Bei dieser Quelle handelt es sich um einen Auszug aus dem Vorwort der Hamburger Koranausgabe von 1694, herausgegeben von Abraham Hinckelmann. Seinen Platz in den Geschichtsbüchern erlangte Hinckelmann, weil er die erste gedruckte arabische Ausgabe des Korans in Europa publizierte, die der Nachwelt erhalten blieb. Dies geschah direkt nach dem Ende der zweiten Belagerung Wiens durch die Osmanen (1683) und der Habsburgischen Gegenoffensive (1686), im Zuge derer auch wertvolle schriftliche osmanische Quellen als Kriegsbeute nach Europa gelangten – ein wichtiger Impuls, der die Entwicklung der Orientalistik auch in den deutschsprachigen Ländern begünstigte. Hinckelmanns Koranausgabe war ein Meilenstein in dieser Hinsicht. In einem 80-seitigen Vorwort begründet Hinckelmann nicht nur seine in der damaligen Zeit durchaus umstrittene Initiative, den Koran in seiner Originalsprache zu publizieren, sondern bietet auch eine vom umfangreichen Wissen des Autors zeugende Darstellung der „arabischen Studien“, die aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wertvoll ist. Zugleich stellt er den im späten 17. Jahrhundert noch weitgehend unangetasteten Sonderstatus des Hebräischen als lingua sacra in Frage und nennt stattdessen das Arabische als die der göttlichen Ursprache am nächsten kommende und damit auch für das Verständnis der Bibel relevante Sprache. Die hier einsetzende Entsakralisierung und symbolische Degradierung der hebräischen Sprache signalisiert das nahende Ende der Beschäftigung mit jüdischer Theologie oder dem Talmud sowie das abnehmende Interesse an einem persönlichen Austausch mit jüdischen Gelehrten (wenn auch zu Missionszwecken) seitens „aufgeklärter“ christlich geprägter Hebraisten des 18. und 19. Jahrhunderts.
Die vorliegende Quelle illustriert das sich wandelnde Selbstbild des christlichen Europas, als dessen signifikant Andere vor allem Muslime und Juden zu nennen sind. Zugleich justiert der Autor darin das Verhältnis dieser beiden untereinander neu – hier mit Blick auf das Verhältnis der hebräischen und arabischen Sprachen.
Kulturkontakte zwischen Europa und „dem Orient“ waren seit der Entstehung des Islam und der Etablierung muslimischer Reiche auf der arabischen Halbinsel und im Mittelmeerraum geprägt von einer theologischen wie politischen Konkurrenz, die oft kriegerische Züge annahm, zunächst im Kontext der Kreuzzüge, dann im Zuge der sogenannten Reconquista und der Kriege gegen das Osmanische Reich. Die erste lateinische Koranübersetzung stammt aus dem 12. Jahrhundert aus der Feder eines englischen Astronom, Übersetzers und Theologen (Robert von Ketton, 1143), der von der Notwendigkeit überzeugt war, den Kampf gegen Muslime nicht allein mit Waffengewalt, sondern auch in Form einer theologischen Auseinandersetzung mit dem Islam führen zu müssen. Im 14. Jahrhundert wurden daher auf Beschluss des Wiener Konzils (1311) an mehreren Universitäten in Europa Lehrer für Arabisch, Hebräisch und Aramäisch (damals als Chaldäisch bekannt) eingestellt. Im nachreformatorischen Europa, insbesondere im 17. Jahrhundert, wurden zahlreiche Lehrstühle geschaffen, die der Erforschung der hebräischen und anderer „morgenländischer Sprachen“ gewidmet waren.
Hintergrund dieser Entwicklung war der Mangel an entsprechend qualifizierten Kräften für die Missionstätigkeit an Juden und Muslimen, aber auch die Notwendigkeit von relevanten Sprachkenntnissen für politische Verhandlungen mit muslimischen Herrschern. Vor allem aber ist auf die Verbindung des Studiums orientalischer Sprachen als Teil der Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte zu verweisen, und dies meinte vor allem das Studium der hebräischen Sprache. Der Zweck dieser Beschäftigung lag darin, den wahren Sinn bestimmter biblischer Textstellen mittels eines Vergleichs der hebräischen mit anderen verwandten Sprachen zu ergründen. Der Fokus lag auf Hebräisch und Aramäisch. Das Arabisch-Studium war also aufgrund der Verwandtschaft der arabischen und hebräischen Sprachen zunächst ein Anhängsel der Bibelwissenschaften.
