Seit 1908 ließ sich Albert Ballin von Werner Lundt und Georg Kallmorgen eine Villa an der Feldbrunnenstraße errichten. Die beiden Architekten, die damals als besonders modern galten, entwarfen eine mit Säulen geschmückte Residenz, bei der sich die Reformarchitektur des beginnenden 20. Jahrhunderts mit Motiven aus der klassizistischen Landhausarchitektur verband. Die englische Zeitschrift „Daily Graphic“ nannte die Villa 1914 „Klein Potsdam“. Zitiert nach Lamar Cecil, Albert Ballin. Wirtschaft und Politik im deutschen Kaiserreich 1888–1918, Hamburg 1969, S. 103. Diese Bezeichnung macht deutlich, was Ballin mit dem Bau beabsichtigte: Das private Haus des HAPAG-Generaldirektors sollte ein repräsentatives Ambiente bilden. Ballin wollte ein Gebäude, das höchsten Ansprüchen genügte – und die Villa Ballin bot ihm eine perfekte Kulisse für Gesellschaften und Diners, die er für die HAPAG gab. Hier wurde in aufwendigster Weise ein reges gesellschaftliches Leben inszeniert, das die Möglichkeit zu politischen und wirtschaftlichen Kontakten bot.
Die Liste der im Notizbuch aufgelisteten Namen ist lang und umfasst regierende Fürsten, Adlige aus Diplomatie und Heer, zumeist bürgerliche Offiziere der Marine, hohe Beamte, schlesische Magnaten, rheinische Industrielle, Bankiers und Journalisten – und gleich dreimal den Deutschen Kaiser Wilhelm II. samt Entourage. Hingegen finden sich auf der Gästeliste kaum Künstler – ein deutlicher Unterschied zu den Berliner Salons Aniela Fürstenbergs, der Ehefrau des Bankiers Carl Fürstenberg, mit dem Ballin befreundet war. Auch zahlreiche Hamburger Persönlichkeiten waren bei Ballin häufig zu Besuch, neben den Bürgermeistern Johann Georg Mönckeberg, Johann Heinrich Burchard, Johann Otto Stammann, William Henry O’Swald, Max Predöhl und Carl August Schröder sind zum Beispiel die Reeder Richard C. Krogmann, Adolph und Eduard Woermann, der Werftgründer Hermann Blohm, der Kaufmann Heinrich Freiherr von Ohlendorff, der Bankier Max Schinckel – seit 1910 Vorsitzender des HAPAG-Aufsichtsrats – und Johannes Merck – seit 1896 Ballins Vorstandskollege bei der HAPAG – zu nennen.
Beim ersten Besuch des Kaisers in der Feldbrunnenstraße am 22. Juni 1910 waren folgende Personen anwesend: aus der Entourage des Kaisers der Oberhof- und Hausmarschall August Graf zu Eulenberg, der Generaladjutant Hans von Plessen, der Chef des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller, der Chef des Zivilkabinetts Rudolf von Valentini, der Flügeladjutant Leo von Caprivi, Kapitän Friedrich von Bülow und der Leibarzt Friedrich von Ilberg, außerdem die preußischen Gesandten Karl Georg von Treutler und Gustav Adolf von Götzen (zuvor Gouverneur von Deutsch-Ostafrika) sowie der Legationsrat Graf von Bassewitz; aus Hamburg die eben genannten Bürgermeister Burchard, Predöhl, O’Swald und Schröder sowie Ohlendorff, Schinckel und Witt; schließlich Ballins Tochter Irmgard und ihr Verlobter Heinz Bielfeld.
