„Volksleben in Palästina“. Otto Eberhard und christliche Freunde des Zionismus

Fabian Weber

Quellenbeschreibung

Der Vorstand der zionistischen Ortsgruppe Hamburg-Altona hatte im November 1908 zu einem Vortrag eingeladen: Der Pastor Otto Eberhard, der als „einer der besten Kenner des modernen Kulturzustandes von Palästina“ vorgestellt wurde, sollte zum Neunten des Monats über das Thema „Volksleben in Palästina“ sprechen. Außerdem kündigte das Schreiben einen orientalischen Kostümball an, womit am 26. Dezember der Chanukka-Ausgang festlich begangen werden sollte. Über beide Ereignisse erschienen in der Jüdischen Rundschau Berichte in der Rubrik „Vereins-Rundschau“, an die die Schriftführer der jeweiligen zionistischen Ortsgruppen selbstverfasste Berichte über lokale Ereignisse einschicken konnten. Der Autor wurde, wie für die Rubrik üblich, nicht explizit genannt. Die Berichte wurden mit identischem Wortlaut auch in das zionistische Hauptorgan, Die Welt, mit aufgenommen. vgl. Jüdische Rundschau 48 (1908), 27.11.1908, S. 212; Die Welt 47 (1908), 27.11.1908, S. 16-17; Jüdische Rundschau 2 (1909), 8.1.1909, S. 21; Die Welt 2 (1909), 8.1.1909, S. 34.
  • Fabian Weber

Zionismus als „Fahnenflucht“


Aus den Be­rich­ten der zio­nis­ti­schen Pe­ri­odi­ka er­fah­ren wir mehr über den Ab­lauf der bei­den Er­eig­nis­se. Der gut­be­such­te Vor­trags­abend mit Otto Eber­hard fand im Lo­gen­heim der Henry-​Jones Loge Ham­burg statt. Der Me­di­zi­ner Dr. Ernst Kal­mus, Vor­sit­zen­der der zio­nis­ti­schen Orts­grup­pe Hamburg-​Altona und zudem eines der ers­ten ak­ti­ven Mit­glie­der der Zio­nis­ti­schen Ver­ei­ni­gung für Deutsch­land (ZVfD), er­öff­ne­te den Abend. Er wies auf die Mo­ti­va­ti­on zu der Ver­an­stal­tung hin: Die Zio­nis­ten pro­tes­tier­ten damit ex­pli­zit gegen den Ver­ein zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus. An­lass gaben In­ter­ven­tio­nen des Ab­wehr­ver­eins gegen Ju­den­feind­schaft, „wenn von uns als Preis dafür […] die As­si­mi­la­ti­on ge­for­dert wird.“ Jü­di­sche Rund­schau 48 (1908), 27.11.1908, S. 212.


Auf der Ge­ne­ral­ver­samm­lung des Ver­eins zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus hatte Sieg­mund Gün­ther (1848–1923), Na­tur­wis­sen­schaft­ler und His­to­ri­ker, Mit­glied der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und li­be­ra­ler Ab­ge­ord­ne­ter des Reichs­tags a. D., über die Ge­schich­te der Ju­den­ver­fol­gung vom Al­ter­tum über das Mit­tel­al­ter bis hin zur „neuen an­ti­se­mi­ti­schen Be­we­gung“ seit 1880 re­fe­riert. Sieg­mund Gün­ther, Va­ter­lands­lie­be und Bo­den­stän­dig­keit bei un­se­ren jü­di­schen Mit­bür­gern, in: Mitt­hei­lun­gen aus dem Ver­ein zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus 18 (1908) 43, S. 331–333. Gün­ther hatte vom Stand­punkt der Ju­den­eman­zi­pa­ti­on und der To­le­ranz die Un­sin­nig­keit an­ti­se­mi­ti­scher Ras­sen­theo­rien zu­rück­ge­wie­sen. En­er­gisch be­stritt er den ju­den­feind­li­chen Vor­wurf man­geln­der jü­di­scher „Va­ter­lands­lie­be“. Den Vor­wurf feh­len­der „Bo­den­stän­dig­keit“, also der Un­ter­re­prä­sen­tanz von Juden im Bau­ern­stand, führ­te Gün­ther auf his­to­ri­sche Grün­de zu­rück. Den Juden müsse „die Mög­lich­keit ge­ge­ben wer­den, genau unter den­sel­ben Be­din­gun­gen ihr Da­sein zu füh­ren, wie die An­ge­hö­ri­gen an­de­rer Kon­fes­sio­nen.“ Das Ziel des Kamp­fes gegen den An­ti­se­mi­tis­mus müsse daher lau­ten, „künst­li­che Un­ter­schied[e] zwi­schen Deut­schen und Juden“ zu über­win­den und „un­se­re jü­di­schen Mit­bür­ger uns voll­stän­dig zu as­si­mi­lie­ren.“ Den Zio­nis­mus be­zeich­ne­te er als „Fah­nen­flucht“, der die Iden­ti­fi­ka­ti­on der deut­schen Staats­bür­ger jü­di­scher Kon­fes­si­on mit ihrem Va­ter­lan­de ge­fähr­de. Gün­ther, Va­ter­lands­lie­be, S. 333.


