Schon der Name des Vereins macht deutlich, dass er sich als dezidiert jüdische Organisation verstand, die sich sowohl für die Wohlfahrtspflege als auch das Judentum einsetzte. So verweist das im 19. Jahrhundert gebräuchliche Adjektiv „israelitisch“ auf seine Zugehörigkeit zum jüdischen Bekenntnis. Die Bezeichnung „israelitisch“ sollte zugleich betonen, dass die Differenz zwischen Juden und Nichtjuden nur als konfessioneller Unterschied verstanden wurde. Der Begriff „jüdisch“ wurde im 19. Jahrhundert zunehmend säkularisiert und damit weiter gefasst, so dass er auch im ethnischen Sinne verstanden werden konnte. Dies umgingen Vereine mit der Bezeichnung „israelitisch“. Der Namenszusatz „humanitär“ steht für eine auf Wohlfahrt ausgerichtete menschenfreundliche Grundeinstellung. Der Verein war eine feste Konstante der jüdischen Gemeinde der Hansestadt. So stammte die Satzung aus derselben Druckerei, wie die Statuten der Hamburger Deutsch-Israelitischen Gemeinde und die jüdische Freimaurerloge stellte dem Verein ihr Logenheim für die Generalversammlung zur Verfügung. Um möglichst viel auf verschiedenen Feldern erreichen zu können, ging der Verein auch Kooperationen mit anderen hanseatischen Stiftungen und Wohltätigkeitsanstalten ein. 1908 hatte die ausgebildete Lehrerin, Sidonie Werner Gustav Tuch als Vorsitzende des Israelitisch-humanitären Frauenvereins abgelöst und erfolgreich viele neue soziale Unterstützungsangebote, speziell für Kinder, Jugendliche und Frauen etabliert. Die aktive Frauenrechtlerin setzte sich dabei gezielt für eine qualifizierte Berufsausbildung von Frauen ein und versuchte die soziale Frauenarbeit zu professionalisieren, um den Wirkungskreis von Frauen über rein karitative Tätigkeiten hinaus zu erweitern. Wie aus §2 der Satzung hervorgeht, sollten Frauen durch das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe befähigt werden, ihre eigene Lage zu verbessern und bedürftige Schwestern zu unterstützen. §8 der Satzung bestimmt, dass die Höhe des Mitgliedsbeitrags selbst festgelegt werden konnte. Damit wurde die Mitgliedschaft im Verein auch weniger wohlhabenden Frauen ermöglicht. Zudem ließ der Israelitisch-humanitäre Frauenverein, wie der 1865 in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Frauenverein nur Frauen als ordentliche Mitglieder zu. Damit wurde ein geschützter Raum für Jüdinnen geschaffen, in dem sie ihre Belange und Probleme diskutieren, aber auch ihre Organisationsfähigkeiten und Professionalisierungsbestrebungen weiter ausbauen konnten.
Seit seiner Gründung legte der Israelitisch-humanitäre Frauenverein ein besonderes Augenmerk auf den Ausbau der Bildungschancen von Frauen und Mädchen sowie auf die Förderung weiblicher Erwerbsarbeit, womit er sich den Hauptforderungen der bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich anschloss, die sich dafür einsetzte, Frauen den Zugang zu höherer Bildung, Berufsausbildung und damit qualifizierter Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Das Ziel war es, Frauen ökonomisch unabhängig zu machen und dem geltenden bürgerlichen Frauenideal der Gattin, Hausfrau und Mutter auch andere selbstbestimmte weibliche Lebenswege entgegenzustellen. Daneben werden in der Satzung unter §2 die sozialen Bestrebungen gegenüber Bedürftigen deutlich hervorgehoben. Unter dem Vorsitz von Sidonie Werner etablierte der Israelitisch-humanitäre Frauenverein zahlreiche neue Sozialprojekte: 1909 baute der Verein eine Arbeitsvermittlungsstelle für Frauen auf und ging so gezielt gegen weibliche Armut vor. Dabei handelte es sich um ein Projekt von Frauen für Frauen, das sehr gut angenommen wurde. Da die bürgerliche Frauenbewegung eigene Arbeitsvermittlungsstellen etabliert hatte, ist davon auszugehen, dass nur Jüdinnen vermittelt wurden. Im selben Jahr wurde das Israelitische Mädchenheim in Hamburg eröffnet. Der eigenständige Verein des Israelitischen Mädchenheims war durch Sidonie Werner und andere Hamburger Vorstandsdamen stark mit dem Israelitisch-humanitären Frauenverein verbunden. Hier lässt sich das in der Satzung angestrebte Kooperationsvorhaben mit anderen Organisationen belegen. In dem Heim erhielten alleinstehende erwerbstätige Mädchen eine günstige, saubere und angesehene Wohnstätte. Wie notwendig solche Einrichtungen waren, wird an der großen Nachfrage deutlich. Das Heim eröffnete im Januar 1909 mit 14 Betten. Nach einem Jahr war das Haus mit 23 Bewohnerinnen überfüllt und viele Bewerberinnen mussten aus Platzmangel zurückgewiesen werden.
Die Idee, für ledige Arbeiterinnen Wohnheime zu errichten, war wie die Stellenvermittlung nicht neu. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gründeten Akteurinnen der bürgerlichen Frauenbewegung nach amerikanischem Vorbild solche Einrichtungen, um die Lebensbedingungen von ledigen Frauen zu verbessern, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. So zum Beispiel das 1890 von Hanna Bieber-Böhm in Berlin gegründete Arbeiterinnenheim, das sowohl Arbeiterinnen als auch Vertreterinnen der neuen Berufsgruppe der Angestellten offen stand. Heime für berufstätige Frauen waren ein weiblicher Schutzraum, der eine Doppelfunktion erfüllte. Durch die günstigen, sauberen und würdigen Wohnungen bot man den Frauen die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt ehrvoll zu bestreiten und beugte so dem sozialen Abstieg in Armut und Prostitution vor. Gleichzeitig bewahrte das Heim den guten Ruf der Bewohnerinnen.
