„Der reiche Jude“. Eine judenfeindliche Anekdote zur religiös-sozialen Ordnung in Hamburg im 17. Jahrhundert

Jutta Braden

Quellenbeschreibung

Der Textausschnitt ist dem Buch „Jüdische Merckwürdigkeiten“ entnommen, das Johann Jacob Schudt, Rektor am Gymnasium in Frankfurt am Main, zwischen 1714 und 1717 in vier Teilen veröffentlichte. Aus einer judenfeindlichen Perspektive, wie sie für einen frühneuzeitlichen Lutheraner typisch war, beschäftigt sich der Autor darin mit zeitgenössischen Juden in verschiedenen deutschen und europäischen Orten und Ländern. Schudts „Jüdische Merckwürdigkeiten“ steht beispielhaft für das seit dem 17. Jahrhundert wachsende akademische Interesse am religiös Andersartigen. Im ersten Band gibt Schudt einen Bericht über die Juden in Hamburg wieder, dem die hier behandelte Passage entstammt. Schudts Ausführungen lagen eigene Erlebnisse zugrunde, denn er hatte von 1684 bis 1689 bei dem Orientalisten Esdras Edzardi in Hamburg studiert. Die in der Textpassage wiedergegebene Anekdote stammt ursprünglich aus der Feder des Hamburger Pastors an der St. Jacobikirche Johann Balthasar Schupp(ius) und schildert dessen Begegnung mit einem sefardischen Juden um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Schudt selbst gibt an, dass die von ihm publizierte Anekdote dem Traktat „Der unterrichtete Student“ entstammt, der 1667 in einer posthum publizierten Ausgabe von Schupps Schriften veröffentlicht wurde.
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Johann Jacob Schudt diente Johann Balthasar Schupps kleine Geschichte dazu, die Spezifika der Lebensverhältnisse der Hamburger Sefarden und seine kritische Sicht darauf in für zeitgenössische Leser anschaulicher Weise zu illustrieren. Dafür bot sich das von Schupp hinterlassene literarische Werk in besonderer Weise an. Denn dieser seinerzeit beliebte Seelsorger betätigte sich auch als Schriftsteller, der in Wort und Schrift einen volkstümlichen, mit Satiren und Anekdoten gewürzten Stil bevorzugte. Ob die Anekdote auf einer wahren Begebenheit beruht, mag dahingestellt bleiben. Von Bedeutung ist vielmehr, was Schupp seinen Lesern mit der Schilderung vermitteln wollte, unter welchen Umständen er als lutherischer Pastor vor einem Juden seinen Hut „so tieff“ abzog, als ob er den „Churfürst[en] von Sachsen“ vor sich habe. Dieser Vorfall vermittelte Schupps christlichen Zeitgenossen die klare Botschaft, dass in Hamburg damals die religiös-soziale Ordnung auf den Kopf gestellt war. Denn für die als ungläubige Gotteslästerer geltenden Juden sah die lutherisch-orthodoxe Theologie ein den Christen untergeordnetes Dasein als Knechte vor. Dazu stand das Auftreten des jüdischen Protagonisten in Schupps Geschichte in diametralem Gegensatz: In einer „schönen mit Sammet gefütterten Kutsche [...]“, bekleidet mit einem „seidenen Talar“ und in Begleitung eines Dieners in Livree, der den Passagier am Ziel sogar aus der Kutsche hob. Für Menschen des 17. Jahrhunderts war das ein charakteristisches Erscheinungsbild für Personen von hohem Rang, etwa für einen „Bischoff“ oder einen „abgelebte[n] Fürst[en] oder Graf[en]“.

Erst eine einheimische Passantin, so schilderte es Schupp, deckte den Irrtum auf. Diese „fromme ehrliche Frau“, wie der Autor sie beschrieb, belehrte ihn „mit lachendem Munde“ darüber, dass es sich bei dem fraglichen „Herrn“ um einen Juden handele, der in Hamburg als „der reiche Jude“ bekannt sei. Beschrieben wird die Informantin als eine Frau, die sowohl Sinn für die Komik von Schupps Verbeugung vor dem vermeintlichen „Herrn“ als auch Gelassenheit gegenüber der für sie alltäglichen theologischen Regelwidrigkeit eines im Luxus lebenden Juden zeigt. Dieses Verhalten der einheimischen Christin bildet einen Kontrast zu Schupps Kritik und Verwunderung.