Die deutschen Länder waren für die Entwicklung der Orientalistik / Hebraistik in Europa lange von eher geringer Bedeutung. In größerem Maßstab begann diese erst im Zuge der Reformation dort Fuß zu fassen, als das Studium der heiligen Schrift in ihren Originalsprachen einen hohen Stellenwert erlangte. Diese Entwicklung spiegelte sich auch im Hamburger Akademischen Gymnasium (gegründet 1613) als einer dezidiert protestantischen Bildungsinstitution wider, in der die christliche Hebraistik / Orientalistik von Beginn an und bis zu seiner Schließung zum Fächerkanon gehörte. Im 17. Jahrhundert und bis ins frühe 18. Jahrhundert sind beträchtliche „orientwissenschaftliche“ Aktivitäten in Hamburg zu verzeichnen, die in bedeutendem Maße, aber nicht ausschließlich, vom Akademischen Gymnasium ausgingen und auch überregional Beachtung fanden. Hinckelmanns Koranausgabe von 1694 ist in diesem Kontext anzusiedeln.
Indem sich Hinckelmann in seinem Vorwort als entschiedener Widersacher des Islam präsentiert, scheint er Kritik an seinem Vorgehen unter seinen Zeitgenossen zuvorkommen zu wollen. Gleichzeitig argumentiert er, man müsse den Koran gründlich kennen, um ihn wirkungsvoll bekämpfen zu können. Hinckelmann war christlicher Theologe und Bibelforscher und als solcher zunächst der überkommenen Vorstellung von Hebräisch als der Mutter aller Sprachen verpflichtet. Als Sohn eines Pfarrers in Hamburg aufgewachsen, arbeitete Hinckelmann im Anschluss an sein Studium der Theologie und der orientalischen Sprachen zunächst als Lehrer und Schulleiter; später wurde er Hauptpastor von St. Catharinen. Vor seiner Koranausgabe erschienen von ihm Schriften zu verschiedenen Textstellen in der Thora. Was also hatte seine Leidenschaft für einen arabischen Druck des Korans und für die „arabischen Studien“ insgesamt – in seiner persönlichen Bibliothek befanden sich zahlreiche arabische Handschriften von unschätzbarem Wert – ausgelöst? Die Antwort auf diese Frage gibt Hinckelmann ebenfalls im Vorwort seiner Koranausgabe: „Aber gewiss findest du so leicht keine weitere Sprache, die sich derart in die Wissenschaften vom Göttlichen und Menschlichen ergießt wie die arabische: weit davon entfernt, dass man sie vernachlässigen dürfte! Um mit der Theologie anzufangen: Unglaublich ist es, welch großes Licht sie doch auf die hebräische Sprache [...] und das Heilige Buch wirft.“
Hinckelmann behauptet weiterhin, niemand könne eine orientalische Sprache korrekt verstehen, wenn er nicht auch alle anderen lerne, neben der hebräischen namentlich „die chaldäische, die samaritanische, die syrische, die arabische und die äthiopische“. Denn letztlich seien dies alle Dialekte ein- und derselben Sprache, der göttlichen Ursprache aus der Zeit vor der Babylonischen Sprachenverwirrung. Hinckelmann beruft sich dabei auf die unter Zeitgenossen zumeist skeptisch rezipierten Arbeiten des Berliner Orientalisten Christian Ravius, der diese sogenannte Dialektthese zuerst aufgestellt hatte. Besonders interessant ist Hinckelmanns Behauptung, dass das Arabische von entscheidender Bedeutung sei für die Erklärung der hebräischen Bibel, besonders der älteren Bücher, zum Beispiel des Buches Hiob. Darin enthalten ist die Vorstellung von einer besonders authentischen arabischen Sprache, welche sich über die Jahrtausende kaum verändert habe und daher die größte Nähe zur göttlichen Ursprache aufweise.