Umstritten ist, ob Ballin – der aus einer armen jüdischen Hamburger Familie stammte und ein sozialer Aufsteiger war – in der höheren Hamburger Gesellschaft ein Außenseiter blieb, „dem immer auch viel Misstrauen und Ablehnung entgegenschlugen“. So Susanne Wiborg, Albert Ballin (Hamburger Köpfe), Hamburg 2013, S. 55; vgl. auch Johannes Gerhardt, Albert Ballin (Mäzene für Wissenschaft, 6), Hamburg 2009, S. 74. Kritisch hierzu: Olaf Matthes, Aus Albert Ballins Gästebuch, in: Ortwin Pelc (Hrsg.), Mythen der Vergangenheit. Realität und Fiktion in der Geschichte. Jörgen Bracker zum 75. Geburtstag, Göttingen 2012. Das Ballinsche Notizbuch liefert zur Klärung dieser Frage einige wichtige, jedoch nicht ausreichende Hinweise: Wer – und wer nicht – verkehrte in der Villa Ballin? Weitere Anhaltspunkte bietet die Memoirenliteratur. So schreibt Johannes Merck über Ballin in seinen Erinnerungen: „Aber er war Jude, Geschäft war immer bei ihm die Hauptsache, deutsche Belange waren ihm im Grunde nebensächlich. […] Ein großer Charakterfehler Ballins, vielleicht ein Rassenfehler, also etwas rein Jüdisches, und deshalb bis zu einem gewissen Grade bei ihm entschuldbar, war sein absoluter Mangel an Objektivität.“ Zitiert nach Gerhardt, Albert Ballin, S. 117.
Für die Außenseiterrolle Ballins spricht vor allem, dass er – anders als der typische Hamburger Großkaufmann und/oder Reeder (zum Beispiel Adolph Woermann) – seine ökonomische Basis nicht im eigenen Familienunternehmen hatte. Ballin war bei der HAPAG angestellt und verkörperte einen neuen Unternehmertyp: den des Managers. Dies galt nicht sonderlich viel bei der vielfach noch in traditionellen ökonomischen Mustern denkenden Althamburger Kaufmannschaft. Zugleich waren deren Vertreter aber wohl auch irritiert über Ballins Erfolg, stieg die HAPAG doch unter seiner Ägide zur größten Reederei der Welt auf.
Die Gesellschaften und Diners in der Feldbrunnenstraße boten dem HAPAG-Generaldirektor Gelegenheit, sich als erfolgreichen Manager zu inszenieren und seine Ansichten zu politischen und wirtschaftlichen Fragen zu vermitteln. Außerhalb der Regierung waren es dabei im Wesentlichen Angehörige zweier Gruppen, über die er Einfluss zu nehmen suchte: Zum einen Bankiers, zum anderen Journalisten. Charakteristisch für Ballin ist die Privatisierung der Einflussnahme, stand er doch den im Kaiserreich allgegenwärtigen Interessenverbänden eher skeptisch gegenüber und strebte nie nach politischer Macht in Form von öffentlichen Ämtern – schon gar nicht in seiner Heimatstadt Hamburg, über deren Rahmen er längst hinausgewachsen war.
Zu den führenden Bankiers gehörte Max Warburg, mit dem Ballin eng befreundet war, und der im Notizbuch bei mindestens 43 Gelegenheiten aufgelistet wird. Zwar war Warburg nicht 1910 beim ersten Besuch des Kaisers in der Villa Ballin zu Gast. Seit 1912 wurde jedoch auch er zu diesem prestigeträchtigen Ereignis eingeladen.