Der Zio­nist Kal­mus stell­te zwar nicht den „aus edlen Mo­ti­ven ge­währ­ten Schutz“ des Ab­wehr­ver­eins in Ab­re­de, pro­tes­tier­te je­doch gegen die „un­ge­rech­ten An­grif­fe, die jetzt zum ers­ten Male von christ­li­cher Seite gegen den Zio­nis­mus aus miss­ver­ständ­li­cher Auf­fas­sung ge­rich­tet wer­den“. Tat­säch­lich hat­ten Nicht­ju­den, die für die Sache des Ab­wehr­ver­eins strit­ten, be­reits seit den 1890er-​Jahren nicht nur gegen den An­ti­se­mi­tis­mus, son­dern zu­gleich den Zio­nis­mus po­le­mi­siert. vgl. ex­em­pla­risch Vom Zio­nis­ten­kon­greß in Basel, in: Mitt­hei­lun­gen aus dem Ver­ein zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus 7 (1897) 37, S. 293; Gegen den Zio­nis­mus, in: Mitt­hei­lun­gen aus dem Ver­ein zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus 7 (1897) 48, S. 377–378; Ab­son­de­rung und Ab­sto­ßung, in: Mitt­hei­lun­gen aus dem Ver­ein zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus 13 (1903) 37, S. 289–292. Neu war hin­ge­gen die Stra­te­gie der Zio­nis­ten, die­ser Po­si­ti­on mit Eber­hard „das Ur­teil eines ob­jek­tiv den­ken­den christ­li­chen Man­nes“ – die Dar­stel­lung Eber­hards über das „Volks­le­ben in Pa­läs­ti­na“ – ge­gen­über­zu­stel­len, mit der die Po­si­ti­on der Zio­nis­ten, als „be­wuß­te Juden“, ge­stärkt wer­den soll­te. Jü­di­sche Rund­schau, 27.11.1908, S. 212. Der Be­richt Eber­hards soll­te un­ter­strei­chen, dass es ent­ge­gen Gün­thers Dar­stel­lung heute, in Pa­läs­ti­na, sehr wohl die Mög­lich­keit zu einer „bo­den­stän­di­gen“ jü­di­schen Exis­tenz gebe und damit eine Al­ter­na­ti­ve zur jü­di­schen „As­si­mi­la­ti­on“ be­stehe.

Otto Eberhard – ein „christlicher Zionsfreund“


Der ein­ge­la­de­ne Re­fe­rent, der Pas­tor und Päd­ago­ge Otto Eber­hard, hatte 1905 im Auf­trag des Deut­schen Evan­ge­li­schen In­sti­tuts für Al­ter­tums­wis­sen­schaft des Hei­li­gen Lan­des eine For­schungs­rei­se nach Pa­läs­ti­na un­ter­nom­men. Ganz im Geis­te der zeit­ge­nös­si­schen, christ­lich ge­präg­ten Pa­läs­ti­na­wis­sen­schaft soll­te die „Kennt­nis der Ei­gen­art des Lan­des der Bibel“ zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis der Hei­li­gen Schrift füh­ren, wie Eber­hard im Vor­wort sei­ner 1910 unter dem Titel „Pa­läs­ti­na. Er­leb­tes und Er­lern­tes im Hei­li­gen Land“ pu­bli­zier­ten Pa­läs­ti­na-​Erfahrungen selbst aus­führ­te. Neben Land und Land­schaft hat­ten be­son­ders die jü­di­schen Ko­lo­nien bei Eber­hard blei­ben­den Ein­druck hin­ter­las­sen. So­wohl im christ­li­chen als auch im zio­nis­ti­schen Kon­text trat Eber­hard in Folge sei­ner Pa­läs­ti­na­rei­se als „christ­li­cher Zi­ons­freund“ und „Phi­lo­zio­nist“ in Er­schei­nung So nann­te ihn die Jü­di­sche Rund­schau, vgl. Otto Eber­hard, Der Zio­nis­mus, in: Jü­di­sche Rund­schau Heft 3 (1907), 18.1.1907, S. 26–29, S. 26. und rühm­te die prak­ti­schen Er­run­gen­schaf­ten des Zio­nis­mus. Da Eber­hardPa­läs­ti­na und den Zio­nis­mus aus fach­män­ni­scher Er­fah­rung“ kann­te, wie Kal­mus be­ton­te, schien seine Ob­jek­ti­vi­tät er­wie­sen und seine Für­spra­che vor dem Ver­dacht ge­feit, allzu of­fen­sicht­li­che po­li­ti­sche Pro­pa­gan­da zu üben.