Schupps belehrende Botschaft


Dass Schupp seine Leser nicht nur unterhalten, sondern belehren wollte, zeigen die Schlusssätze seiner Anekdote deutlich. Gestaltet als einen an den „reichen Juden“ gerichteten inneren Monolog, mahnt der Autor den Leser, der Feindschaft zu gedenken, die Juden nach damaliger christlicher Überzeugung gegenüber Christen hegten. Dazu griff Schupp auf das seit dem Mittelalter weit verbreitete judenfeindliche Vorurteil vom jüdischen Betrug zurück. Konkret richtete er den Vorwurf an den „reichen Juden“, das Geld, das ihm ermöglichte, ein besseres Leben zu führen, als es „mancher Reichs-Graf in Teutschland thun“ könne, durch Betrug an Christen „zusammen gescharret“ zu haben. Auch Schupps abschließender Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems (samt des Tempels), mit der die Niederlage der Juden gegen den römischen Kaiser Titus im Jahr 70 besiegelt wurde, hat einen belehrenden Charakter. Theologisch wurden diese historischen Ereignisse als göttliche Strafaktion gegen die Juden aufgrund ihrer Weigerung, sich zum Christentum zu bekennen, interpretiert. Mit diesem Fingerzeig auf die Geschichte rückte der Autor den Status der Unterlegenheit in den Fokus, der den Juden von christlicher Seite zugedacht war. Das war für frühneuzeitliche christliche Leser wohl ebenso klar wie der Umstand, dass die geschäftlichen Transaktionen in großem Stil, wie sie sefardische Juden zu Schupps Zeiten „per Wechsel auf Venedig / Amsterdam oder Hamburg“ tätigen konnten, dieser Vorstellung diametral entgegenstanden.

Die Person hinter „dem reichen Juden“


Da für die belehrende Botschaft der Anekdote ohne Belang, nennt nicht Schupp selbst, sondern Schudt den Namen des „reichen Juden“. Es handelte sich um Diogo (Diego?) Teixeira, Spross einer wohlhabenden neuchristlichen Familie jüdischen Ursprungs („Converso-Familie“) in Portugal, der sich nach seiner Flucht vor der Inquisition und Aufenthalten in Brasilien, Antwerpen und Köln 1646 in Hamburg niedergelassen hatte. Dort lebten seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts Portugiesen, die wie Teixeira Nachkommen vertriebener und teils zwangsgetaufter Juden von der Iberischen Halbinsel waren. Wie viele andere dieser Conversos, die in Hamburg zum Judentum zurückgekehrten, nahm auch Teixeira gemeinsam mit seiner Familie 1647 dort wieder den jüdischen Glauben (und den jüdischen Namen Abraham Senior) an, und zwar im Rahmen einer öffentlichen Feier. Diese Zurschaustellung des Bekenntnisses zum Judentum rief nicht nur heftige Proteste bei der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit in Hamburg hervor, sondern erregte auch jenseits der Stadtgrenzen große Aufmerksamkeit.

Teixeira, „der reiche Jude“ in Hamburg, war zu seiner Zeit der bekannteste Repräsentant einer Elite wohlhabender Großhändler und Unternehmer, die das Bild der sefardisch-jüdischen Gemeinde in Hamburg prägte. Der Handel mit Luxuswaren, Geld und Wechseln, den er in europäischem Maßstab auch mit königlichen Höfen betrieb, brachte ihm ein Vermögen ein, das als legendär galt. Wie auch andere sefardische Juden im Hamburg des 17. Jahrhunderts stand er in herrschaftlichen Diensten. Als Finanzverwalter der schwedischen Königin Christine galt er als eine Persönlichkeit von Rang. In seinem prachtvollen, von Zeitgenossen als „irdisches Paradies“ beschriebenen Wohnhaus am Jungfernstieg verkehrten nicht nur ranghohe Personen aus Hamburg, sondern auch Vertreter europäischer Fürsten- und Königshäuser.