Eine weitere wichtige Aufgabe sah der Verein in der präventiven Arbeit gegen Elend und Armut. Ein gutes Beispiel dafür ist die seit 1909 betriebene Säuglingsfürsorge. Damit wandte sich der Israelitisch-humanitäre Frauenverein einem hoch aktuellen Thema seiner Zeit zu, das mit dem speziellen Fokus auf sozialschwache Mütter noch an Brisanz gewann. Mit Hilfe von Stillprämien sollten unbemittelte Mütter motiviert werden, ihre Kinder zu stillen und sich selbst um sie zu kümmern. Auch wenn diese Prämien nicht den Arbeitslohn ersetzten, boten sie doch eine Unterstützung. Der Verein setzte jedoch nicht nur auf finanzielle Unterstützung, sondern auch auf gezielte Prävention durch Aufklärung. So bot ein vom Verein entlohnter Arzt, Dr. med. Bland, kostenlose Untersuchungen für Säuglinge an und hielt Vorträge über die richtige Kinderpflege vom Säugling bis zum schulpflichtigen Kind. Dieses Angebot zeigt, dass die Frauen und ihre Lebensumstände ernst genommen wurden. Durch konkrete Hilfs- und Aufklärungsangebote sollten sie in die Lage versetzt werden, sich selbst um ihre Kinder kümmern zu können. Der Verein versuchte die Situation und das Handeln bedürftiger Frauen tiefgreifend zu verändern und nicht nur durch finanzielle Unterstützung ihre Not zu lindern. Hier wird deutlich, dass der Israelitisch-humanitäre Frauenverein der Anwendung moderner Methoden der Sozialarbeit offen gegenüberstand, wie auch andere soziale Projekte des Vereins zeigen. So unterhielt er seit Beginn ein Kindererholungsheim in Bad Segeberg und unterstützte den Knaben- und Mädchenhort in Hamburg. Beide Einrichtungen ermöglichten Müttern, erwerbstätig zu sein und ihre Kinder unter Beaufsichtigung zu wissen. Somit förderte der Verein die weibliche Erwerbstätigkeit und setzte sich gleichzeitig für die Jugendfürsorge ein. Der Israelitisch-humanitäre Frauenverein verstand sich demnach nicht nur als ein Zusammenschluss, der für die Rechte der Frauen eintrat, sondern auch als jüdische Organisation, die sich gezielt an Jüdinnen wandte und ihre spezielle Lebenssituation verbessern wollte. Dabei orientierte man sich an erfolgreichen Strategien und Methoden der bürgerlichen Frauenbewegung und versuchte, dem gewandelten Frauenbild durch die Schaffung exklusiver Räume für Jüdinnen gerecht zu werden. Nicht-jüdische Frauenorganisationen nahmen ihrerseits Anregungen aus der Arbeit jüdischer Vereinigungen auf.
Der bestehende rege Ideenaustausch zwischen der bürgerlichen und jüdischen Frauenbewegung beruhte auch stark auf personellen Verflechtungen. Zu den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, der mit seiner Gründung 1865 den Beginn der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland markierte, gehörte Henriette Goldschmidt, Ehefrau des Leipziger Rabbiners Abraham Meyer Goldschmidt. Bei der Hamburger Jüdin und Pädagogin Johanna Goldschmidt lassen sich die Verbindungslinien zu Akteurinnen der bürgerlichen Frauenbewegung bis zur Revolution von 1848/49 zurückverfolgen. Daneben engagierte sich auch Bertha Pappenheim seit 1895 in der Frankfurter Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Das Gründungsmitglied und die erste Vorsitzende des 1904 gegründeten Jüdischen Frauenbundes, der sich nach dem Vorbild des Bunds Deutscher Frauenvereine konstituiert hatte, pflegte engen Kontakt zu Sidonie Werner, die ab 1915 das Amt der Vorsitzenden übernehmen sollte. Durch diese Verbindungen verwundert es nicht, dass sich der relativ junge Israelitisch-humanitäre Frauenverein nicht nur in der Tradition der jüdischen Wohlfahrtspflege sah und in der Gemeinde wirkte, sondern auch frauenpolitische Diskussionen und moderne Methoden der Sozialarbeit aus der bürgerlichen Frauenbewegung aufgriff.
Sowohl die lokalen als auch dezidiert frauen- und kinderbezogenen Zielsetzungen
sind für einen Frauenverein nicht ungewöhnlich. Trotz vieler programmatischer
Parallelen und personeller Überlappungen zur bürgerlichen Frauenbewegung im
Kaiserreich geht aus
der Satzung hervor, dass sich der Israelitisch-humanitäre Frauenverein als Organisation von und für
jüdische Frauen verstand. Die Bewahrung der jüdischen Identität und Kultur der
Frauen spielte eine große Rolle. Deutlich spiegelt sich das in der Etablierung
exklusiver Hilfsangebote und Räume für Jüdinnen wider, in denen ihre Religion
berücksichtigt wurde und sie gleichberechtigt leben konnten.
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Magdalena Gehring, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Frauen- und Geschlechtergeschichte in Deutschland und den USA, sowie Sozial- und Kulturgeschichte besonders des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Magdalena Gehring, Moderne jüdische Sozialarbeit. Der Israelitisch-humanitäre Frauenverein, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-121.de.v1> [21.11.2024].