Die „Wiederherstellung“ der Juden - Der Zionismus als prophetische Bewegung


Eber­hard lei­te­te sei­nen Vor­trag mit der Fest­stel­lung ein, dass die bis­lang aus der Pa­läs­ti­na­sehn­sucht her­aus ent­stan­de­ne Rei­se­li­te­ra­tur über­wie­gend ober­fläch­lich ge­we­sen sei und erst all­mäh­lich ein wis­sen­schaft­li­ches Ge­prä­ge er­hal­te. Doch oh­ne­hin sei das „li­te­ra­ri­sche Wis­sen“ nur ein schwa­cher Er­satz für eine wirk­li­che Reise ins Hei­li­ge Land, die er jedem emp­fahl, der ein „Herz für Pa­läs­ti­na“ habe. Eber­hard ging es dabei kei­nes­wegs nur um die Be­rei­sung und Er­for­schung des Hei­li­gen Lan­des, son­dern um nichts we­ni­ger als den „Wie­der­auf­bau Zions“. Damit re­kur­rier­te er auf einen christ­li­chen Topos, der als „Res­to­ra­tio­nism“ vor allem in Krei­sen des eng­li­schen Pie­tis­mus und der Ju­den­mis­si­on Ver­brei­tung fand. Diese Idee ging davon aus, dass die „Samm­lung“ und Rück­kehr der Juden nach Pa­läs­ti­na be­vor­stün­de, womit gleich­wohl die Wie­der­kehr von Jesus Chris­tus er­war­tet wurde. Diese christ­li­che Strö­mung war für den Zio­nis­mus vor allem durch die Per­son Wil­liam Hech­ler be­deut­sam. Der eng­li­sche Re­ver­end wähn­te im Zio­nis­mus den Be­ginn einer pro­phe­ti­schen Be­we­gung und ver­mit­tel­te Theo­dor Herzl wich­ti­ge po­li­ti­sche Kon­tak­te bis hin zum deut­schen Kai­ser. Auch Eber­hard war sol­chen Ideen ge­gen­über auf­ge­schlos­sen, wie ein zehn Jahre spä­ter auf dem Jah­res­fest des Leip­zi­ger Ju­den­mis­si­ons­ver­eins ge­hal­te­ner Vor­trag zeigt, in dem er gleich­falls und wei­ter­hin en­thu­si­as­tisch über den Zio­nis­mus sprach. vgl. Otto Eber­hard, Zwan­zig Jahre Zio­nis­mus, in: Saat auf Hoff­nung. Zeit­schrift für die Mis­si­on der Kir­che an Is­ra­el 56 (1919), S. 12-34.