Mindestens 27 Mal erscheint im Notizbuch der Name des einflussreichen Journalisten Felix von Eckardt, Chefredakteur des „Hamburgischen Correspondenten“, in Ballins Gästebuch. Auch Bernhard Huldermann, Redakteur des Wirtschaftsteils dieser Zeitung, der später zum HAPAG-Direktor avancierte, wird an elf Stellen genannt. Ballin verstand es meisterhaft, die Presse für die Ziele der HAPAG einzuspannen. Im 19. Jahrhundert waren Unternehmen und Unternehmer noch gleichzusetzen, und der Charakter einer Firma wurde weitgehend durch deren Gründer oder Inhaber repräsentiert. Ein Althamburger Kaufmann hatte seine Geschäfte diskret abzuwickeln – Kontakte zu Journalisten galten als anrüchig. Ballin hingegen erkannte das Potential der Presse und war 1900 einer der ersten, der in einem deutschen Unternehmen eine eigene Presseabteilung ins Leben rief. Das „Literarische Büro“ kümmerte sich gezielt um ein positives Image der HAPAG und wirkte auf eine Zusammenarbeit mit der Presse im Sinne der Interessen des Unternehmens hin. Und auch Ballin persönlich lancierte geschickt Mitteilungen wie den im Notizbuch erwähnten Lichtbildervortrag für den Kaiser über den Schiffsneubau der HAPAG an die Presse. Bereits einen Tag später, am 23.6.1910, berichtete der eben erwähnte „Hamburgische Correspondent“ ausführlich hierüber.
Albert Ballin, so der Chefredakteur des „Berliner Tageblattes“, Theodor Wolff, „umgab die HAPAG mit einem nie dagewesenen Glanz der Repräsentation“. Theodor Wolff, Der Marsch durch zwei Jahrzehnte, Amsterdam 1936, S. 245. Dies wirkte auf den Deutschen Kaiser Wilhelm II., der eine Schwäche für Prunk hatte. Das erste persönliche Treffen zwischen Ballin und dem Monarchen Kaiser Wilhelm II. fand in Cuxhaven vor der Jungfernkreuzfahrt des Schnelldampfers „Augusta Victoria“ im Januar 1891 statt. In engere persönliche Beziehungen traten beide 1899 beim Jahresdiner der HAPAG anlässlich der Unterelbe-Regatta, als Ballin an der Seite des Kaisers saß. Seit 1910 kam Wilhelm II. mit seiner Entourage jährlich zum „Gabelfrühstück“ – heute würde man es zweites Frühstück nennen – in die Feldbrunnenstraße. Das Notizbuch erwähnt die Kaiserbesuche am 22.6.1910, 19.6.1911 und 17.6.1912. Außerdem besuchte der Monarch Kaiser Wilhelm II. Ballin noch am 23.6.1913 und am 28.6.1914. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges kühlte sich die Beziehung zwischen beiden spürbar ab.
Beim ersten Besuch 1910 musste der geplante Programmablauf wegen eines Furunkels im kaiserlichen Knie modifiziert werden. Ballin notierte: „Der Kaiser, der sich für Montag d. 20 Juni bei uns zum Frühstück u zur Entgegennahme eines Lichtbilder Vortrags über das neue Schiff den1913 von der HAPAG in Dienst gestellten „Imperator“ (Vulcan Bau 880–896) angesagt hatte, erkrankte an einem Knieleiden. Infolgedessen Absage des ganzen Hamburger Besuches. Zum Rennen am 19ten kam die Kaiserin u. der Kronprinz, mit dem längere Unterredung. […] Montag 20 Juni erhielt die Nachricht, der Kaiser würde doch zu uns kommen. Mittwoch 22 Juni 10 kam der Kaiser, der wegen des besser gelegenen Perrons Bahnstieg bis Altona gefahren war, von Altona im Auto zu uns.“
Die Besuche des Deutschen Kaisers waren zweifellos eine ganz besondere Ehrung für Ballin, denn damit brach der Monarch Kaiser Wilhelm II. mit der Tradition preußischer Könige, die Wohnungen von Privatleuten nicht zu besuchen. Nach 1910 bildete sich ein fest gefügter Ablauf heraus, der unter anderem die folgenden Programmpunkte enthielt: Unterelbe-Regatta mit Festessen, „Kaiserin Auguste Victoria-Jagd-Rennen“ auf der Horner Rennbahn, Gabelfrühstück in der Villa Ballin und schließlich Weiterfahrt zur Kieler Woche. Dort lagen seit 1902 regelmäßig HAPAG-Dampfer, die für die kaiserlichen Gäste als schwimmende Grand Hotels fungierten, 1910 war es, wie aus dem Notizbuch hervorgeht, die „Oceana“.
