Der Antisemitismus ist kein Phänomen, das zwangsläufig aus einem vermeintlich immerwährenden religiösen Antagonismus zwischen Christentum und Judentum hervorgehen musste. Um den Antisemitismus zu verstehen, ist es vielmehr notwendig, den Kontext seiner Entstehung und die konkreten Situationen seiner Akteure zu erkennen. Im 19. Jahrhundert führten die fundamentalen Umbrüche der Arbeitswelt, des sozialen Lebens und der gesellschaftlichen Ordnung dazu, dass die alte Lebenswelt zusammenbrach. Innerhalb von nur wenigen Generationen vollzog sich eine vollkommene Umwälzung des Alltagslebens. Nicht alle Zeitgenossen konnten sich auf die neue, an Konkurrenz und Wettbewerb, Geld und Profit orientierte Ordnung einstellen. In Momenten der Angst vor Abstieg, Armut und Verelendung, in Situationen wirtschaftlicher Notlagen, sozialer Konflikte und politischer Umwälzungen suchten die der alten Ordnung verhafteten Zeitgenossen nach Antworten und nach Verantwortlichen. Sie flüchteten sich in den scheinbaren Halt von Traditionen und Überlieferungen, klammerten sich an die alten sozialmoralischen Werte und die Normen der überlebten ausgezehrten Wirtschaft. Sie verteidigten die „moral economy“ der vorindustriellen Welt, derzufolge nicht für Profit und Gewinn, sondern auf der Grundlage von moralischen Werten für die Befriedigung der Bedürfnisse und die Erfüllung sozialer Pflichten gerarbeitet wurde. Mit Neid und Missgunst sahen sie auf den wirtschaftlichen Erfolg, den Teile der zuvor verachteten und erniedrigten jüdischen Bevölkerung in der kapitalistischen Marktordnung erlangten. Den Juden gaben sie daher die Schuld an der Zerstörung der alten patriarchalischen und als idyllisch verklärten Welt. Juden wurden so zu Sündenböcken für die Zumutungen und Anforderungen der Industriegesellschaft.
Zu denjenigen, deren Existenzgrundlage durch die Industrialisierung bedroht war und deren Mentalität dadurch erschüttert wurde, gehörten, wie die Quelle anschaulich zeigt, die Handwerker. Die industrielle Massenproduktion zerstörte die überkommene zünftische und patriarchalische Ordnung des alten Handwerks. Sie vernichtete die korporativen Einbindungen der Arbeit ebenso wie die Tradition der handwerklichen Ehre. Teile der Handwerkerschaft lösten sich in einem langen Lernprozess von den Vorstellungen der alten moralischen Ökonomie und entwickelten neue, der politischen Ökonomie, das heißt den Bedingungen der Industriegesellschaft adäquate Protestformen. Andere hingegen stemmten sich gegen die Anforderungen der kapitalistischen Marktordnung und verteidigten die überlieferte Wirtschaftsgesinnung der alten kulturell eingebetteten Subsistenzökonomie Produkte werden angebaut und Güter produziert, um den Eigenbedarf zu decken, aber nicht um sie zu exportieren..
