Mit der Wahl des Titels „Judenspiegel“ stellte sich Wilhelm Marr in die
Tradition polemischer antijüdischer Schriften, wie den „Judenspiegel“ von
Johannes
Pfefferkorn aus dem Jahre 1507
(„Reuchlin-Pfefferkorn Streit“) und Hartwig von Hundt-Radowskys
Hetzschrift „Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde aus alter und neuer
Zeit“ von 1819, in denen den Juden ein Spiegel
vorgehalten werden sollte.
Marr hatte in seinen
frühen Schriften eine radikale Kritik an den reaktionären deutschen Zuständen
geübt und war für die allgemeine gesellschaftliche Emanzipation eingetreten. Die Ursachen für
seine Wendung gegen das orthodoxe wie das sich akkulturierende Reformjudentum
liegen gerade in seinem Eintreten für eine radikale Demokratisierung und seiner
Religionskritik, die aus seiner Sicht auch zur völligen Auflösung religiöser
oder nationaler Minderheiten führen musste. In Hamburg, wo Marr dem
radikal-demokratischen Lager angehörte, waren Judenemanzipation und „Judenfrage“ nach 1848 Streitpunkte in der politischen Rivalität zwischen
„Liberalen“ und „Radikalen“, in die auch Gabriel Riesser, der
liberale Vorkämpfer der Judenemanzipation, und der „Radikale“ Marr involviert waren, wobei
letzterer die Ziele des Reformjudentums durchaus unterstützte. Der Streit
kulminierte in der Auseinandersetzung um die Einführung der Zivilehe, da
Riesser im Namen
der Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie des Minderheitenschutzes gegen die
verbindliche Festschreibung der Zivilehe protestierte – für Marr ein Beweis, dass auch
die liberalen Juden nur für das Wohl und die Exklusivität des Judentums
eintraten. In diesem Dissens über die Ziele und die Reichweite des Emanzipationsprozesses lag
der Kern des Konflikts, da für Marr, für den die Freiheit im Individuum beschlossen liegt und
der alle Gruppenloyalitäten entsprechend auflösen will, die Emanzipation der Juden
letztlich die „Selbstemancipation vom Judenthum“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel,
Hamburg 51862, S. 42. bedeutete.
Marr wirft
Riesser und den
Reformjuden deshalb „Abtrünnigkeit“ vor, da sie radikalen politischen Reformen
abgeschworen hätten und zu Reaktionären geworden seien. Seine Schrift sollte
dazu dienen, den Juden diesbezüglich einen „Spiegel“ vorzuhalten.
Anders als der spätere politische Antisemitismus fordert Marr keineswegs eine Rücknahme der Emanzipation, sie geht ihm im Gegenteil nicht weit genug. Er tritt für weitere Schritte hin zur totalen Assimilation der Juden ein, etwa durch Einführung der Zivilehe („fleischliche Assimilation“ durch „Mischehen“), Verstaatlichung der jüdischen Armenfürsorge, Reform des Erbschaftsrechts, Auflösung der jüdischen Gemeinden. Ein Vorbild dafür sieht Marr in den Vereinigten Staaten gegeben, wo die Juden ihre Eigentümlichkeiten verlören, da der Staat Juden als „Staatsbürger“, aber nicht als Juden anerkenne. Sein eigenes Programm sei deshalb „kurz und klar: Ein Volk ein Staat“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S.56. (im Original gesperrt, Späterer Zusatz, S. 56). Marr kritisiert die nach seinen Augen halbherzige Emanzipationspolitik der deutschen Staaten, die er eine „heuchlerische Lüge“ nennt, weil sie das „Judenthum ohne Reciprocität“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 36. anerkennt. Er hält es deshalb für einen Fehler, dass der Staat den Juden durch das allgemeine Wahlrecht den Zugang zum Staatsdienst ermöglicht habe, ohne „Garantien von den Juden zu verlangen“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 44., das heißt ohne wirkliche Emanzipation vom Judentum. Solange diese nicht vollzogen sei, kann nach Meinung Marrs das Judentum solche Garantien nicht geben, „weil es den jüdischen Staat höher stellt als jeden anderen“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 44.. Er knüpft hier an die verbreitete Auffassung an, dass es sich beim Judentum um eine Form der Theokratie handele, „in welcher das Bekenntniß identisch ist mit einer jüdischen Staatsverfassung und Polizeiordnung“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 49.. Die völlige Emanzipation der Juden setzte also deren Emanzipation vom Judentum voraus, was aus seiner Sicht nur durch Privatisierung der jüdischen Religion mittels der Auflösung der Gemeindeverbände zu erreichen sei. Marr sieht das Ziel der Judenemanzipation letztlich im „Ein- und Aufgehen der Juden in die Form und das Wesen der Majorität im Staate“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 49., der allerdings weltanschaulich neutral sein müsse. Mit der totalen Assimilation sollten also letztlich die Juden als „Juden“ zum Verschwinden gebracht werden.
