Aus den Berichten der zionistischen Periodika erfahren wir mehr über den Ablauf der beiden Ereignisse. Der gutbesuchte Vortragsabend mit Otto Eberhard fand im Logenheim der Henry-Jones Loge Hamburg statt. Der Mediziner Dr. Ernst Kalmus, Vorsitzender der zionistischen Ortsgruppe Hamburg-Altona und zudem eines der ersten aktiven Mitglieder der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), eröffnete den Abend. Er wies auf die Motivation zu der Veranstaltung hin: Die Zionisten protestierten damit explizit gegen den Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Anlass gaben Interventionen des Abwehrvereins gegen Judenfeindschaft, „wenn von uns als Preis dafür […] die Assimilation gefordert wird.“ Jüdische Rundschau 48 (1908), 27.11.1908, S. 212.
Auf der Generalversammlung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus hatte Siegmund Günther (1848–1923), Naturwissenschaftler und Historiker, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und liberaler Abgeordneter des Reichstags a. D., über die Geschichte der Judenverfolgung vom Altertum über das Mittelalter bis hin zur „neuen antisemitischen Bewegung“ seit 1880 referiert. Siegmund Günther, Vaterlandsliebe und Bodenständigkeit bei unseren jüdischen Mitbürgern, in: Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 18 (1908) 43, S. 331–333. Günther hatte vom Standpunkt der Judenemanzipation und der Toleranz die Unsinnigkeit antisemitischer Rassentheorien zurückgewiesen. Energisch bestritt er den judenfeindlichen Vorwurf mangelnder jüdischer „Vaterlandsliebe“. Den Vorwurf fehlender „Bodenständigkeit“, also der Unterrepräsentanz von Juden im Bauernstand, führte Günther auf historische Gründe zurück. Den Juden müsse „die Möglichkeit gegeben werden, genau unter denselben Bedingungen ihr Dasein zu führen, wie die Angehörigen anderer Konfessionen.“ Das Ziel des Kampfes gegen den Antisemitismus müsse daher lauten, „künstliche Unterschied[e] zwischen Deutschen und Juden“ zu überwinden und „unsere jüdischen Mitbürger uns vollständig zu assimilieren.“ Den Zionismus bezeichnete er als „Fahnenflucht“, der die Identifikation der deutschen Staatsbürger jüdischer Konfession mit ihrem Vaterlande gefährde. Günther, Vaterlandsliebe, S. 333.
Der Zionist Kalmus stellte zwar nicht den „aus edlen Motiven gewährten Schutz“ des Abwehrvereins in Abrede, protestierte jedoch gegen die „ungerechten Angriffe, die jetzt zum ersten Male von christlicher Seite gegen den Zionismus aus missverständlicher Auffassung gerichtet werden“. Tatsächlich hatten Nichtjuden, die für die Sache des Abwehrvereins stritten, bereits seit den 1890er-Jahren nicht nur gegen den Antisemitismus, sondern zugleich den Zionismus polemisiert. vgl. exemplarisch Vom Zionistenkongreß in Basel, in: Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 7 (1897) 37, S. 293; Gegen den Zionismus, in: Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 7 (1897) 48, S. 377–378; Absonderung und Abstoßung, in: Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 13 (1903) 37, S. 289–292. Neu war hingegen die Strategie der Zionisten, dieser Position mit Eberhard „das Urteil eines objektiv denkenden christlichen Mannes“ – die Darstellung Eberhards über das „Volksleben in Palästina“ – gegenüberzustellen, mit der die Position der Zionisten, als „bewußte Juden“, gestärkt werden sollte. Jüdische Rundschau, 27.11.1908, S. 212. Der Bericht Eberhards sollte unterstreichen, dass es entgegen Günthers Darstellung heute, in Palästina, sehr wohl die Möglichkeit zu einer „bodenständigen“ jüdischen Existenz gebe und damit eine Alternative zur jüdischen „Assimilation“ bestehe.