Vor dem Hintergrund solcher Sorgen und Ängste unterhalten sich zwei Hamburger Handwerker in einer Gastwirtschaft in dem hafennahen Stadtteil Billwerder Ausschlag über den Suizid eines Schuhmachers. Ein Handwerker beschuldigt sogleich im ersten, von dem Polizeispitzel Erxleben notierten Satz die Juden, den Schuhmacher in den Tod getrieben zu haben. Im Verlauf des Gespräches steigert er sich dahin, dass die Juden das gesamte Schuhmachergewerbe zerstört hätten, und er erweitert diese Aussage – der Dynamik antisemitischer Agitation entsprechend – im folgenden Satz dahingehend, dass die Juden nicht nur das Schuhmachergewerbe, sondern das Ledergeschäft insgesamt in ihren Händen hätten. Neben diesem ersten Motiv, der angeblichen Zerstörung des Handwerks durch die Juden, greift er mit dem Zusatz „in der ganzen Welt“ ein zweites Motiv der Sprache des Antisemitismus auf, den angeblichen Drang der Juden nach Weltherrschaft. Ein Topos, der mit der realen Situation und den konkreten Erfahrungen in keinerlei Beziehungen mehr stand. Der Eigendynamik assoziativer Gespräche und der sich verschärfenden Radikalisierung beim Sprechen gemäß geht der Handwerker daraufhin auf die Landwirtschaft ein. In diesem Kontext greift er ein drittes Motiv des antisemitischen Vokabulars auf, den angeblichen Wucher der Juden. Die folgende Assoziationskette führt ihn wieder zum Handwerk zurück, wenn er behauptet, „der Jude“ sei in jedes Handwerk eingedrungen, „um es zu vernichten“. Hier bedient er sich eines rhetorischen Elementes der Sprache des Antisemitismus, dem Kollektivsingular „der Jude“, um die Juden als Gruppe zu diffamieren. Das vierte Motiv ist die antisemitischen Agitation gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, hier personifiziert in dem zehn Jahre zuvor verstorbenen einstigen Handwerker und sozialistischen Politiker Wilhelm Hasenclever. Hasenclever war Vorsitzender des von Lassalle mitinitiierten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und Mitbegründer der vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, in deren Parteivorstand er ebenfalls gewählt wurde.
Der Gesprächspartner des Handwerkers stimmt diesem zunächst zu und bringt seinerseits seine Abneigung gegen Juden zum Ausdruck, so dass hier en Detail das Wirken dessen beobachtet werden kann, was Shulamit Volkov als kulturellen Code bezeichnet hat. Um dazuzugehören, um Teil des gemeinsamen kulturellen Milieus zu sein und in ihm anerkannt zu werden, bekundet er ebenfalls seine Aversionen gegen Juden. Auch er bezeichnet Juden als schädlich und verweist auf ein weiteres Stereotyp, deren angeblichen Schachergeist Schacher: Gewinnsucht; abwertend: Handel, Erwerb.. Am Ende aber betont er, dass diese Beobachtungen kein Grund seien, Rassenhass gegen Juden zu schüren, da auch Juden „gute Menschen“ seien „wie wir“. Obgleich er sich damit von der rassistischen antisemitischen Agitation distanziert, spricht aus seiner Formulierung unterschwellig die antisemitische Entgegensetzung von Juden und Nicht-Juden, als er die Unterscheidung von Juden und „wir“ vollzieht, was diese aus der „Wir-Gemeinschaft“ ausschließt.
Der das Gespräch dominierende Handwerker versucht, seine Argumentation aufrechtzuerhalten, ohne dabei seinem Gegenüber zu widersprechen. Er verdreht den Gedanken seines Gesprächspartners über den Rassenhass in sein Gegenteil und beschuldigt die Juden, für die Entstehung desselben verantwortlich zu sein. Ein weiteres Merkmal der antisemitischen Agitation im 19. Jahrhundert war die Verknüpfung von Antisemitismus und Antisozialismus. Das zeigt sich auch an dem protokollierten Gespräch. So versucht der Handwerker, seine Position durch die Behauptung, dass die Juden gemeinsam mit den Roten den Rassenhass schüren würden, zu untermauern. Beide Handwerker bedienten sich somit in unterschiedlichem Maße der Sprache des Antisemitismus.
Das Gespräch der beiden Hamburger Handwerker auf dem Billwerder Ausschlag im Jahr 1898 gibt ein einprägsames Bild davon, wie Handwerker auf die sozialen Umbrüche und Konflikte, die mit der Durchsetzung der Industrialisierung und dem gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts einhergingen, reagierten. Die sozialen Zerrüttungen und moralischen Verwerfungen, die die neue Marktwirtschaft mit sich brachte, schrieben sie den Juden zu. Sie bürdeten ihnen, wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ formuliert haben, „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse“ der Fabrikanten auf.