Auch wenn Eber­hard seine christ­li­che Er­war­tungs­hal­tung in sei­nem Ham­bur­ger Vor­trag nicht ver­tief­te, war sein Blick auf Zio­nis­mus und Ju­den­tum christ­lich ge­färbt. Eber­hard schil­der­te darin den Auf­schwung Pa­läs­ti­nas durch die fort­schrei­ten­de jüdisch-​zionistische Ko­lo­ni­sa­ti­on. Er be­schrieb diese als be­deu­ten­den Kul­tur­fak­tor, die in umso strah­len­de­rem Licht er­schien, als der Re­fe­rent die Le­bens­wei­se der Cha­lu­kah-​Juden Je­ru­sa­lems zum Ver­gleich mit den Zio­nis­ten her­an­zog: „Die ver­derb­li­che In­sti­tu­ti­on der Cha­lu­kah hat ein er­bärm­li­ches Ge­schlecht gross ge­zo­gen: sys­te­ma­tisch der Ar­beits­scheu und Träg­heit in die Arme ge­trie­ben, bleibt es im gröss­ten so­zia­len und geis­ti­gen Elend ste­cken.“ Jü­di­sche Rund­schau, 27.11.1908, S. 212. Der Zio­nis­mus indes re­vo­lu­tio­nier­te in den Augen Eber­hards all das, woran das Ju­den­tum an­sons­ten krank­te: land­wirt­schaft­li­che Be­stre­bun­gen form­ten den Wil­len zu ehr­li­cher Ar­beit und ver­dräng­ten den Hang zu Al­mo­sen; mo­der­ne Bildungs-​ und Wohl­fahrts­ein­rich­tun­gen über­wan­den die durch ver­krus­te­te Re­li­gio­si­tät ge­kenn­zeich­ne­te Un­bil­dung und geis­ti­ge Sta­gna­ti­on. Eber­hard schil­der­te das Sied­lungs­werk in Pa­läs­ti­na als Vor­bo­ten einer neuen Zeit, eines neuen Ju­den­tums. An diese Aus­füh­run­gen schloss sich „[s]tür­mi­scher, nicht en­den­wol­len­der Bei­fall“ des Pu­bli­kums, das den gro­ßen Saal des Lo­gen­heims bis auf den letz­ten Platz aus­füll­te. Der Ver­fas­ser mach­te keine An­ga­be dar­über, ob es sich dabei um ein über­wie­gend jü­di­sches oder ge­misch­tes Pu­bli­kum han­del­te.

Zionismus als Erneuerungsprozess des Judentums


Eber­hard ver­fass­te meh­re­re grö­ße­re Schrif­ten zu der The­ma­tik, die sich eben­falls auf seine Pa­läs­ti­na­rei­se stütz­ten: Pa­läs­ti­na. Er­leb­tes und Er­lern­tes im Hei­li­gen Land (1910), Pa­läs­ti­na. Er­leb­tes und Er­lausch­tes vom hei­li­gen Lande (1913) sowie die für das Pro Pa­läs­ti­na Ko­mi­tee ver­fass­te Bro­schü­re Der Zi­ons­ge­dan­ke als Welt­idee und als prak­ti­sche Ge­gen­warts­fra­ge (1918); in die­sem Ko­mi­tee ver­sam­mel­ten sich nicht­jü­di­sche Po­li­ti­ker, Pu­bli­zis­ten und Wirt­schafts­ex­per­ten, um eine Un­ter­stüt­zung der zio­nis­ti­schen Be­we­gung von­sei­ten der deut­schen Re­gie­rung zu er­wir­ken. Eber­hards Pu­bli­ka­tio­nen ver­an­schau­lich­ten ein­ge­hen­der den Wan­del, der sich sei­ner An­sicht nach durch den Zio­nis­mus in­ner­halb des Ju­den­tums voll­zie­he. Hei­mat­lo­sig­keit wand­le sich zu Sess­haf­tig­keit, aus Händler-​ und Tröd­ler­tum er­wach­se der jü­di­sche Bauer, Mam­mo­nis­mus wei­che Ge­mein­schafts­sinn, aus Zer­streu­ung und In­ter­na­tio­na­lis­mus werde Ein­heit und Volk. Eber­hard be­schrieb den Zio­nis­mus als heil­sa­men Er­neue­rungs­pro­zess des Ju­den­tums durch die Rück­kehr zum Boden, zum or­ga­nisch Volk­haf­ten und land­wirt­schaft­lich Pro­duk­ti­ven. Die­ser Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess des Ju­den­tums habe zu einem enor­men wirt­schaft­li­chen Auf­schwung der Re­gi­on Pa­läs­ti­na ge­führt und werde eine wich­ti­ge Rolle für die Zu­kunft des Lan­des spie­len. Den eu­pho­ri­schen Be­schrei­bun­gen der zio­nis­ti­schen Re­nais­sance war dabei die ab­leh­nen­de und ste­reo­ty­pi­sier­te Be­ur­tei­lung des nicht-​zionistischen Ju­den­tums in­hä­rent. Eber­hard re­pro­du­zier­te gän­gi­ge Bil­der des Jü­di­schen, die der christ­li­chen Tra­di­ti­on ent­spran­gen. Auch wenn er allzu di­rek­te theo­lo­gi­sche Ver­ur­tei­lun­gen aus­spar­te, er­schien das nicht-​zionistische Ju­den­tum als ein über­hol­tes mor­sches Ge­bil­de, un­tä­tig und un­pro­duk­tiv, geis­tig starr und ohne in­ne­re Ent­wick­lung. Pro­duk­ti­vi­tät und geis­ti­ges Ni­veau setz­te Eber­hard in eins.

