Von Agathe Lasch sind wenige persönliche Zeugnisse überliefert. Umso kostbarer sind die zwei handgeschriebenen Lebensläufe, die von ihr im Staatsarchiv in Hamburg aufbewahrt werden. Der erste ist handschriftlich und ohne Datum überliefert, der zweite liegt in einer maschinenschriftlichen zweiteiligen Fassung vor, die von Agathe Lasch eigenhändig datiert und unterschrieben ist. Der erste Teil stammt demnach aus dem Jahr 1921, der zweite aus dem Jahr 1926. Beide Lebensläufe sind ungewöhnliche Dokumente aus einer Zeit als sich das ehemalige Kolonialinstitut in eine Universität verwandelte und Frauen nach langem Kampf endlich auch offiziell der Weg in die Hochschulen geöffnet wurde. Agathe Lasch bewarb sich jedoch nicht als Studentin an der neu gegründeten Universität, sondern sie war bereits eine ausgewiesene Wissenschaftlerin, die ihre außergewöhnlichen Qualifikationen selbstbewusst in ihren beiden Lebensläufen herausstellte. Der erste, kürzere Lebenslauf entstand im Laufe ihres Habilitationsverfahrens, der zweite im Kontext ihrer Berufung auf eine Professur an der Universität Hamburg, mit der sie bundesweit zur ersten Professorin in der Germanistik ernannt wurde. Beigelegt ist dem zweiten Lebenslauf ein „Biographischer Bogen“ und ein „Verzeichnis der Veröffentlichungen“, aus denen hervorgeht, dass Lasch seit ihrer Promotion in Heidelberg 1909 kontinuierlich in anerkannten Fachzeitschriften veröffentlicht und sich über die Dissertation hinaus neue Themen erschlossen hatte.
Die 1879 in Berlin geborene Luise Sara Agathe Lasch – diese drei Vornamen stehen in dem von ihr selbst ausgefüllten Formular, das dem zweiten Lebenslauf beigelegt ist – stammte aus einer jüdischen Familie, die zwar nicht wohlhabend aber bildungsoffen war, denn sie legte der begabten Tochter keine Steine in den Weg als diese nach der Höheren Mädchenschule das Lehrerinnenseminar besuchte und sich für die externe Reifeprüfung vorbereitete. Lasch gehörte damit zu der kleinen Schar von eigenwilligen Pionierinnen, die sich gegen alle Widerstände und Hindernisse die Zugänge zum Studium und schließlich zur Promotion erstritten hatten, um dann feststellen zu müssen, dass eine akademische Laufbahn für Frauen an deutschen Universitäten nicht vorgesehen war. Eine Generation zuvor hatte die Hamburgerin Ilse Frapan, die wie Lasch aus einer jüdischen Familie stammte und eigentlich Elise Levien hieß, in ihrem Roman Wir Frauen haben kein Vaterland (1899) von den deprimierenden Erfahrungen erzählt, die sie als Studentin in Zürich gemacht hatte. Das liberale Zürich war damals der akademische Zufluchtsort für intellektuelle Frauen aus ganz Europa – unter ihnen waren sehr viele Jüdinnen – die in ihren Heimatländern nicht studieren konnten, aber auch in Zürich keineswegs immer willkommen waren. Die Vorurteile gegen studierende Frauen begannen sich europaweit nur sehr langsam aufzulösen. Noch 1908, als Frauen erstmals zum Studium an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin zugelassen wurden, gab es einen erbitterten Kampf von Professoren, die im Frauenstudium den „Untergang des Abendlandes“ befürchteten und Studentinnen den Zugang zu ihren Vorlesungen militant verwehrten. Ein Nachhall der aufgeregten Debatten ist noch in der Rede „Über das Frauenstudium“ zu spüren, in welcher der Mediziner Ernst Bumm 1917 eine erste verhalten positive Bilanz zog und gleichzeitig davor warnte, dass das Frauenstudium zur „Mode“ werden könnte.
