Die Einführung jüdischer Familiennamen in Europa
Die Namensgesetzgebung in Hamburg
Die Rolle der jüdischen Gemeinde Altona
Das Namensgesetz unter französischer Herrschaft
Gescheitertes Namensgesetz 1814
Eine Zeit der jüdischen Reformbewegung
Der Nachname als bürgerliches Attribut
Bürgerliche Gleichstellung der Juden in Hamburg
Bis zum Zeitalter der beginnenden Emanzipation und Akkulturation unterschied sich das Namenssystem der Juden Mitteleuropas von dem der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Während sich in der christlichen Bevölkerung seit dem Mittelalter feste und erbliche Familiennamen entwickelt hatten und ihr Gebrauch im 18. Jahrhundert weitestgehend unhinterfragt war, hatte es solch eine Entwicklung bei der Mehrheit der aschkenasischen Juden nicht gegeben. Nach wie vor nutzten sie in erster Linie nur einen persönlichen Rufnamen, dem ein Patronym angehängt wurde, also der Vorname das Vaters (Samuel Moses bedeutet Samuel, Sohn des Moses; Sprinze Hirsch entspricht Sprinze, Tochter des Hirsch). Gelegentlich wurden auch bereits Beinamen getragen, die auf die Herkunft (Dessauer) oder den Beruf (Goldschmidt) verwiesen, meist aber nicht erblich waren. So geschah es oft, dass Juden im Alltag unter mehreren, verschiedenen Namen bekannt waren, was zu einiger Verwirrung führen konnte.
Einführend gehen Haarbleicher und May in ihrem Schreiben darauf ein, dass diese uneinheitliche Namensführung der Juden ein „arger Uebelstand“ (S. 1) sei, der in den meisten deutschen Staaten längst beseitigt worden sei. Explizit beziehen sie sich dabei auf ein Gesetz aus dem benachbarten napoleonischen Königreich Westphalen, aber auch auf Österreich und Polen. Die meisten Staaten Mittel- und Osteuropas hatten zwischen 1787 und 1814 Gesetze erlassen, die den Juden auferlegten, einen beständigen Vor- und Familiennamen anzunehmen, um genau diese „Unordnung“ (S. 1) zu beseitigen. Der Grund war die angestrebte verbesserte Regier- und Taxierbarkeit der jüdischen Bevölkerung. Der moderne Verwaltungsstaat bedurfte moderner Instrumente, um die Juden bestmöglich zu kontrollieren und zu besteuern. Spätere Gesetze waren in ihrem Kern eher von den Ideen der französischen Revolution inspiriert und verfolgten eine ideologische Agenda: Ganz im Geiste der Aufklärung und der modernen Bürgerrechte sollten diskriminierende Gesetze abgebaut und die Juden der christlichen Mehrheitsbevölkerung gleichgestellt werden. Die Anpassung der Namenssysteme wurde als integrale Voraussetzung für diesen Schritt gesehen. Nach Österreich (1787) und dem Großherzogtum Frankfurt (1807) war das Königreich Westphalen der erste deutsche Staat, der ein solches Gesetz erließ (31.3.1808); noch vor Frankreich (20.7.1808). Die meisten deutschen Staaten folgten diesem Beispiel und publizierten in den Folgejahren ähnliche Verordnungen (zum Beispiel Preußen 1812). Während die modernen Namensgesetze in den meisten Staaten Mitteleuropas dazu führten, dass erstmals tausende von Familiennamen für Juden kreiert wurden, stand Hamburg noch Jahrzehnte später ohne solch ein Gesetz „ziemlich vereinzelt“ (S. 1) da, wofür es viele Gründe gab.
Zum einen hatten sich feste und erbliche Familiennamen bei den Juden Hamburgs viel früher entwickelt als andernorts. Der Grund mag in der Größe der Gemeinde gelegen haben, die um 1800 mit über 6.300 Mitgliedern eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands war. Auch in anderen Großstädten trugen Juden früh Familiennamen (wie in Frankfurt am Main und Prag). Zudem tendierten besonders die jüdischen Eliten bereits vor der Emanzipationszeit dazu, sich in Gebräuchen und äußerlicher Erscheinung ihren christlichen Standesgenossen anzupassen, wobei Hamburg als internationales Handelszentrum die beste Umgebung für diesen Trend darstellte. Auch die aus Portugal und Spanien stammenden Juden (Sefarden) hatten bereits lange vor ihrer Ansiedlung in Hamburg im 17. Jahrhundert damit begonnen, erbliche Familiennamen zu tragen. Nach 1492/96 waren sie sofern sie auf der Iberischen Halbinsel blieben gezwungen, sich taufen zu lassen und sich in die katholische Gesellschaft zu integrieren, also auch Familiennamen anzunehmen. Nach ihrer Flucht und der öffentlichen Rückkehr zum Judentum behielten sie ihre portugiesischen und spanischen Namen in ihren neuen Heimatländern bei, die sich weiter vererbten (zum Beispiel Belmonte, Fonseca). Die Sefarden gehörten zwar nicht der Deutsch-Israelitischen Gemeinde an, ihre Gebräuche strahlten aber auf ihre aschkenasischen Glaubensbrüder aus. In der Epoche der Namensgesetze trug eine große Zahl Hamburger Juden, ob sefardisch oder aschkenasisch, also bereits feste und erbliche Familiennamen und ein entsprechendes Gesetz drängte daher zunächst nicht. Dieser Umstand wird von den Autoren nicht weiter ausgeführt, sondern als bekannt vorausgesetzt.