Betrachtet man das Verhältnis Ballins zu Wilhelm II. genauer, so zeigt sich, dass dieses ein ganz eigentümliches war. Ballin gehörte zu den deutschen Juden, die dem Monarchen Kaiser Wilhelm II. am nächsten standen, er war der erste und der wichtigste der so genannten „Kaiserjuden“. Werner Mosse, Wilhelm II. and the Kaiserjuden. A Problematical Encounter, in: Jehuad Reinharz/Walter Schatzberg (Hrsg.), The Jewish response to German culture. From the enlightenment to the second world war, Hannover/London 1985, S. 170. – Der Ausdruck „Kaiserjude“ stammt vom ersten israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizmann (ebd.). Diese waren für Wilhelm II., dessen Weltbild eindeutig antisemitische Züge aufwies, „in Wirklichkeit überhaupt keine echten Juden“. „Echte“ Juden waren für den Kaiser solche, die ihm kritisch gegenüberstanden. Ebd., S. 180. Deutlich wird hier der Konstruktionscharakter, der antisemitischen Einstellungen innewohnt.
Ballin war einer der wenigen Geschäftsmänner, die den Kaiser regelmäßig sahen, in den Jahren bis 1914 ungefähr alle zwei Monate bei gesellschaftlichen Anlässen und ungefähr genauso häufig in geschäftlichen und politischen Angelegenheiten. Da Ballin kaum Beziehungen zu den Adligen unterhielt, die die Berliner Hofgesellschaft dominierten, hing seine Stellung am Hof ganz von seinem persönlichen Verhältnis zum Monarchen Kaiser Wilhelm II. ab. Auch in Berlin hatte Ballin also – ähnlich wie in Hamburg – eine Außenseiterposition inne. Für den Kaiser wiederum war Ballin eine wichtige Informationsquelle (ebenso wie die anderen „Kaiserjuden“, die allesamt zur jüdischen ökonomischen Elite gehörten, so zum Beispiel der Unternehmer James Simon, der Industrielle Walther Rathenau und die Bankiers Ernst von Mendelssohn-Bartholdy und Max Warburg). Denn Ballin verfügte in Wirtschafts- und Schifffahrtsfragen über Erfahrungen, die keiner der Hofadligen besaß. Darüber hinaus hatte er – ungeachtet seiner Außenseiterrolle – ein dicht geknüpftes Netzwerk an Kontakten und brachte Wilhelm II. in Berlin, Hamburg oder Kiel mit Menschen zusammen, die ansonsten niemals zum Kaiser vorgedrungen wären.
Insgesamt gesehen war Ballins Einfluss auf den Kaiser
jedoch begrenzt und ist von vielen überschätzt worden. Theodor Wolff bemerkt hierzu in seinen Erinnerungen: „Ballin hat in keiner großen
Frage, in keinem wichtigen Augenblick einen Einfluß auf den Kaiser
ausgeübt. […] Bei keiner großen Aktion […] erfuhr Ballin, was vorging, niemals
fragte Wilhelm II. in solchen Momenten nach seiner Meinung
[…].“ Wolff, Der Marsch durch zwei
Jahrzehnte, S. 256.
Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.
Johannes C. F. Gerhardt, Dr. phil., Studium der Geschichte, Politik und Volkswirtschaftslehre in Hamburg, 2005 Promotion. Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Konservatismus und zur Parlamentarismusgeschichte im 19. Jahrhundert sowie zur Wirtschafts-, Stiftungs- und Kulturgeschichte Hamburgs. Seit 2007 Geschäftsführer der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung.
Johannes Gerhardt, Der Kaiser, die Honoratioren und die Presse zu Besuch bei Albert Ballin, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-17.de.v1> [31.10.2024].