Im Prozess der ökonomischen Umwälzungen prallten die sozialmoralischen Normen und mentalen Einstellungen der überlieferten Subsistenzwirtschaft Produkte werden angebaut und Güter produziert, um den Eigenbedarf zu decken, aber nicht um sie zu exportieren. mit der politischen Ökonomie und den Anforderungen der neuen kapitalistischen Marktwirtschaft zusammen. Die Entstehung des Antisemitismus ist so, wie es der Historiker David Peal in seiner Biographie über den hessischen Antisemiten Otto Böckel am Beispiel des Agrarantisemitismus formuliert hat, Folge eines „clash of economic mentalities“. Das Festhalten an den traditionellen Formen der moralischen Ökonomie, den Vorstellungen von gerechter Nahrung, handwerklicher Ehre und patriarchalischer Ordnung machte die Handwerker für die antisemitische Propaganda anfällig. Ihr sozialer Charakter war von autoritären Dispositionen geprägt, sie zeichneten sich nicht selten durch ihre Untertanenmentalität aus, politisch waren sie zumeist monarchisch-konservativ ausgerichtet. Diese Stimmungslage griffen antisemitische Agitatoren auf und versuchten die Handwerker in ihrem Sinne zu mobilisieren. Der durch seine Pamphlete über die Banken- und Börsenkrise von 1873 bekannt gewordene Otto Glagau zum Beispiel hatte 1879 die Schrift „Deutsches Handwerk und historisches Bürgerthum“ vorgelegt, in der er eindringlich darüber klagte, dass die Gewerbefreiheit dem Handwerk „jeden Boden ausgeschlagen“ habe. Glagau ereiferte sich darüber, dass mit dem Verfall des Zunftwesens auch „Handwerkstüchtigkeit, Pflichtgefühl und Standesehre geschwunden“ seien. „Die Gewerbefreiheit“, so Glagaus These, stehe im Dienste des Kapitals. „Auf den Gräbern der Handwerkszünfte erhebt sich die Großindustrie“. „Die freie Concurrenz“, so führt er fort, „ist der größte Schwindel des 19. Jahrhunderts“, die „manchesterlichen ‚Freiheiten‘“ kämen am Ende hauptsächlich, so Glagau, „den Juden zu gute“. Zu einem der zentralen Schlagworte der antisemitischen Propaganda wurde der von Glagau geprägte Satz: „Die sociale Frage ist wesentlich Judenfrage“. Die Juden wurden in der Agitation von Antisemiten wie Otto Glagau ebenso wie im Gespräch der Hamburger Handwerker in der Gastwirtschaft auf dem Billwerder Ausschlag „zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals“ Moishe Postone, Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur 36 (1982) 1, S. 22., so mächtig, dass sie die alte Welt des Handwerks zerstört und den Hamburger Handwerker in den Suizid getrieben hätten.
Und doch war die Hinwendung zum Antisemitismus keine zwangsläufige
Entwicklung, die die Handwerker aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsumstände
nehmen mussten. Im Kampf gegen die Not und das Elend, die die gesellschaftlichen
Umwälzungen hervorgebracht hatten, entwickelten andere Handwerker wie etwa der
in dem Gespräch genannte Hasenclever adäquate neue Protestformen. In diesem Sinne hat die
Sozialdemokratische
Partei auf ihrem Parteitag von 1893 eine
Resolution angenommen, in der es hieß: „Der Antisemitismus entspringt der Mißstimmung
gewisser bürgerlicher Schichten, die sich durch die kapitalistische Entwicklung
bedrückt fühlen […], aber in Verkennung der eigentlichen Ursache ihrer Lage den
Kampf nicht gegen das kapitalistische Wirthschaftssystem […] richten.“
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Ulrich Wyrwa, Prof. Dr. phil., geb. 1954, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und wissenschaftlicher Leiter des Forschungskollegs zur Geschichte des Antisemitismus in Europa (1879-1914/1914-1923) am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des Antisemitismus in Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Emanzipation der Juden und jüdische Geschichte in Deutschland und Italien sowie Geschichte der jüdischen Geschichtsschreibung in Europa.
Ulrich Wyrwa, Kneipengespräche. Zur antisemitischen Haltung Hamburger Handwerker um 1900, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 12.04.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-95.de.v1> [21.11.2024].