Des Weiteren behaupten Haarbleicher und May, dass der antimoderne Einfluss der „völlig mittelalterlichen“ (S. 1) jüdischen Gemeinde Altona ein Namensgesetz verhindert habe. Dabei verweisen sie auf die unterschiedlichen Akkulturationsstufen Akkulturation: Übernahme von Elementen einer fremden Kultur durch den Einzelnen oder eine Gruppe; kultureller Anpassungsprozess aber auch politischen Zugehörigkeiten innerhalb der sehr heterogenen Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek (AHU). Die aschkenasischen Hamburger Juden unterstanden bis 1812 dem Oberrabbinat Altona, welches der jüdischen Aufklärung und Modernisierung generell feindlich gegenüberstand, was die ablehnende Haltung der reformorientierten Hamburger Juden erklärt. Altona selbst gehörte zum Königreich Dänemark, wo am 29.3.1814 eine Namensverordnung für Juden erlassen worden war und wo das Thema seitdem nicht weiter debattiert wurde. Inwiefern innerjüdische Auseinandersetzungen bei der Verhinderung eines Namensgesetztes eine Rolle spielten, ist unklar.
Haarbleicher und May mutmaßen ferner, dass ein Namensgesetz früher eingeführt worden wäre, „wäre Hamburg etwas länger französisch geblieben“ (S. 1). Mit dieser Einschätzung, mit der sie tatsächlich Recht haben dürften, weisen sie auf eine komplizierte historische Konstellation hin: Als Hamburg 1806 unter französische Herrschaft fiel, war die Stadt rechtlich gesehen zunächst okkupiert; das französische Namensgesetz vom 20.7.1808 galt entsprechend nicht. Nachdem jedoch Hamburg und die anderen hanseatischen Besitzungen Frankreichs 1811 in das Kaiserreich eingegliedert wurden, konnte das französische Namensgesetz am 12.1.1813 in den hanseatischen Departements eingeführt werden. Während Beispiele für diesen Vorgang etwa in Emden vorliegen, scheinen die Hamburger Juden damals jedoch keine amtlichen Namen angenommen zu haben. Warum dieses Gesetz in Hamburg nicht zur Anwendung kam, ist bislang nicht bekannt. Es ist wahrscheinlich, dass die Ereignisse des Kriegsjahres 1813, das geprägt war von wechselnden Herrschaften und einer längeren Belagerung der Stadt, die Durchführung der Namensverordnung marginal erscheinen ließ.
Kurz nach dem Ende der Franzosenzeit unternahm der Senat einen neuen Versuch einer Namensregulierung und Neuregelung der bürgerlichen Verhältnisse der Juden. Die Bürgerschaft lehnte jedoch den Antrag des Senats vom 20.10.1814 ab. Dieser hätte Juden, die das Bürgerrecht Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzung für die Erlangung des Bürgerrechts war geerbter Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch/Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92 f.] erlangen wollten, verpflichtet, einen festen Familiennamen anzunehmen. Bis zu dem neuen Vorstoß der beiden jüdischen Gemeindeangestellten 35 Jahre später blieb es also bei der alten Ordnung und dem „fortwährende[n] Provisorium“ (S. 1).
