Julius Stettenheim, Der Judenfresser. Ein „Wohl bekomm’s“, Hamburg 1862
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Transkription
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Toller Spuk im Sommernachtstraum.
[Beginn Spaltensatz]
Ich lag und schlief. Es war nicht ganz, nicht halb Die Nacht verscheucht, der Tag hereingebrochen … Da kam des Traumgotts rüder Sohn, der Alp, Mir centnerschwer auf meine Brust gekrochen. Ich sah die Welt in seltsamer Gestalt, Wie sie allein der Zufall konnt’ verändern: Der Jude führte eisern die Gewalt, Es war der Christ gedrückt in allen Ländern.
Zum Schimpfwort war der Name Christ gemacht, Des Christen Nase zupfte jeder Pracher, Und was und wie er sprach, es ward verlacht, Vom Staatsdienst stieß man ihn zurück zum SchacherGewinnsucht; abwertend: Handel,
Erwerb
. Die Kön’ge hießen Cohn, Minister Bär, Ein KlausrabinerKlaus: jüdisches Lehrhaus, Schule
war schon etwas Großes, Am Schabbes war PräturAmt
und Rathhaus leer, Und alle Leipz’ger riefen: Ei Herr Moses!
Da fiel mir ein, mir, der als Democrat
Im jüd’schen Parlamente mußte gelten, Auf diesen kleinen Christenstaat im Staat Mit Wort und Schrift recht derbe los zu schelten. Da rief ich, wir sind groß und Ihr seid klein, Wir sind die wahren Menschen, Ihr seid Heiden, Und wollt mit uns Ihr gleichberechtigt sein, So laßt Euch ohne Widerstand beschneiden.
[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz]
Weshalb? Warum? Sah nicht Amerika Euch Schwarze rauben, um sie zu verkaufen? Habt Ihr nicht zu des Gottes GloriaLob, Ehrerbietung Entzündet in Madrid die Scheiterhaufen? Vergeßt Ihr die Bartholomäusnacht? Wer schürte denn des heil’gen Tempels Gluthen? Wer hat die in
Damascus
umgebracht? Wer ließ uns herzlos auf der Folter bluten?
Wer schoß auf Blum
? Wer
schwur auf Leipzig’s Feld
Die heil’gen Eide? Wer hat sie gebrochen? Spracht Ihr in Holstein nicht vom Judas-Geld? Für was denn bleichen in der Krim die Knochen? Und weil das Alles weiß und kennt die Welt, Muß eine Schranke uns von Euch auch scheiden, Und nimmer könnt ihr sein uns gleichgestellt – Lös’t Euren Staat auf, kommt, laßt Euch beschneiden!
Ich Dummkopf! O, ich Esel, Ich vergaß,
Daß wir ja auch in Sünden uns verstrickten, Daß ich mich gegen Unschuld’ge vermaß, Die traurig auf vergang’ne Zeiten blickten; Ich Esel, der verschwieg, was allbekannt, Daß ich die Enkel für die Väter quälte, Und daß ein jedes Volk, das je entstand, Nach Blut und Unrecht seine Tage zählte.
[Ende Spaltensatz]
Allein ich sprach’s, es war nun mal heraus, Ich sprach’s, ich schrieb’s und ließ es frecher
drucken, Und was geschah? … Man lachte laut mich aus, Und Andre schrien: De Kerl is rein meschuggenverrückt
! Da … wacht’ ich auf ... Vom Kissen, schweißgenetzt, Warf ich auf den die beißenden Geschosse, Der, hat er sie auch umgekehrt besetzt, Uns aufgespielt die lächerliche
Posse!
Der Satiriker
Julius Stettenheim
veröffentlichte im Juni 1862 in Hamburg eine
vierseitige satirische Flugschrift mit dem Titel „Der Judenfresser. Ein ‚Wohl bekomm’s“,
die eine Karikatur und ein siebenstrophiges Gedicht mit dem Titel „Toller Spuk
im Sommernachtstraum“ enthält. Die Schrift wurde auf Stangen durch die Stadt
getragen und von deren Trägern ausgerufen und für einen Schilling verkauft. Die
Schrift war eine satirische Antwort auf die Publikation eines Briefes von
Wilhelm Marr, der
im „Courier an der Weser“ Nr. 161 am 13.6.1862
veröffentlicht worden war. Ein Bremer Freund hatte Marr gebeten, ihn in der
Sache der Judenemanzipation zu unterstützen. Marr lehnte ab und
publizierte am 22.6.1862 stattdessen die Schrift
„Der Judenspiegel“. Diese Publikationen
lösten im politischen Leben Hamburgs einen Sturm der Entrüstung aus. Marr musste sich vor dem
„Demokratischen
Verein“ und dem „Gesellschaft zur Förderung
der Gewissensfreiheit“, zu deren Mitgliedern er zählte,
verantworten und willigte schließlich ein, seinen Sitz im
Vorstand aufzugeben. Julius Stettenheim, der nach
seinem Studium an der Berliner
Universität in seinen Geburtsort Hamburg zurückgekehrt
war, gab dort ab 1862 das humoristisch-satirische Blatt
„Hamburger Wespen“ heraus. Er war später in Berlin
Mitarbeiter am „Kladderadatsch“ und
Redakteur des „Wippchen“, einer Beilage zum „Kleinen
Journal“, die ihn berühmt machen sollte. Seine Lehrjahre hatte er in der von
Wilhelm Marr von
1847 bis 1852 edierten
satirischen Zeitschrift „Mephistopheles“ absolviert und war Marr deshalb in Dankbarkeit
verbunden. Beide pflegten auch nach dem Streit von 1862
ihre freundschaftliche Beziehung weiter.
Julius Stettenheim, Der Judenfresser. Ein „Wohl bekomm’s“, Hamburg 1862, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte,
<https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-120.de.v1> [15.07.2025].