Resignation, wenn das vorletzte große Werk, das der sich schon dem Ende nähernde Brahms herausgibt, sieben Hefte Volkslieder sind, es ist ein Glaubensbekenntnis. Mit dem Volkslied, mit der Klarinette, deren Liebe Mühlfeld in ihm geweckt hat und mit dem Bibeltext der ernsten Gesänge schließt das Meisterwerk eines Lebens, das sich der Träger dieses Lebens so ganz anders vorgestellt hatte.
    Er wäre gern, wie er sagt, ein ordentlicher, bürgerlicher Mensch geworden, hätte sich gern verheiratet und gelebt wie andere. „Jetzt bin ich ein Vagabund“, grollt er über die Ungerechtigkeit der Welt, die ihm die feste Anstellung versagte, nach der er sich sehnte; aber trotz dieser Sehnsucht nach Heim und Herd wurde das Glück, das er opferte, zum Segen des Werks. []

    Quellenbeschreibung

    Am 7.5.1958 hielt der einst gefeierte und heute weitgehend vergessene Regisseur und Schriftsteller Ludwig Berger in der Hamburger Musikhalle eine Gedenkrede im Rahmen der „Brahms-Festwoche“ anlässlich des 125. Geburtstages von Johannes Brahms. Bergers rund 60 Minuten lange Ansprache wurde mitgeschnitten und in kleiner Auflage von der Hamburger Schallplattenfirma Teldec als Langspielplatte vertrieben sowie mehrfach im Druck veröffentlicht, zunächst vom Senat der Hansestadt, dann vom Tübinger Wunderlich–Verlag. Dass hier ein deutscher Kulturschaffender jüdischer Herkunft von der Hamburger Kulturbehörde als Festredner eingeladen wurde, mag mit dem Bestreben zu tun gehabt haben, sich von dem 25 Jahre zuvor, im Mai 1933 zum 100-jährigen Jubiläum abgehaltenen „Reichs-Brahmsfest“ abzugrenzen. Obschon bereits seit 1931 in der Planung, waren diese Feierlichkeiten zumindest teilweise für die „völkischen“ Zwecke des kurz zuvor installierten Nazi-Regimes vereinnahmt worden.

    Im Umfeld des „Reichs-Brahmsfests“ von 1933 waren Gerüchte aufgetaucht, der Hamburger Komponist sei jüdischer Abstammung (der Familienname leite sich angeblich aus „Abrahamson“ her). Peri Arndt, Das Gerücht über Brahms’ jüdische Abstammung, in: Arbeitsgruppe Exilmusik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg (Hrsg.), Das „Reichs-Brahmsfest“ 1933 in Hamburg. Rekonstruktion und Dokumentation, Hamburg 1997, S. 119–120. Es ist nicht klar, ob Berger von diesen Gerüchten wusste, interessanterweise setzte er sich in seiner Festrede aber ebenfalls mit der Herkunft des Nachnamens Brahms auseinander.

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    Empfohlene Zitation

    Ludwig Berger, Vom Menschen Johannes Brahms. Als Gedenkrede gehalten beim Festakt der Freien und Hansestadt Hamburg zum 125. Geburtstag von Johannes Brahms am 7. Mai 1958, Hamburg, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-191.de.v1> [06.12.2024].