Templer und Zionisten – eine Interessengemeinschaft?


Neben der Ver­bes­se­rung der Lage für die Juden selbst habe der Zio­nis­mus auch wirt­schaft­li­che Be­deu­tung für die Nicht­ju­den. Im Vor­trag wie auch sei­nen Pu­bli­ka­tio­nen be­zeich­ne­te Eber­hard das Ver­hält­nis von christ­li­chen und zio­nis­ti­schen Ko­lo­nis­ten in Pa­läs­ti­na als „In­ter­es­sen­ge­mein­schaft“. Die deut­schen Temp­ler, würt­tem­ber­gi­sche Pie­tis­ten der so­ge­nann­ten Tem­pel­ge­sell­schaft, waren zur Mitte des 19. Jahr­hun­derts nach Pa­läs­ti­na auf­ge­bro­chen, um durch die land­wirt­schaft­li­che Pro­duk­ti­vie­rung des Bo­dens im Hei­li­gen Land einen sym­bo­li­schen Tem­pel zu er­rich­ten und damit die Wie­der­kehr von Jesus Chris­tus ein­zu­lei­ten. Die Temp­ler brach­ten land­wirt­schaft­li­che In­no­va­ti­on und mo­der­ne In­fra­struk­tur ins Land. In den deut­schen Ko­lo­ni­al­dis­kur­sen wür­dig­te man ihre Be­stre­bun­gen als Aus­druck höchs­ten deut­schen Pa­trio­tis­mus. Die zio­nis­ti­sche Ko­lo­ni­sa­ti­on pro­fi­tier­te von den prak­ti­schen Er­fah­run­gen der Temp­ler, wenn­gleich sich unter letz­te­ren doch mehr ein Ge­fühl­der Kon­kur­renz und Ab­nei­gung fes­tig­te. Eine Dar­stel­lung von Fritz Lorch, einem Autor, der dem Templer-​Kontext Pa­läs­ti­nas ent­stamm­te, be­zeugt diese Hal­tung, nach der die zio­nis­ti­sche Ko­lo­ni­sa­ti­on als kon­kur­rie­ren­de Be­stre­bung wahr­ge­nom­men wurde. Das Deutsch­tum in Pa­läs­ti­na solle sich, so Lorch, al­lein durch die Temp­ler, nicht die Juden, aus­brei­ten. Lorch streu­te Ge­rüch­te über den Zio­nis­mus als prak­ti­schen Bun­des­ge­nos­sen Eng­lands. vgl. Fritz Lorch, Eng­land und der Zio­nis­mus in Pa­läs­ti­na, Ber­lin 1913. Otto Eber­hard äu­ßer­te sich in einer Re­zen­si­on kri­tisch über die Schlüs­se, die Lorch über die an­geb­li­che po­li­ti­sche Nähe des Zio­nis­mus zu Eng­land ge­zo­gen hatte. vgl. Otto Eber­hard, [Re­zen­si­on] Fritz Lorch, Eng­land und der Zio­nis­mus in Pa­läs­ti­na, in: Zeit­schrift des Deut­schen Palästina-​Vereins 37 (1914) 3, S. 292. Es man­gel­te im Üb­ri­gen nicht an an­ti­se­mi­ti­schen An­fein­dun­gen von­sei­ten der Temp­ler.