Agathe Lasch war klug genug, ihr Studium nicht in Berlin zu beginnen. Die Wahl ihres Studienortes Heidelberg, wo Frauen seit 1891 zum Studium zugelassen worden waren und sogar promovieren konnten, zeugt von Weitsicht. Nach ihrem Studienabschluss traf sie eine mutige Entscheidung: Im Jahr 1910 verließ sie Deutschland, kurz nachdem sie ihre Doktorarbeit über die Geschichte der „Schriftsprache in Berlin bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts“ mit summa cum laude verteidigt hatte. Für eine gelehrte Frau wie sie, war offensichtlich kein Platz an deutschen Universitäten, die gerade erst begannen, sich für Frauen zu öffnen. Sie fand eine Anstellung als Associate Professor in Pennsylvania / USA, wo sie noch heute – neben vielen anderen Berühmtheiten – in den Annalen des Bryn Mawr College erwähnt wird. Bei ihrer Tätigkeit an der renommierten Frauenuniversität half ihr sicherlich, dass sie über profunde Kenntnisse nicht nur in den germanischen und indogermanischen Sprachen verfügte, sondern sich auch für angrenzende Fachgebiete und insbesondere für die geschichtliche Einordnung von Sprache in kulturelle Kontexte interessierte. In ihrem Lebenslauf schreibt sie, dass Sprache und Geschichte nicht zu trennen seien und dass es ihr in allen Arbeiten darum gehe, „die Sprachgeschichte aufs engste mit der Kulturgeschichte und der politischen Geschichte zu verknüpfen“. Wie sehr sie am Bryn Mawr College geschätzt wurde, zeigt, dass ihr die Leitung der germanistischen Abteilung des Deutschen Seminars übertragen wurde und sie das Fach „Teutonic Philology“ in seiner ganzen Breite in der Lehre vertrat.
Das Spektrum ihrer Forschungen war demgegenüber eingeschränkt. Es ging ihr nicht um große theoretische Entwürfe, sondern um die Sicherung von Basiswissen, auf dem spätere Generationen von Forschern aufbauen sollten. Die Frage, „wie sich das Mittelniederdeutsche zum Neuniederdeutschen wandelte“, mag befremdlich im amerikanischen Umfeld anmuten, für Lasch wurde deren Beantwortung jedoch zur Lebensaufgabe, der sie sich unabhängig von Zeit und Ort mit größter Hingabe widmete. Ihre Mittelniederdeutsche Grammatik, die in den USA fertiggestellt und 1914 in Deutschland als Buch erschien, war ein erster Versuch, ihre Forschungsergebnisse zu systematisieren und die „veralteten Ansichten über das Niederdeutsche, die die deutsche Philologie noch beherrschen, einzureissen“, wie sie in ihrem Lebenslauf (1921 / 1926) nicht ohne Stolz schrieb. Sie verstand sich also in gewisser Weise als Revolutionärin, auch wenn sie ihre Kritik an den Großmeistern des Faches wie zum Beispiel Jakob Grimm diplomatisch formulierte. Auch sonst trat sie in ihrem ganzen Habitus nicht als Umstürzlerin auf. Stets hochgeschlossen und schwarz gekleidet, das Haar schmucklos und straff nach hinten gekämmt, ein Monokel im rechten Auge repräsentierte sie eine Facette der Neuen Frau, indem sie als unabhängige, asketische Gelehrte nach wissenschaftlicher Erkenntnis strebte.
Die Zeit in den USA blieb nur ein kurzes Zwischenspiel. „Der politischen Verhältnisse wegen“ - wie Lasch in ihrem Lebenslauf schreibt, gab sie ihre Lehrtätigkeit 1916 auf und kehrte als unerwünschte Ausländerin nach Deutschland zurück. Wie weit dabei auch patriotische Einstellungen von ihrer Seite eine Rolle gespielt haben mögen, ist von der Aktenlage her nicht zu entscheiden. Auf jeden Fall wurde sie in der Heimat nicht mit offenen Armen empfangen. Das Bryn Mawr College war in Deutschland kein Begriff, die ausdrücklichen Hinweise von Lasch auf vergleichbare Eliteuniversitäten wie Princeton und Harvard waren offensichtlich nötig, um deutlich zu machen, dass sie an einer renommierten Institution in den USA gearbeitet hatte. In Deutschland musste sie zunächst wieder ganz klein anfangen. Eine Anstellung fand sie, wie aus dem ihrem Lebenslauf ebenso wie aus dem von ihr handschriftlich ausgefüllten, in den Akten liegenden „Biographischen Bogen“ hervorgeht, als „wissenschaftliche Hilfskraft“ an dem im Aufbau befindlichen Deutschen Seminar in Hamburg. Sie hatte dabei Glück im Unglück. Als junge aufstrebende akademische Institution, die sich ihren Ruf im Reigen der alten ehrwürdigen Universitäten erst erobern musste, konnte die Hamburger Universität einerseits nicht wählerisch sein und war in den bedrängten Kriegszeiten bereit, sogar Frauen eine Chance zu geben, andererseits konnte sie von dem internationalen Renommée und den institutionellen Erfahrungen profitieren, die Lasch aus den USA mitbrachte.
