Johann Jacob Schudt diente Johann Balthasar Schupps kleine Geschichte dazu, die Spezifika der Lebensverhältnisse der Hamburger Sefarden und seine kritische Sicht darauf in für zeitgenössische Leser anschaulicher Weise zu illustrieren. Dafür bot sich das von Schupp hinterlassene literarische Werk in besonderer Weise an. Denn dieser seinerzeit beliebte Seelsorger betätigte sich auch als Schriftsteller, der in Wort und Schrift einen volkstümlichen, mit Satiren und Anekdoten gewürzten Stil bevorzugte. Ob die Anekdote auf einer wahren Begebenheit beruht, mag dahingestellt bleiben. Von Bedeutung ist vielmehr, was Schupp seinen Lesern mit der Schilderung vermitteln wollte, unter welchen Umständen er als lutherischer Pastor vor einem Juden seinen Hut „so tieff“ abzog, als ob er den „Churfürst[en] von Sachsen“ vor sich habe. Dieser Vorfall vermittelte Schupps christlichen Zeitgenossen die klare Botschaft, dass in Hamburg damals die religiös-soziale Ordnung auf den Kopf gestellt war. Denn für die als ungläubige Gotteslästerer geltenden Juden sah die lutherisch-orthodoxe Theologie ein den Christen untergeordnetes Dasein als Knechte vor. Dazu stand das Auftreten des jüdischen Protagonisten in Schupps Geschichte in diametralem Gegensatz: In einer „schönen mit Sammet gefütterten Kutsche [...]“, bekleidet mit einem „seidenen Talar“ und in Begleitung eines Dieners in Livree, der den Passagier am Ziel sogar aus der Kutsche hob. Für Menschen des 17. Jahrhunderts war das ein charakteristisches Erscheinungsbild für Personen von hohem Rang, etwa für einen „Bischoff“ oder einen „abgelebte[n] Fürst[en] oder Graf[en]“.
Erst eine einheimische Passantin, so schilderte es Schupp, deckte den Irrtum auf. Diese „fromme ehrliche Frau“, wie der Autor sie beschrieb, belehrte ihn „mit lachendem Munde“ darüber, dass es sich bei dem fraglichen „Herrn“ um einen Juden handele, der in Hamburg als „der reiche Jude“ bekannt sei. Beschrieben wird die Informantin als eine Frau, die sowohl Sinn für die Komik von Schupps Verbeugung vor dem vermeintlichen „Herrn“ als auch Gelassenheit gegenüber der für sie alltäglichen theologischen Regelwidrigkeit eines im Luxus lebenden Juden zeigt. Dieses Verhalten der einheimischen Christin bildet einen Kontrast zu Schupps Kritik und Verwunderung.
Dass Schupp seine Leser nicht nur unterhalten, sondern belehren wollte, zeigen die Schlusssätze seiner Anekdote deutlich. Gestaltet als einen an den „reichen Juden“ gerichteten inneren Monolog, mahnt der Autor den Leser, der Feindschaft zu gedenken, die Juden nach damaliger christlicher Überzeugung gegenüber Christen hegten. Dazu griff Schupp auf das seit dem Mittelalter weit verbreitete judenfeindliche Vorurteil vom jüdischen Betrug zurück. Konkret richtete er den Vorwurf an den „reichen Juden“, das Geld, das ihm ermöglichte, ein besseres Leben zu führen, als es „mancher Reichs-Graf in Teutschland thun“ könne, durch Betrug an Christen „zusammen gescharret“ zu haben. Auch Schupps abschließender Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems (samt des Tempels), mit der die Niederlage der Juden gegen den römischen Kaiser Titus im Jahr 70 besiegelt wurde, hat einen belehrenden Charakter. Theologisch wurden diese historischen Ereignisse als göttliche Strafaktion gegen die Juden aufgrund ihrer Weigerung, sich zum Christentum zu bekennen, interpretiert. Mit diesem Fingerzeig auf die Geschichte rückte der Autor den Status der Unterlegenheit in den Fokus, der den Juden von christlicher Seite zugedacht war. Das war für frühneuzeitliche christliche Leser wohl ebenso klar wie der Umstand, dass die geschäftlichen Transaktionen in großem Stil, wie sie sefardische Juden zu Schupps Zeiten „per Wechsel auf Venedig / Amsterdam oder Hamburg“ tätigen konnten, dieser Vorstellung diametral entgegenstanden.