Seine besondere Wertschätzung des Arabischen weist darauf hin, dass für Hinckelmann der bis dato unumstrittene göttliche Sonderstatus des Hebräischen bereits in Frage stand. Während die Beschäftigung christlicher Theologen mit dem nachbiblischen Hebräisch eine kritische Auseinandersetzung mit rabbinischer Gelehrsamkeit eingeläutet hatte, ging Hinckelmann einen Schritt weiter: Wenn dies auch in seinem Vorwort nicht explizit zum Ausdruck kommt, so impliziert seine Argumentation doch, dass auch das biblische Hebräisch nicht die göttliche Ursprache in Reinform repräsentiere, sondern sich im Laufe der Zeit verändert habe. Daher sei der wahre Sinngehalt der Bibel nur unter Rückgriff auf verwandte Sprachen zu eruieren. Durch den Verweis auf die Verwandtschaft des Hebräischen mit dem Arabischen und durch die von ihm zustimmend rezipierte These einer besonderen Authentizität des Arabischen und seiner daraus resultierenden Nähe zur göttlichen Ursprache stellt Hinckelmann das bis dato in der Bibelforschung postulierte Verhältnis zwischen beiden Sprachen auf den Kopf: „Das Antlitz ist nicht allen gleich, doch auch nicht grundverschieden, wie es sich für Schwestern ziemt“ [Ovid, Metamorphosen II, 13-14]. In dieser Sache jedoch beansprucht, wie ich bereits sagte, die arabische Sprache für sich eine gewisse Vorherrschaft, weil sie hinsichtlich Alter und Größe diese Schwestern besiegt, und sie der hebräischen Mutter gar die Macht, die sie von ihr erhielt, bereits gleichsam durch das Heimkehrrecht gemeint ist die Rückkehr zur wahren Bedeutung der Bibelstellen durch eine am Arabischen geschulte Rekonstruktion der göttlichen Ursprache, A. R. zurückerstattet.“ Hinckelmanns Thesen stehen stellvertretend für einen Prozess, der als eine „Orientalisierung“ von Judentum wie Christentum seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bezeichnet werden kann, das heißt „ein[] hermeneutische[r] Zugang vornehmlich zum Alten Testament, der den Text nicht mehr losgelöst von allen historisch-kulturellen Kontexten in einer isolierten Sphäre heilsgeschichtlicher Entwicklung sieht.“ Der Orient wurde nun „als lebensweltlicher Entstehungskontext“ Jan Loop, Kontroverse Bemühungen um den Orient. Johann Jacob Reiske und die deutsche Orientalistik seiner Zeit, in: Hans-Georg Ebert / Thoralf Hanstein (Hrsg.), Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung. Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert, Leipzig 2005, S. 60. der biblischen Schriften begriffen. Seine Erforschung wurde folglich für die Bibelforschung zunehmend relevant und sollte sich in der Zukunft zu einer eigenständigen akademischen Disziplin entwickeln.
In Hinckelmanns Vorwort wird somit eine Entwicklung manifest, in der die Grundlagen für die vergleichende semitische Philologie des 19. und 20. Jahrhunderts gelegt werden. Das bei Hinckelmann positiv konnotierte Motiv einer aufgrund ihrer Statik quasi unverdorbenen arabischen Sprache fand im 19. und 20. Jahrhundert eine spiegelbildliche Entsprechung in der negativ konnotierten Vorstellung von einem kulturell stagnierenden Orient, der den Anschluss an die Moderne verpasst habe. Die Einordnung der hebräischen Sprache – und damit des Judentums – in einen orientalischen Kontext schaffte die Voraussetzungen für die pejorative Orientalisierung des Judentums als eines defizitären „südländischen“ Anderen des christlichen Europa im modernen Antisemitismus.
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Achim Rohde, Dr. phil., geboren 1969, ist Wissenschaftskoordinator an der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft, Goethe-Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die moderne und Zeitgeschichte des Nahen und Mittleren Ostens und Geschichte der Orientalistik in Deutschland.
Achim Rohde, Ein Hamburger Koran und die Degradierung des Hebräischen in der christlichen Theologie des 17. Jahrhunderts, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 21.10.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-51.de.v1> [20.11.2024].