In der „Einleitung“ zu den Auflagen 1-4 erklärt Marr, es sei „nichts weniger unsere Absicht, als Judenhaß zu predigen“, stattdessen wolle er helfen, „den Juden ihre volle menschliche Berechtigung“ zu erkämpfen, die aber nach seiner Auffassung auf „keinem anderen Wege geschehen kann als – es muß gesagt sein – durch den Sturz des Judenthums, als einer sich negierend jedem rein Menschlichen, Edlem gegenüber verhaltenden Erscheinung“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 5.. Im Unterschied zum Christentum, dem eine kulturhistorische Idee zugrunde liege, ist für ihn das Judentum nur eine „krankhafte Erscheinung ohne inneren Zusammenhang mit der Culturgeschichte der Menschheit“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 4.. In dieser Einleitung lobt er, dass es in Hamburg eine Anzahl ehrenwerter jüdischer Männer gebe, die der jüdischen Gemeinde die Konsequenzen der „richtig verstandenen Emanzipation“ vor Augen führten, indem „sie das formelle Selbstaufgeben der exceptionellen Stellung des Judenthums im Staate beantragten“. In seinen Augen hätten diese Männer damit aufgehört „Juden zu sein“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 3.. Dieser noch schwachen Initiative jüdischer Männer, die sich zudem über die Tragweite ihrer Forderungen noch nicht ganz im Klaren sei und gegen den „Judenspiegel“ deshalb möglicherweise protestieren würde, schreibt er eine „tiefsittliche Bedeutung“ zu Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 4., da sie einen historisch notwendigen Prozess beförderten, und er selbst befindet im Nachwort (Auflagen 1-4), dass sein Standpunkt ein „zu freier sei, als daß man uns des religiösen Hasses verdächtigen könnte“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 54..
Marrs Angriff im „Judenspiegel“ zielte also auf den „jüdischen Partikularismus“, das „böse Geschwür der Exklusivität“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 35., deren historische Berechtigung er bestritt, da die Juden, die er als ein „Mischlingsvolk“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 46. ansieht, weder jemals ein „reines unvermischtes Urvolk“ noch eine „consolidirte Nation“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 4. gewesen seien. Zur Begründung widmet er den größten Teil seiner Schrift Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 12-36. einem „kurzen geschichtlichen Umriss“, in dem er zumeist im Rückgriff auf das Alte Testament den politischen, nationalen, moralischen und religiösen Charakter des Judentums seit den Vorvätern in „grellen Farben“ beschreibt. Er unterstellt ihnen Landesverrat, Räuberei, Krieg und Gemetzel als eine ihrer Hauptbeschäftigungen sowie Arbeitsscheu und Geldgier. Es geht ihm dabei darum zu beweisen, dass die Juden von jeher ein umherirrendes, abtrünniges, räuberisches, unterjochtes Volk waren und als Nation niemals Frieden, Ruhe, Kultur und Zivilisation gekannt hätten. So hafteten ihnen bis heute unangenehme, fremdartige Eigentümlichkeiten an, auf die Marr die Abneigung gegenüber den Juden zurückführt Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 36f.. Nach diesem historischen Durchgang beantwortet er die selbstgestellte Frage, ob „die Juden in ihrer Totalität bereits einen Standpunkt erreicht haben, der sie der Emancipation reif macht, der sie namentlich zur politischen Gleichberechtigung befähigt“, mit einem klaren „Nein“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 36.. Er begründet dies damit, dass die Religion des Judentums zu spezifisch national-jüdisch angelegt sei und dass die Juden damit „ein fremdes Element im Staate“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 4. bildeten. Marr fordert deshalb nicht allein die Auflösung des Judentums als „religiös-kirchliche Sekte“, sondern auch das Judentum „als Race, als bürgerliches, sociales