Da für die belehrende Botschaft der Anekdote ohne Belang, nennt nicht Schupp selbst, sondern Schudt den Namen des „reichen Juden“. Es handelte sich um Diogo (Diego?) Teixeira, Spross einer wohlhabenden neuchristlichen Familie jüdischen Ursprungs („Converso-Familie“) in Portugal, der sich nach seiner Flucht vor der Inquisition und Aufenthalten in Brasilien, Antwerpen und Köln 1646 in Hamburg niedergelassen hatte. Dort lebten seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts Portugiesen, die wie Teixeira Nachkommen vertriebener und teils zwangsgetaufter Juden von der Iberischen Halbinsel waren. Wie viele andere dieser Conversos, die in Hamburg zum Judentum zurückgekehrten, nahm auch Teixeira gemeinsam mit seiner Familie 1647 dort wieder den jüdischen Glauben (und den jüdischen Namen Abraham Senior) an, und zwar im Rahmen einer öffentlichen Feier. Diese Zurschaustellung des Bekenntnisses zum Judentum rief nicht nur heftige Proteste bei der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit in Hamburg hervor, sondern erregte auch jenseits der Stadtgrenzen große Aufmerksamkeit.
Teixeira, „der reiche Jude“ in Hamburg, war zu seiner Zeit der bekannteste Repräsentant einer Elite wohlhabender Großhändler und Unternehmer, die das Bild der sefardisch-jüdischen Gemeinde in Hamburg prägte. Der Handel mit Luxuswaren, Geld und Wechseln, den er in europäischem Maßstab auch mit königlichen Höfen betrieb, brachte ihm ein Vermögen ein, das als legendär galt. Wie auch andere sefardische Juden im Hamburg des 17. Jahrhunderts stand er in herrschaftlichen Diensten. Als Finanzverwalter der schwedischen Königin Christine galt er als eine Persönlichkeit von Rang. In seinem prachtvollen, von Zeitgenossen als „irdisches Paradies“ beschriebenen Wohnhaus am Jungfernstieg verkehrten nicht nur ranghohe Personen aus Hamburg, sondern auch Vertreter europäischer Fürsten- und Königshäuser.
Sefardische Großkaufleute wie Teixeira konnten in Hamburg deshalb ein für Juden damals in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht ungewöhnlich freies Leben führen, weil sie aufgrund ihrer bedeutsamen Rolle für die städtische Wirtschaft die Protektion des Hamburger Senats genossen. Allerdings blieb ihre Situation prekär, denn diese Verhältnisse stießen in der Stadt auch auf Ablehnung. Das deutet sich in Schupps einleitenden Sätzen zur Anekdote über seine Begegnung mit Teixeira an, die bei Schudt als Nachbemerkung (§ 10) erscheinen: Schupp konstatierte, dass er dem biblischen Vorbild von Josuas Umgang mit den feindlichen Gibeonitern folgend, den Juden niedrigste körperliche Arbeiten als „Holtzhäuer“ und „Wasserträger“ zuweisen würde, statt sie in einer mit Samt ausgeschlagenen Kutsche fahren zu lassen.
Die judenfeindliche Einstellung, die sich hier zeigt, teilte Schupp nicht nur mit der
gesamten lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit, sondern vor allem auch mit der
bürgerlichen Mittelschicht im damaligen Hamburg. Der Einfluss
dieser Schicht innerhalb der politisch zur Mitsprache berechtigten Bürgerschaft
nahm in der Stadt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erheblich zu. In der Folge
verschlechterten sich die Lebensbedingungen der sefardischen Juden zunehmend. Als diese
Negativentwicklung am Ende des 17.
Jahrhunderts in hohen Abgabenforderungen und einer
weiteren Beschneidung der für Juden ohnehin bescheidenen religiösen Rechte
kulminierte, kehrten die meisten Angehörigen der sefardisch-jüdischen Oberschicht Hamburg den Rücken.
Damit war die Blütezeit der sefardisch-jüdischen
Gemeinde in der Hansestadt
beendet.
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Jutta Braden, Dr. phil., ist Historikerin und Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zur Geschichte der Judenmission in Hamburg an der Universität Hamburg in Kooperation mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Judenpolitik und jüdisch-christliche Konversionen in Hamburg in der frühen Neuzeit.
Jutta Braden, „Der reiche Jude“. Eine judenfeindliche Anekdote zur religiös-sozialen Ordnung in Hamburg im 17. Jahrhundert, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-64.de.v1> [21.11.2024].