Orientalistik am akademischen Gymnasium
Johann Gottfried Gurlitt – Reformer, Pragmatiker, Wissenschaftler, Lehrer
Bedeutungsverlust der semitischen Sprachen
Säkularisierung der Orientalistik
Universalgeschichtliche Bedeutung der semitischen Sprachen
Trennung von morgen- und abendländischer Philologie und Philosophie
Gurlitts Orientalisierung des Judentums
Unter den ursprünglich vier, später sechs am Gymnasium eingerichteten Professuren war stets auch die Orientalistik vertreten. Darunter war vor allem die christlich geprägte Hebraistik zu verstehen, aber auch Vorformen der vergleichenden semitischen Philologie und Islamwissenschaft. Im 18. und auch noch im 19. Jahrhundert galt die Beschäftigung mit „morgenländischen Sprachen“ als eine Hilfswissenschaft der christlichen Theologie. Zahlreiche bedeutende Orientalisten des 20. Jahrhunderts waren von Haus aus protestantische Theologen. Humanistisch geprägte Bibelwissenschaft, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert das Profil des akademischen Gymnasiums maßgeblich geprägt hatte, wurde im Zuge der Aufklärung zunehmend obsolet. Akademische Gymnasien galten im 19. Jahrhundert als Auslaufmodelle, die oft aufgelöst oder zu Schulen herabgestuft wurden. Diese Entwicklung machte auch vor dem Hamburger akademischen Gymnasium nicht halt.
Anders als viele seiner Zeitgenossen fiel Johann Gottfried Gurlitt in seiner Amtszeit als Lehrstuhlinhaber und Rektor des akademischen Gymnasiums nicht durch antijüdische Äußerungen auf, tatsächlich wurden dort unter seiner Leitung zum ersten Mal jüdische Schüler zugelassen. Diese Maßnahme war im Kontext der schrittweisen bürgerlichen Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung in den deutschsprachigen Ländern seit dem späten 18. Jahrhundert (Emanzipation) zeitgemäß. In Hamburg erhielt die jüdische Bevölkerung zunächst während der französischen Besatzung 1811–1814 kurzzeitig volle Bürgerrechte, die nach deren Ende jedoch vom Rat der Stadt Hamburg sogleich wieder rückgängig gemacht wurden. Erst 1849 wurde die jüdische Emanzipation in der Hansestadt umgesetzt; 1860 erhielt sie Verfassungsrang. Vor diesem Hintergrund darf Gurlitt getrost als Reformer gelten, wiewohl die Öffnung des Gymnasiums für diese neue Zielgruppe gleichzeitig auch ein schlicht pragmatisches Mittel zur Erhöhung der schwindenden Studierendenzahlen war. Zu weiteren Maßnahmen, mit Hilfe derer Gurlitt den Niedergang des akademischen Gymnasiums als Einrichtung der höheren Bildung in der Hansestadt stoppen wollte, gehörten organisatorische Reformen, Gehaltserhöhungen für Professoren und eine Modernisierung des Lehrplans (S. 6–8). Die Reform des überkommenen Profils des akademischen Gymnasiums beinhaltete auch eine Überarbeitung der Curricula und Fachdidaktiken, wie Gurlitt in dem Vorwort am Beispiel des von ihm selbst vertretenen Faches ausführte (S. 9ff) Allerdings war die Beschäftigung mit orientalischen Sprachen unter den Studierenden am Gymnasium in dieser Phase nicht sonderlich populär. In den Berichten über Gurlitts Veranstaltungen zur „lyrischen Anthologie der Hebräer“ (i. e. Psalmen) und dem Buch Hiob aus dem Schuljahr 1809 / 10, die in dem Vorlesungsverzeichnis des akademischen Gymnasiums für das Schuljahr 1810 / 11 enthalten sind, ist tatsächlich nur von einem Studenten die Rede, der an diesen Veranstaltungen teilgenommen habe (S. 17). Als Wissenschaftler galt Gurlitts Forschungsinteresse der klassischen Philologie in einem erweiterten Sinn, also Latein und Griechisch sowie Hebräisch, Arabisch und anderen semitischen Sprachen. Als Orientalist war sein Ziel ganz konventionell, die Bedeutung unklarer Stellen im Alten Testament zu ergründen; sein besonderes Interesse galt dabei den Psalmen. Daneben lehrte er auch griechische Philosophie und Neues Testament.
Im Vorwort zum Vorlesungsverzeichnis beklagt Gurlitt denn auch den zunehmenden Bedeutungsverlust der morgenländischen Philologien, insbesondere der hebräischen Sprache, im Bildungskanon der Zeit. Als Gründe für diese Entwicklung nennt er die abnehmende Bedeutung hebräischer Sprachkenntnisse für den Kirchendienst in einigen deutschen Staaten, die Priorität der griechischen und lateinischen Philologie unter „Schulmännern“ und die Trennung der klassischen Philologie vom Studium der orientalischen Sprachen. Gurlitt bemerkt mit Verdruss, dass einige seiner Kollegen das Studium des Hebräischen im akademischen Gymnasium sogar für gänzlich verzichtbar hielten (S. 13).