Judenthum verfällt der Kritik“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 4.. „Das Judenthum muß aufhören, wenn das Menschenthum anfangen soll“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 54.. Er richtet dieselbe Forderung allerdings auch an den christlichen Staat, der sich ebenfalls emanzipieren und zu einem weltanschaulich neutralen Staat werden müsse Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 55f.. Marr verweist deshalb in der Einleitung der ersten vier Auflagen auch darauf, dass man das Christentum bereits einer Kritik unterzogen habe, die man nun auch auf das Judentum anwenden müsse Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-4 1862, S. 5.. Dort erklärt er als „offen eingestandene Tendenz dieser Schrift“ den Kampf gegen das „religiöse, sociale und politische Judenthum“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 6., was für ihn aber nicht den Kampf gegen die Juden bedeutet, da für ihn „die Juden nur eine traurige, aber notwendige Consequenz“, ein Produkt des Judentums seien Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 5..
Am Schluss seiner Schrift gesteht Marr den Juden zwar alle bürgerlichen Rechte zu, will sie aber von allen Staatsämtern ausschließen. Um zu diesen zugelassen zu werden, fordert er von den Juden, wie von allen anderen Nationalitäten, „sich vollständig zu germanisieren“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 52.. Ein Jude, der dies rückhaltlos anstrebe, „ist unser Freund“. Wer als Jude dazu nicht bereit sei, sei „nicht fähig zu staatlicher Gleichberechtigung“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 51862, S. 58.. Seine Schrift schließt im „Nachwort“ der Auflagen 1-4 mit der Forderung: „Die Juden haben sich uns anzupassen, nicht wir uns den Juden“ Wilhelm Marr, Der Judenspiegel, Hamburg 1-41862, S. 54..
Sein kompromissloser Radikalismus, ein antijüdischer Artikel, den er zehn Tage vor der Publikation des „Judenspiegels“ im „Courier an der Weser“ am 13.6.1862 veröffentlicht hatte, und der ihm harsche Kritik eingetragen hatte, und schließlich die Publikation des „Judenspiegels“ mit seinen vielen abwertenden und gehässigen Bemerkungen über das Judentum hatten für Marr drastische Konsequenzen: er wurde öffentlich in einer Karikatur und einem Spottgedicht von Julius Stettenheim als „Judenfresser“ angegriffen, seine demokratischen Parteigenossen gingen auf Distanz und er verlor bei der Neuwahl zur Bürgerschaft sein Mandat, so dass er aus der Politik ausscheiden musste und nur noch als politischer Publizist und Journalist tätig war. „Der Judenspiegel“ fand nach seinem Erscheinen allerdings keine große Resonanz und wurde nicht allzu ernst genommen, sondern eher als „Posse“ abgetan. Er war trotz seiner judenfeindlichen Anwürfe letztlich noch ein Ausläufer der demokratischen, die Judenemanzipation mit radikalen Assimilationsforderungen weitertreibenden junghegelianischen Position. 17 Jahre später hat Marr in seiner, den modernen Antisemitismus mitbegründenden Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ die negativen Beschreibungen der Juden des „Judenspiegels“ wiederholt, nun aber die Zielvorstellung einer möglichen Emanzipation der Juden aufgegeben. Für ihn und die Antisemiten hatte die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden inzwischen eine Judenherrschaft über die Deutschen begründet, die Marr 1879 bereits als nicht mehr zu ändernde Tatsache darstellte.
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Werner Bergmann (Thema: Judenfeinschaft und Verfolgung), Prof. Dr., ist Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie und Geschichte des Antisemitismus und angrenzende Gebiete wie Rassismus und Rechtsextremismus.
Werner Bergmann, Wilhelm Marrs Judenspiegel, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-107.de.v1> [21.11.2024].