Die Situation für Juden in Hamburg im 17. Jahrhundert


Sefardische Großkaufleute wie Teixeira konnten in Hamburg deshalb ein für Juden damals in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht ungewöhnlich freies Leben führen, weil sie aufgrund ihrer bedeutsamen Rolle für die städtische Wirtschaft die Protektion des Hamburger Senats genossen. Allerdings blieb ihre Situation prekär, denn diese Verhältnisse stießen in der Stadt auch auf Ablehnung. Das deutet sich in Schupps einleitenden Sätzen zur Anekdote über seine Begegnung mit Teixeira an, die bei Schudt als Nachbemerkung (§ 10) erscheinen: Schupp konstatierte, dass er dem biblischen Vorbild von Josuas Umgang mit den feindlichen Gibeonitern folgend, den Juden niedrigste körperliche Arbeiten als „Holtzhäuer“ und „Wasserträger“ zuweisen würde, statt sie in einer mit Samt ausgeschlagenen Kutsche fahren zu lassen.

Die judenfeindliche Einstellung, die sich hier zeigt, teilte Schupp nicht nur mit der gesamten lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit, sondern vor allem auch mit der bürgerlichen Mittelschicht im damaligen Hamburg. Der Einfluss dieser Schicht innerhalb der politisch zur Mitsprache berechtigten Bürgerschaft nahm in der Stadt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erheblich zu. In der Folge verschlechterten sich die Lebensbedingungen der sefardischen Juden zunehmend. Als diese Negativentwicklung am Ende des 17. Jahrhunderts in hohen Abgabenforderungen und einer weiteren Beschneidung der für Juden ohnehin bescheidenen religiösen Rechte kulminierte, kehrten die meisten Angehörigen der sefardisch-jüdischen Oberschicht Hamburg den Rücken. Damit war die Blütezeit der sefardisch-jüdischen Gemeinde in der Hansestadt beendet.

Weitere Quellen


Jost Burckhard Schupp (Hrsg.), Doct: Ioh: Balth: Schuppii Schrifften. Anderer Theil: Zugab Doct: Ioh: Balth: Schuppii Schrifften, Hanau ca. 1667.  Im Campus-Katalog der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg versehen mit dem Hinweis: „S. 459 eine Erklärung von Seladon [d.i. Georg Greflinger], dass „Der unterrichtete Student, Oder: Ein Academischer Discours zwischen zweyen Freunden Seladon und Damon“ (S. 202–248) von ihm verfasst und hier ohne Wissen der Erben Schupps gedruckt sei.“
Jost Burkhard Schupp (Hrsg.), Johann Balthasar Schupp, Der unterrichtete Student, Oder: Ein Academischer Discours zwischen zweyen Freunden Seladon Hinter dem Pseudonym Seladon verbirgt sich der Schriftsteller und Jurist Johann Georg Greflinger (1600- um 1677), der die Autorenschaft für diesen Traktat für sich reklamiert. und Damon, in: Doct: Ioh: Balth: Schuppii Schrifften. Anderer Theil: Zugab Doct: Ioh: Balth: Schuppii Schrifften, Hanau ca. 1667, S. 202–248.

Auswahlbibliografie


Jutta Braden, Artikel „Schudt, Johann(es) Jacob(us)“, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 5, Göttingen 2010, S. 330–331.
Jutta Braden, Die Hamburger Judenpolitik und die lutherisch-orthodoxe Geistlichkeit im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 89 (2003), S. 1–39.
Tagungsbericht: Frankfurt’s „Jewish Notabilia “ („Jüdische Merckwürdigkeiten“): Ethnographic Views of Urban Jewry in Central Europe around 1700, Frankfurt 23.–25. Juni 2014, www.uni-frankfurt.de/52689988/Tagungsbericht_Schudt.pdf.
Maike Schauer, Johann Balthasar Schupp. Prediger in Hamburg 1649–1661. Eine volkskundliche Untersuchung, Hamburg 1973.
Michael Studemund-Halévy, Artikel „Senior Teixeira, Abraham (Diogo Teixeira de Sampayo)“, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 3, Göttingen 2006, S. 357–358.

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Zur Autorin

Jutta Braden, Dr. phil., ist Historikerin und Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt zur Geschichte der Judenmission in Hamburg an der Universität Hamburg in Kooperation mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Judenpolitik und jüdisch-christliche Konversionen in Hamburg in der frühen Neuzeit.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Jutta Braden, „Der reiche Jude“. Eine judenfeindliche Anekdote zur religiös-sozialen Ordnung in Hamburg im 17. Jahrhundert, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-64.de.v1> [21.11.2024].

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