Lasch gab sich jedoch mit der untergeordneten Hilfskraftstelle nicht zufrieden und strebte – wie ihr erster Lebenslauf signalisiert – zielsicher die Habilitation an. Bereits im Sommersemester 1919 wurde sie mit der Abhaltung von Vorlesungen beauftragt und mit den Vorarbeiten für das im Entstehen begriffene Hamburgische Wörterbuch betraut. Der Titel ihrer Antrittsvorlesung „Der Anteil des Plattdeutschen am niederelbischen Geistesleben im 17. Jahrhundert“ zeigt, dass sie sich mit ihren Themen Nischen wählte, die mit dem Blick von heute etwas aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. In diesen Nischen konnte sie ihre Gelehrsamkeit entfalten und sich zu einer anerkannten Kapazität entwickeln, welche die aus dem Krieg zurückkehrenden Kollegen nicht ohne weiteres beiseiteschieben konnten. Dennoch sollte es noch einige Jahre dauern bis sie endlich eine angemessene Stelle an der Hamburger Universität erhielt. Erst mit dem im Jahre 1926 eigens für sie geschaffenen Lehrstuhl für Niederdeutsche Philologie fand sie einen Wirkungsrahmen, der ihrer Qualifikation entsprach und ihr die Möglichkeiten zu weiteren Forschungen eröffnete. Federführend arbeitete sie an zwei großen Wörterbuchprojekten und widmete sich intensiv der systematischen Erschließung des Sprachschatzes der Hansezeit und der Hamburger Mundart. Trotz ihrer Konzentration auf das Niederdeutsche und Hamburgische verlor sie das Thema ihrer Dissertation auch in ihrer neuen Position in Hamburg nicht aus den Augen. Mit dem Buch Berlinisch (1928) setzte sie ihre Studien zur Berliner Sprachgeschichte fort und bekräftigte ihr anhaltendes Interesse an den regionalen Besonderheiten der deutschen Sprache. Das „Hamburgische“ und das „Berlinische“ waren die beiden Koordinaten, die ihr wissenschaftliches Leben prägten, das „Jüdische“, zu dem sie keine enge Verbindung gehabt zu haben scheint, bestimmte erst nach 1933 ihr Leben in einer Weise, die uns Nachgeborenen noch heute die Schamröte und Wut ins Gesicht treiben muss.
Über ihren weiteren Lebensweg finden sich kaum Dokumente, aber die wenigen bekannten Fakten müssen doch genannt werden. Eine „Jüdin“ als „Germanistin“, zumal in so hervorgehobener Position, war nach 1933 in Staatsdiensten nicht länger tragbar. 1934 verlor Agathe Lasch ihren Lehrstuhl, zog 1937 zurück nach Berlin, erhielt Publikationsverbot und musste all die Schikanen und Demütigungen ertragen, von denen Viktor Klemperer in seinen posthum veröffentlichten Tagebüchern (1933–1945) berichtet. Eine Flucht scheint Lasch nicht erwogen zu haben, Rufe an ausländische Universitäten scheiterten am Widerstand der Nationalsozialisten. Im Juli 1942 wurde ihre Privatbibliothek beschlagnahmt, im August 1942 wurde Agathe Lasch mit ihren beiden Schwestern nach Riga deportiert und auf dem Weg ins Lager erschossen. Heute erinnern an die Wissenschaftlerin einige Gedenktafeln, Straßennamen und Stolpersteine in Hamburg und Berlin, ein Erinnerungsstein im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, ein Hörsaal in der Hamburger Universität und der seit 1992 vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg verliehene Agathe-Lasch-Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der niederdeutschen Sprachforschung.
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Prof. Dr. Inge Stephan, ehemals Assistentin und dann Professorin am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg, Mitbegründerin und Leiterin der Arbeitsstelle für Feministische Literaturwissenschaft ebenda sowie Mitherausgeberin des Rundbriefs „Frauen in der Literaturwissenschaft“, später Berufung an die Humboldt Universität zu Berlin und dort beteiligt am Aufbau des fachübergreifenden Gender- Studiengangs. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Frauenforschung, der Feministischen Literaturwissenschaft und der Genderstudien. Seit der Pensionierung als freie Autorin im Bereich der Kulturgeschichte der Geschlechter tätig.
Inge Stephan, „veraltete […] Ansichten […] einzureissen“. Agathe Lasch, eine akademische Revolutionärin, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 25.04.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-278.de.v1> [05.10.2024].