Die Vertreibung der spanischen Juden von der Iberischen Halbinsel (1492), die Zwangstaufe der Juden in Portugal (1497), die Annexion Portugals durch Spanien (1580), die Einnahme Antwerpens durch Holland (1585) sowie die Eroberung Recifes durch Portugal (1654) führten zu einer der größten kurzfristigen Migrationsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Auch im streng lutherischen Hamburg ließen sich spanische und portugiesische Juden nieder. Sie wurden Teil der entstehenden modernen Handelsmetropole. Die ab 1621 einsetzende wirtschaftliche Schwäche Amsterdams führte zu einer weiteren Zuwanderung von iberischen Juden an die Elbe, wodurch Hamburg vom niederländisch-brasilianischen Kolonialhandel profitierte. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich Hamburg zur größten Stadt in Deutschland, in der mehr als drei Prozent der Stadtbevölkerung Juden waren, in der Mehrzahl iberische Juden (Sefarden), aber auch deutsche Juden (Aschkenasen). Bis ins 20. Jahrhundert blieb Hamburg gleichsam die portugiesischste Stadt in Deutschland.
Die sefardische Diaspora funktionierte wie ein network oder global village: Handel mit den englischen und holländischen Kolonien in der Karibik, eine an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Endogamie, hohe soziale Mobilität, eine konfliktreiche Rückkehr ins “bom judezmo” (gutes Judentum) und nicht zuletzt das Festhalten an der portugiesischen Sprache verstärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Portugiesen. Gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell kann man daher nicht von klar definierten regionalen sefardischen Kulturräumen sprechen, sondern eher von einer Länder und Kontinente umspannenden virtuellen Großgemeinde, der „natio lusitana“ („portugiesischen Nation“). Das sefardische „Zeitalter“ endete Ende des 17. Jahrhunderts, als die großen Hamburger Kaufmannsfamilien (Henriques, Teixeira, Curiel) sich in Amsterdam niederliessen. In den 1850er-Jahren kamen Sefarden aus Holland, Nordafrika und dem Osmanischen Reich nach Hamburg. Ihre Nachkommen wurden zusammen mit den ca. 100 in Hamburg verbliebenen Portugiesen Opfer der NS-Vernichtungspolitik.
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Michael Studemund-Halévy (Thema: Sefarden), docteur ès-lettres, Eduard Duckesz-Fellow am Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Forschungsgebiete: Western Sefardic Diaspora, hebräische Epigraphie und Ikonographie, jüdische Sprachen und Judenspanisch.
Michael Studemund-Halévy, Sefarden, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-228.de.v1> [21.11.2024].