Gurlitt ist eine interessante Figur des Übergangs der Orientalistik von einer Hilfswissenschaft der christlichen Theologie hin zu einer eigenständigen modernen Disziplin, insofern er einerseits für eine christlich geprägte Hebraistik im herkömmlichen Sinne stand, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert am akademischen Gymnasium etabliert worden war, diese aber in einem sich zunehmend säkularisierenden Umfeld neu zu legitimieren suchte. Nur eine profunde Kenntnis der hebräischen Sprache, so Gurlitt, ermögliche es, die tiefe Bedeutung der Bibel zu erkennen sowie „die Goldminen der hebräischen Sprache und Literatur“ zu entdecken (S. 14). Die Lektüre von Herders „Geist der hebräischen Poesie“ (1782) reiche dafür nicht aus. Die Tatsache, dass Gurlitt das Bibelstudium hier im Zusammenhang eines Studiums hebräischer Poesie verorten will, verweist nicht nur auf Herders spezifischen Einfluss, sondern auf die fortschreitende Entsakralisierung der biblischen Texte im Zuge der Aufklärung.
Darüber hinaus postuliert Gurlitt, Hebräisch, Arabisch und andere semitische Sprachen seien nicht nur Hilfsmittel einer traditionellen Bibelwissenschaft, sondern notwendige Bestandteile der im 19. Jahrhundert zur Leitwissenschaft avancierenden klassischen Philologie: „Allgemeine Kenntnisse von den Sprachen und der Literatur des Morgenlandes muss auch der griechische und lateinische Philolog besitzen, zur Erklärung der ältesten griechischen Dichter in Absicht auf Vorstellungsformen und Ausdrucksarten des höheren Alterthums; aber zur gelehrteren Linguistik, d.h. der allgemeinen Grammatik, zur Geschichte der menschlichen Sprache, ihres Ursprungs und Fortgangs, zur Kenntnis der allmäligen Entwickelung der Grammatik, […] bedarf er der Wissenschaft wenigstens einer sogenannten semitischen Sprache, die das Menschengeschlecht in Asien, kaum seiner Wiege entwachsen, lallte“ (S. 12). Damit beharrt Gurlitt zunächst auf der universalgeschichtlichen Bedeutung der hebräischen Sprache, die er in eine Entwicklungsreihe mit Latein und Griechisch stellt. Gleichzeitig impliziert er aber auch eine Verbindungslinie zwischen der von ihm als „asiatisch“ apostrophierten jüdischen Zivilisation und den von seinen Zeitgenossen so geschätzten griechischen und römischen Hochkulturen.
Mit dieser Einschätzung dürfte Gurlitt kaum auf ungeteilte Zustimmung gestoßen sein, denn die griechische und römische Antike galt im frühen 19. Jahrhundert als Wurzel der abendländischen Moderne und wurde meist rigoros vom Judentum und allgemein dem „Orient“ abgegrenzt. Von Christian Petersen etwa, der 1828 nach Gurlitts Tod als klassischer Philologe ans akademische Gymnasium kam, ist eine Sammlung von Aufsätzen erhalten, die sich mit der historischen Genese der griechischen Philosophie und dem Widerstreit verschiedener Schulen beschäftigen. Von einer Verbindung zu orientalischen Sprachen ist dort nirgends die Rede, auch nicht von arabischer Philosophie oder deren Rezeption der antiken Philosophie. Stattdessen bestreitet Petersen, dass die ionische Philosophie etwas mit der orientalischen Emanationslehre zu tun habe oder von der antiken babylonischen Religion beeinflusst worden sei.
So vergleichsweise fortschrittlich Gurlitts Thesen vor diesem Hintergrund klingen mögen, scheint doch in seinem Vorwort ein im Zuge der Aufklärung etabliertes universalgeschichtliches Phasenmodell durch, das teleologisch in der christlich geprägten europäischen Moderne gipfelte. Der „Orient“ und die hebräische sowie andere semitische Sprachen kamen darin auch bei aufgeklärten Intellektuellen wie Gurlitt allenfalls als Wiege der Menschheit, als Archiv der Kindheit der menschlichen Zivilisation vor. Das auf diese Weise orientalisierte Judentum wird hier, ähnlich wie im christlichen Dogma von der „Ablösung“ des Judentums durch das Christentum, zu einem Vorläufer der europäischen Moderne. Genau darin bestehen Anknüpfungspunkte zur antisemitischen Dimension der Aufklärung, wonach vollständige Assimilierung eine notwendige Bedingung für die bürgerliche Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung darstellte.
Einen ähnlichen Ansatz vertrat ein Jahrhundert später ein weiterer bedeutender Bildungsreformer, Carl Heinrich Becker, als Professor am Hamburger Kolonialinstitut. Becker verortete den Islam und die Geschichte muslimischer Gesellschaften im Rahmen einer von ihm antizipierten Weltgeschichte, die über damals verbreitete Vorstellungen von wesenhaft unterschiedlichen und in sich geschlossenen „Kulturkreisen“ insofern hinausging, als das islamische „Andere“ zu einem Erben der Spätantike und daher zu einem – wenn auch etwas zurückgebliebenen – Verwandten der überlegenen europäischen Zivilisation erklärt wurde. Juden und Muslime hatten also im Laufe des langen 19. Jahrhunderts unter liberalen Intellektuellen wie Gurlitt und Becker zwei Dinge gemeinsam: Beide Religionen galten als orientalisch konnotiert und wurden zu zwar unverzichtbaren, aber defizitären Vorläufern der christlich geprägten europäischen Moderne herabgestuft.
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Achim Rohde, Dr. phil., geboren 1969, ist Wissenschaftskoordinator an der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, Goethe-Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die moderne und Zeitgeschichte des Nahen und Mittleren Ostens und Geschichte der Orientalistik in Deutschland.
Achim Rohde, Hebraistik zwischen christlicher Theologie und Aufklärung. Das akademische Gymnasium in Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 19.10.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-52.de.v1> [20.11.2024].