Der eingeladene Referent, der Pastor und Pädagoge Otto Eberhard, hatte 1905 im Auftrag des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes eine Forschungsreise nach Palästina unternommen. Ganz im Geiste der zeitgenössischen, christlich geprägten Palästinawissenschaft sollte die „Kenntnis der Eigenart des Landes der Bibel“ zu einem besseren Verständnis der Heiligen Schrift führen, wie Eberhard im Vorwort seiner 1910 unter dem Titel „Palästina. Erlebtes und Erlerntes im Heiligen Land“ publizierten Palästina-Erfahrungen selbst ausführte. Neben Land und Landschaft hatten besonders die jüdischen Kolonien bei Eberhard bleibenden Eindruck hinterlassen. Sowohl im christlichen als auch im zionistischen Kontext trat Eberhard in Folge seiner Palästinareise als „christlicher Zionsfreund“ und „Philozionist“ in Erscheinung So nannte ihn die Jüdische Rundschau, vgl. Otto Eberhard, Der Zionismus, in: Jüdische Rundschau Heft 3 (1907), 18.1.1907, S. 26–29, S. 26. und rühmte die praktischen Errungenschaften des Zionismus. Da Eberhard „Palästina und den Zionismus aus fachmännischer Erfahrung“ kannte, wie Kalmus betonte, schien seine Objektivität erwiesen und seine Fürsprache vor dem Verdacht gefeit, allzu offensichtliche politische Propaganda zu üben.
Eberhard leitete seinen Vortrag mit der Feststellung ein, dass die bislang aus der Palästinasehnsucht heraus entstandene Reiseliteratur überwiegend oberflächlich gewesen sei und erst allmählich ein wissenschaftliches Gepräge erhalte. Doch ohnehin sei das „literarische Wissen“ nur ein schwacher Ersatz für eine wirkliche Reise ins Heilige Land, die er jedem empfahl, der ein „Herz für Palästina“ habe. Eberhard ging es dabei keineswegs nur um die Bereisung und Erforschung des Heiligen Landes, sondern um nichts weniger als den „Wiederaufbau Zions“. Damit rekurrierte er auf einen christlichen Topos, der als „Restorationism“ vor allem in Kreisen des englischen Pietismus und der Judenmission Verbreitung fand. Diese Idee ging davon aus, dass die „Sammlung“ und Rückkehr der Juden nach Palästina bevorstünde, womit gleichwohl die Wiederkehr von Jesus Christus erwartet wurde. Diese christliche Strömung war für den Zionismus vor allem durch die Person William Hechler bedeutsam. Der englische Reverend wähnte im Zionismus den Beginn einer prophetischen Bewegung und vermittelte Theodor Herzl wichtige politische Kontakte bis hin zum deutschen Kaiser. Auch Eberhard war solchen Ideen gegenüber aufgeschlossen, wie ein zehn Jahre später auf dem Jahresfest des Leipziger Judenmissionsvereins gehaltener Vortrag zeigt, in dem er gleichfalls und weiterhin enthusiastisch über den Zionismus sprach. vgl. Otto Eberhard, Zwanzig Jahre Zionismus, in: Saat auf Hoffnung. Zeitschrift für die Mission der Kirche an Israel 56 (1919), S. 12-34.
Auch wenn Eberhard seine christliche Erwartungshaltung in seinem Hamburger Vortrag nicht vertiefte, war sein Blick auf Zionismus und Judentum christlich gefärbt. Eberhard schilderte darin den Aufschwung Palästinas durch die fortschreitende jüdisch-zionistische Kolonisation. Er beschrieb diese als bedeutenden Kulturfaktor, die in umso strahlenderem Licht erschien, als der Referent die Lebensweise der Chalukah-Juden Jerusalems zum Vergleich mit den Zionisten heranzog: „Die verderbliche Institution der Chalukah hat ein erbärmliches Geschlecht gross gezogen: systematisch der Arbeitsscheu und Trägheit in die Arme getrieben, bleibt es im grössten sozialen und geistigen Elend stecken.“ Jüdische Rundschau, 27.11.1908, S. 212. Der Zionismus indes revolutionierte in den Augen Eberhards all das, woran das Judentum ansonsten krankte: landwirtschaftliche Bestrebungen formten den Willen zu ehrlicher Arbeit und verdrängten den Hang zu Almosen; moderne Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen überwanden die durch verkrustete Religiosität gekennzeichnete Unbildung und geistige Stagnation. Eberhard schilderte das Siedlungswerk in Palästina als Vorboten einer neuen Zeit, eines neuen Judentums. An diese Ausführungen schloss sich „[s]türmischer, nicht endenwollender Beifall“ des Publikums, das den großen Saal des Logenheims bis auf den letzten Platz ausfüllte. Der Verfasser machte keine Angabe darüber, ob es sich dabei um ein überwiegend jüdisches oder gemischtes Publikum handelte.