Der Zeitpunkt der Reformvorschläge Haarbleichers und Mays kommt nicht von ungefähr. Seit 1843 bearbeitete eine Senatskommission die Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse der Juden. In dieser Kommission wurde auch das Problem jüdischer Familiennamen aufgegriffen und Zebi Hirsch May als Sachverständiger angehört, der vehement für eine gesetzliche Festschreibung der Führung fester Namen seitens der Juden eintrat. Er argumentierte, dass in allen Ländern, in denen ein solches Gesetz fehlte, diese Lücke für allerlei Missbrauch genutzt würde, wobei er das gängige Stereotyp übernahm, Juden würden mittels ihrer Namen betrügen. Das Revolutionsjahr 1848 wiederum steht für die begründete Hoffnung der deutschen Juden, dass „der Augenblick gekommen sei[n]“ (S. 2), die alten Zustände zu verbessern und eine vollständige bürgerliche Gleichstellung zu erstreiten. Der Hamburger Gabriel Riesser, der seit Mai 1848 Abgeordneter der deutschen Nationalversammlung war, plädierte schon seit mehreren Jahren dafür, dass sich Juden ihre Rechte selbst erkämpfen müssten. Haarbleichers und Mays Text stammt also aus einer Zeit des Aufwinds und des Selbstbewusstseins der jüdischen Reformbewegung, der sie „ein regeres bürgerliches Bewußtsein“ (S. 2) bescheinigen. Dieses Selbstbewusstsein bringen sie durch ihre Empfehlung an den jüdischen Gemeindevorstand zum Ausdruck, nicht auf Gesetzesvorlagen aus Frankfurt oder „von hamburgischer Seite“ zu warten, sondern selbst die Initiative zu ergreifen, um zu beweisen, dass sie als reformorientierte Juden selbst daran interessiert seien, „wirkliche Uebelstände gern [zu] beseitigen“ (S. 2).
Interessant und auch sehr bezeichnend ist die Argumentation für die Notwendigkeit einer Namensverordnung, die Haarbleicher und May liefern. Sie spielen in erster Linie auf die wirtschaftliche Dimension der Namen an und beklagen die „schädliche Willkühr und Unordnung“ (S. 1) in diesem Bereich. Gleich einer Firma müsse der feste Familienname mehr sein, als ein beliebiges Accessoire. Er müsse fester Bestandteil der Identität werden, den man nicht nach Belieben wechseln könne, ein Aushängeschild, das den Leumund seines Trägers nach außen repräsentiere. Umso verblüffter scheinen sie darüber zu sein, dass „wohl der vierte Theil“ (S. 1) der Hamburger Juden bislang keine festen Namen trage, dass sowohl „unter der ärmeren Klasse“ (S. 1) als auch unter der Kaufmannschaft schwarze Schafe zu finden seien. Der Kampf um die Angleichung des Namenssystems ist also der Ausdruck einer politisch selbstbewussten und ökonomisch erfolgreichen jüdischen Mittel- und Oberschicht, die auf ihre Aufnahme ins Bürgertum zusteuert. Der Name stellte eine soziale Kategorie dar, die als unabdingbar in der Geschäftswelt wie auch für den Eintritt in die bürgerliche Sphäre vorausgesetzt wurde. Er diente zudem als Abgrenzung gegenüber armen und traditionellen Schichten der jüdischen Gemeinschaft, die den Autoren zu einer politischen Teilhabe noch nicht bereit schienen.
Der Vorstand der Deutsch-Israelitischen Gemeinde nahm die Reformvorschläge positiv auf und leitete sie an den Hamburger Rat weiter. Bevor es jedoch zu einer Umsetzung kam, wurden von anderer Seite Fakten geschaffen: Die Frankfurter Nationalversammlung hatte im Dezember 1848 die Grundrechte des deutschen Volkes verkündet, deren Paragraph 16 die Gleichstellung der Juden beinhaltete. Der Hamburger Rat griff die Vorschläge rasch auf und verkündete in der provisorischen Verordnung vom 21.2.1849 die Umsetzung des Paragraphen 16 und die Erlaubnis der Juden zum Erwerb des Hamburger Bürgerrechts Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzung für die Erlangung des Bürgerrechts war geerbter Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch/Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92 f.]. Zur Erlangung dieses Rechts wurden die Juden nun gesetzlich dazu verpflichtet, feste Familiennamen anzunehmen (Artikel 2). Doch nach wie vor handelte es sich um eine unvollständige Maßnahme: Juden, die das Bürgerrecht Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzung für die Erlangung des Bürgerrechts war geerbter Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch/Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92 f.] nicht erwerben wollten, waren weiterhin nicht verpflichtet, einen festen Namen zu führen. Zudem wurde die Namenspflicht 1854 und 1864 noch einmal abgeändert, so dass sich der Senat noch 1880 gezwungen sah, eine Kommission einzuberufen, die in strittigen Namensfällen entscheiden sollte. Haarbleicher und May waren also von den Entscheidungsträgern in Frankfurt und Hamburg doch noch überholt worden. Wie sie befürchtet hatten, war das Ergebnis eher ein enttäuschender Flickenteppich provisorischer und nicht allgemeingültiger Verordnungen, der letztendlich nicht das Engagement des modernen und reformorientierten jüdischen Bürgertums in Hamburg widerspiegelte.
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Johannes Czakai, M.A., studierte Geschichte und Jüdische Studien in Berlin, Potsdam und Krakau. Derzeit ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und promoviert an der Freien Universität Berlin zum Thema der jüdischen Namensannahme im polnischen Galizien.
Johannes Czakai, Die Annahme fester Familiennamen durch die Hamburger Juden, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 28.03.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-194.de.v1> [31.10.2024].