Eber­hard griff mit der Be­to­nung einer „In­ter­es­sen­ge­mein­schaft“ einen wich­ti­gen Topos des deut­schen Ori­ent­dis­kur­ses auf. Be­reits vor der Jahr­hun­dert­wen­de ver­such­ten Herzl und sein enger Mit­ar­bei­ter Max I. Bo­den­hei­mer mit dem Ar­gu­ment der Über­schnei­dung von deut­schen und jü­di­schen In­ter­es­sen im Ori­ent das Wohl­wol­len der deut­schen Re­gie­rung zu ge­win­nen. Im Ers­ten Welt­krieg wurde so­wohl in Re­gie­rungs­krei­sen als auch einer ko­lo­ni­al­po­li­ti­schen Öf­fent­lich­keit dis­ku­tiert, ob sich der Zio­nis­mus, im Sinne einer In­ter­es­sen­ge­mein­schaft, in die Ziele so­wohl des Deut­schen als auch des Os­ma­ni­schen Reichs in­te­grie­ren lasse.


Das zwei­te Er­eig­nis, das in dem Rund­schrei­ben an­ge­kün­digt wird, scheint sich gleich­falls als Er­folg für die zio­nis­ti­sche Orts­grup­pe Hamburg-​Altona er­wie­sen zu haben: am 26. De­zem­ber 1908 fand eben­falls in den Räu­men des Lo­gen­heims ein Kos­tüm­ball unter dem Motto „Volks­fest in Pa­läs­ti­na“ statt, der meh­re­re hun­dert Be­su­cher an­lock­te. Das Er­eig­nis stand al­ler­dings nicht in Be­zie­hung zu dem Vor­trag „Volks­le­ben in Pa­läs­ti­na“, des­sen Re­fe­rent Eber­hard im­mer­hin wis­sen­schaft­li­che Ex­per­ti­se vor­zu­wei­sen hatte. Das in­sze­nier­te „Volks­fest in Pa­läs­ti­na“ re­pro­du­zier­te viel­mehr Kli­schees des Ori­ents, die kaum Bezug zum All­tag der jü­di­schen Ko­lo­nien auf­wie­sen. Dem Motto des Abends fol­gend führ­ten 16 Frau­en einen „ori­en­ta­li­sche[n] Schlei­er­tanz“ vor, wei­ter­hin wird von der Ein­rich­tung eines „Ha­rems“ und einer „wohl­aus­ge­stat­te­ten Orient-​Bar“ sowie Ver­kaufs­bu­den und Tom­bo­las, deren Haupt­ge­win­ne kost­ba­re Bezalel-​Teppiche waren, be­rich­tet. Der Ham­bur­ger Ober­kan­tor Josef Ro­sen­blatt, der es spä­ter in Ame­ri­ka als Josse­le Ro­sen­blatt zu Welt­ruhm brin­gen soll­te, trug an dem Abend „Lie­der in jü­di­scher Mund­art“ vor. Der Künst­ler Her­mann Struck hatte zu die­sem An­lass eine Post­kar­te ge­zeich­net. Die Ein­nah­men des Abends gin­gen als Spen­de der Orts­grup­pe an ver­schie­de­ne Pa­läs­ti­na­in­sti­tu­tio­nen. vgl. Jü­di­sche Rund­schau 2 (1909), 8.1.1909, S. 21.


Der Kos­tüm­ball ge­währt einen Ein­blick in die Tä­tig­kei­ten deut­scher zio­nis­ti­scher Ver­ei­ne zur Un­ter­stüt­zung des Pa­läs­ti­na­werks. Der Vor­trag mit Otto Eber­hard zeigt dar­über hin­aus, dass die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen zio­nis­ti­schen und nicht-​zionistischen Juden im Deut­schen Reich keine rein in­ner­jü­disch aus­ge­tra­ge­ne Iden­ti­täts­fra­ge dar­stell­te, son­dern unter Be­tei­li­gung der nicht­jü­di­schen Um­welt statt­fand.

Auswahlbibliografie


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Zum Autor

Dr. des. Fabian Weber hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Dissertation zum Thema „Projektionen auf den Zionismus. Nichtjüdische Wahrnehmungen des Zionismus im Deutschen Reich, 1897–1933“ verfasst, die in Kürze im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erscheint. Derzeit ist Weber als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut studium plus an der Universität der Bundeswehr München tätig. Zu seinen Forschungsinteressen zählen neben der Geschichte des Zionismus und der deutsch-jüdischen Geschichte vor allem Antisemitismusforschung, Kolonial- und Orientdiskurse sowie religiöse Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Fabian Weber, „Volksleben in Palästina“. Otto Eberhard und christliche Freunde des Zionismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 24.02.2020. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-234.de.v1> [12.06.2025].

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