Eberhard verfasste mehrere größere Schriften zu der Thematik, die sich ebenfalls auf seine Palästinareise stützten: Palästina. Erlebtes und Erlerntes im Heiligen Land (1910), Palästina. Erlebtes und Erlauschtes vom heiligen Lande (1913) sowie die für das Pro Palästina Komitee verfasste Broschüre Der Zionsgedanke als Weltidee und als praktische Gegenwartsfrage (1918); in diesem Komitee versammelten sich nichtjüdische Politiker, Publizisten und Wirtschaftsexperten, um eine Unterstützung der zionistischen Bewegung vonseiten der deutschen Regierung zu erwirken. Eberhards Publikationen veranschaulichten eingehender den Wandel, der sich seiner Ansicht nach durch den Zionismus innerhalb des Judentums vollziehe. Heimatlosigkeit wandle sich zu Sesshaftigkeit, aus Händler- und Trödlertum erwachse der jüdische Bauer, Mammonismus weiche Gemeinschaftssinn, aus Zerstreuung und Internationalismus werde Einheit und Volk. Eberhard beschrieb den Zionismus als heilsamen Erneuerungsprozess des Judentums durch die Rückkehr zum Boden, zum organisch Volkhaften und landwirtschaftlich Produktiven. Dieser Transformationsprozess des Judentums habe zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Region Palästina geführt und werde eine wichtige Rolle für die Zukunft des Landes spielen. Den euphorischen Beschreibungen der zionistischen Renaissance war dabei die ablehnende und stereotypisierte Beurteilung des nicht-zionistischen Judentums inhärent. Eberhard reproduzierte gängige Bilder des Jüdischen, die der christlichen Tradition entsprangen. Auch wenn er allzu direkte theologische Verurteilungen aussparte, erschien das nicht-zionistische Judentum als ein überholtes morsches Gebilde, untätig und unproduktiv, geistig starr und ohne innere Entwicklung. Produktivität und geistiges Niveau setzte Eberhard in eins.
Neben der Verbesserung der Lage für die Juden selbst habe der Zionismus auch wirtschaftliche Bedeutung für die Nichtjuden. Im Vortrag wie auch seinen Publikationen bezeichnete Eberhard das Verhältnis von christlichen und zionistischen Kolonisten in Palästina als „Interessengemeinschaft“. Die deutschen Templer, württembergische Pietisten der sogenannten Tempelgesellschaft, waren zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach Palästina aufgebrochen, um durch die landwirtschaftliche Produktivierung des Bodens im Heiligen Land einen symbolischen Tempel zu errichten und damit die Wiederkehr von Jesus Christus einzuleiten. Die Templer brachten landwirtschaftliche Innovation und moderne Infrastruktur ins Land. In den deutschen Kolonialdiskursen würdigte man ihre Bestrebungen als Ausdruck höchsten deutschen Patriotismus. Die zionistische Kolonisation profitierte von den praktischen Erfahrungen der Templer, wenngleich sich unter letzteren doch mehr ein Gefühlder Konkurrenz und Abneigung festigte. Eine Darstellung von Fritz Lorch, einem Autor, der dem Templer-Kontext Palästinas entstammte, bezeugt diese Haltung, nach der die zionistische Kolonisation als konkurrierende Bestrebung wahrgenommen wurde. Das Deutschtum in Palästina solle sich, so Lorch, allein durch die Templer, nicht die Juden, ausbreiten. Lorch streute Gerüchte über den Zionismus als praktischen Bundesgenossen Englands. vgl. Fritz Lorch, England und der Zionismus in Palästina, Berlin 1913. Otto Eberhard äußerte sich in einer Rezension kritisch über die Schlüsse, die Lorch über die angebliche politische Nähe des Zionismus zu England gezogen hatte. vgl. Otto Eberhard, [Rezension] Fritz Lorch, England und der Zionismus in Palästina, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 37 (1914) 3, S. 292. Es mangelte im Übrigen nicht an antisemitischen Anfeindungen vonseiten der Templer.
