Herr Bürgermeister, Herr
Präsident, meine sehr verehrten, festlich versammelten
Damen und Herren,
lassen Sie mich von dem Menschen Johannes Brahms sprechen, denn
seine Werke sprechen für sich selbst, sind längst Allgemeingut geworden, nicht nur
Deutschlands,
sondern der Welt, und bedürfen keines Kommentars.
Von der Scheu, dem Humor und
der Empfindsamkeit des Hamburgers und von dem Adel des einfachen Musikersohns, der
sich in Stolz und Bescheidenheit ausdrückt, und von der Meisterschaft eines Lebens,
in dem Zufall, Liebe und Einsamkeit höchst wundersam ineinanderspielen.
Es gibt
keine Regung des deutschen Menschen, keine zarte Sehnsucht und keine bewußte
Entbehrung, die sich nicht im Gesicht und in den Gesichten des Mannes, den wir heute
feiern, verdichtet und verklärt hat. Johannes Brahms ist ein großer Sohn der Stadt Hamburg, aber darüber
hinaus ein echter Sohn Deutschlands. Sein Jugendbildnis, das den Ausdruck einer hölderlinschen Reinheit und
einer wie im Traum befangenen, romantischen Nachdenklichkeit zeigt, ist ebenso
deutsch wie die späteren Karikaturen des dicklichen älteren Herrn, der seine
mächtige Güte hinter viel Bart versteckt und mit den Menschen, die er gern hat, am
liebsten wie mit Kindern scherzt, damit er nur ja nicht die Empfindung preiszugeben
braucht, die aus seinen Liedern, dramatisch und innig, liebend und schwermütig ins
Herz der Welt strömt.
In England wird die „planta genista“,
der struppige, graugrüne und goldgelb blühende Besenginster, zum Wappensymbol eines
Königsgeschlechts, der „Planta genet“, in
Deutschland
heißt die planta genista da, wo sie recht
eigentlich zu Hause ist, im Dithmarischen und Holsteinischen auch heute
noch ‚Brahm‛, und Brahms oder eigentlich ‚Brahmst‛, mit einem t am Ende, bedeutet
‚Sohn der Heide‛. So liegt die Landschaft schon im Namen eingebettet, die dem
norddeutschen Meister zum Urquell seiner Kraft wird.
Sproß eines alten
Bauerngeschlechts, schwingt seine liebenswerte Güte oft bis zur Grobheit hin, die
nichts ist als ein Mantel, den sich der Älter-Werdende umhängt, weil er im Grunde
der Welt und den Menschen gegenüber hilflos bleibt. […]
Seine Scheu vor den Menschen
lag ihm im Weg. Wo immer er konnte, entzog er sich unerwarteten Begegnungen, und je
berühmter er wurde, desto spitzbübischer. Als er eines Tags seine Wiener Wohnung verließ,
begegnete ihm im Haustor unten ein junger Mann. „Wohnt hier Meister Brahms?“, fragte der Fremde.
„Gewiß, mein Herr, im dritten Stock“, antwortete Brahms mit besonderer
Freundlichkeit und entfloh, so schnell er konnte. War das Hamburg im
Blut?
Rührend, wie dieser Sohn Hamburgs um die Liebe
seiner Vaterstadt
geworben und gerungen hat, wie er immer wieder nach Haus zurückkommt, immer wieder
hoffend, daß man ihm da, wo er hingehört, ein Wirkungsfeld einräumt, und wie ihn,
den Enttäuschten, dann die Engel ganz woanders hintrugen, in die sanfteren Gärten
Wiens, wo sein
Genie die Grazie, die ihm innewohnte, zu voller Blüte entfalten konnte, denn den
besten Männern dieser Zeit war trotz ihrer martialischen Vollbärte das
Gnadengeschenk der Anmut beschert worden und unter den wildesten Mähnen sehen oft
Kinderaugen fromm und sternenklar in die Welt. Daher auch die unendliche Liebe zum
Volkslied, die diese Erben der Romantik beseelt hat. Es ist nicht Resignation, wenn das vorletzte
große Werk, das der sich schon dem Ende nähernde Brahms herausgibt, sieben Hefte
Volkslieder sind, es ist ein Glaubensbekenntnis. Mit dem Volkslied, mit der
Klarinette, deren Liebe Mühlfeld in ihm geweckt hat und mit dem Bibeltext der ernsten
Gesänge schließt das Meisterwerk eines Lebens, das sich der Träger dieses Lebens so
ganz anders vorgestellt hatte.
Er wäre gern, wie er sagt, ein ordentlicher,
bürgerlicher Mensch geworden, hätte sich gern verheiratet und gelebt wie andere.
„Jetzt bin ich ein Vagabund“, grollt er über die Ungerechtigkeit der Welt, die ihm
die feste Anstellung versagte, nach der er sich sehnte; aber trotz dieser Sehnsucht
nach Heim und Herd wurde das Glück, das er opferte, zum Segen des Werks. […]
Am 7.5.1958 hielt der einst gefeierte und heute weitgehend vergessene Regisseur und Schriftsteller Ludwig Berger in der Hamburger Musikhalle eine Gedenkrede im Rahmen der „Brahms-Festwoche“ anlässlich des 125. Geburtstages von Johannes Brahms. Bergers rund 60 Minuten lange Ansprache wurde mitgeschnitten und in kleiner Auflage von der Hamburger Schallplattenfirma Teldec als Langspielplatte vertrieben sowie mehrfach im Druck veröffentlicht, zunächst vom Senat der Hansestadt, dann vom Tübinger Wunderlich–Verlag. Dass hier ein deutscher Kulturschaffender jüdischer Herkunft von der Hamburger Kulturbehörde als Festredner eingeladen wurde, mag mit dem Bestreben zu tun gehabt haben, sich von dem 25 Jahre zuvor, im Mai 1933 zum 100-jährigen Jubiläum abgehaltenen „Reichs-Brahmsfest“ abzugrenzen. Obschon bereits seit 1931 in der Planung, waren diese Feierlichkeiten zumindest teilweise für die „völkischen“ Zwecke des kurz zuvor installierten Nazi-Regimes vereinnahmt worden.
Im Umfeld des „Reichs-Brahmsfests“ von 1933 waren Gerüchte aufgetaucht, der Hamburger Komponist sei jüdischer Abstammung (der Familienname leite sich angeblich aus „Abrahamson“ her). Peri Arndt, Das Gerücht über Brahms’ jüdische Abstammung, in: Arbeitsgruppe Exilmusik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg (Hrsg.), Das „Reichs-Brahmsfest“ 1933 in Hamburg. Rekonstruktion und Dokumentation, Hamburg 1997, S. 119–120. Es ist nicht klar, ob Berger von diesen Gerüchten wusste, interessanterweise setzte er sich in seiner Festrede aber ebenfalls mit der Herkunft des Nachnamens Brahms auseinander.
Ludwig Berger, Vom Menschen Johannes Brahms. Als Gedenkrede gehalten beim Festakt der Freien und Hansestadt Hamburg zum 125. Geburtstag von Johannes Brahms am 7. Mai 1958, Hamburg, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-191.de.v1> [06.12.2024].