Eberhard griff mit der Betonung einer „Interessengemeinschaft“ einen wichtigen Topos des deutschen Orientdiskurses auf. Bereits vor der Jahrhundertwende versuchten Herzl und sein enger Mitarbeiter Max I. Bodenheimer mit dem Argument der Überschneidung von deutschen und jüdischen Interessen im Orient das Wohlwollen der deutschen Regierung zu gewinnen. Im Ersten Weltkrieg wurde sowohl in Regierungskreisen als auch einer kolonialpolitischen Öffentlichkeit diskutiert, ob sich der Zionismus, im Sinne einer Interessengemeinschaft, in die Ziele sowohl des Deutschen als auch des Osmanischen Reichs integrieren lasse.
Das zweite Ereignis, das in dem Rundschreiben angekündigt wird, scheint sich gleichfalls als Erfolg für die zionistische Ortsgruppe Hamburg-Altona erwiesen zu haben: am 26. Dezember 1908 fand ebenfalls in den Räumen des Logenheims ein Kostümball unter dem Motto „Volksfest in Palästina“ statt, der mehrere hundert Besucher anlockte. Das Ereignis stand allerdings nicht in Beziehung zu dem Vortrag „Volksleben in Palästina“, dessen Referent Eberhard immerhin wissenschaftliche Expertise vorzuweisen hatte. Das inszenierte „Volksfest in Palästina“ reproduzierte vielmehr Klischees des Orients, die kaum Bezug zum Alltag der jüdischen Kolonien aufwiesen. Dem Motto des Abends folgend führten 16 Frauen einen „orientalische[n] Schleiertanz“ vor, weiterhin wird von der Einrichtung eines „Harems“ und einer „wohlausgestatteten Orient-Bar“ sowie Verkaufsbuden und Tombolas, deren Hauptgewinne kostbare Bezalel-Teppiche waren, berichtet. Der Hamburger Oberkantor Josef Rosenblatt, der es später in Amerika als Jossele Rosenblatt zu Weltruhm bringen sollte, trug an dem Abend „Lieder in jüdischer Mundart“ vor. Der Künstler Hermann Struck hatte zu diesem Anlass eine Postkarte gezeichnet. Die Einnahmen des Abends gingen als Spende der Ortsgruppe an verschiedene Palästinainstitutionen. vgl. Jüdische Rundschau 2 (1909), 8.1.1909, S. 21.
Der Kostümball gewährt einen Einblick in die Tätigkeiten deutscher zionistischer Vereine zur Unterstützung des Palästinawerks. Der Vortrag mit Otto Eberhard zeigt darüber hinaus, dass die Auseinandersetzung zwischen zionistischen und nicht-zionistischen Juden im Deutschen Reich keine rein innerjüdisch ausgetragene Identitätsfrage darstellte, sondern unter Beteiligung der nichtjüdischen Umwelt stattfand.
Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.
Dr. des. Fabian Weber hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Dissertation zum Thema „Projektionen auf den Zionismus. Nichtjüdische Wahrnehmungen des Zionismus im Deutschen Reich, 1897–1933“ verfasst, die in Kürze im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erscheint. Derzeit ist Weber als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut studium plus an der Universität der Bundeswehr München tätig. Zu seinen Forschungsinteressen zählen neben der Geschichte des Zionismus und der deutsch-jüdischen Geschichte vor allem Antisemitismusforschung, Kolonial- und Orientdiskurse sowie religiöse Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Fabian Weber, „Volksleben in Palästina“. Otto Eberhard und christliche Freunde des Zionismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 24.02.2020. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-234.de.v1> [05.10.2024].