Die vorliegende Quelle ist eine Rede des Präsidenten der Hamburger Henry-Jones Loge, Gustav Tuch, anlässlich der Eröffnung des neuen Logenheims des Hamburger B’nai B’rith („Söhne des Bundes“) am 28.8.1904. Die Rede ist Teil einer 58-seitigen Festschrift zum Gedenken an die Einweihung des Heims. Neben Tuchs Rede enthält die Festschrift Worte anderer Festredner, sowie Erinnerungen an die Grundsteinlegung und an das zur Eröffnung gehörende Festmahl. Den Abschluss bildet eine Auflistung der Spender, die den Bau des neuen Gebäudes möglich gemacht haben. Die Festschrift ist damit Teil einer Inszenierung des Aufstiegs der Hamburger Loge von einer kleinen Zahl von 38 Mitgliedern im Jahre 1887, wie es in der Einleitung der Festschrift heißt, bis hin zur Einweihung der eigenen Räume, 17 Jahre später. Die Rede Tuchs vereint den Stolz der Einweihung des Logenheims mit dem Aufruf zur Teilnahme der Brüder an den Aktivitäten des B’nai B’rith. Tuch geht dabei auch auf den Sendungsauftrag und den Ursprung des Selbstverständnisses der jüdischen Mitglieder in Deutschland ein.
Der Verfasser der Rede ist Gustav Tuch, der Präsident der Hamburger B’nai B’rith Loge, die seit ihrer Gründung im Jahre 1887 den Namen Henry Jones trug, benannt nach einem Hamburger, der nach Amerika emigriert und dort Mitbegründer der ersten Loge des B’nai B’rith in New York im Jahre 1843 gewesen war. Der als Kind aus Polen zugewanderte Gustav Tuch war ein etablierter Hamburger Jude, der sich in vielen Bereichen und so auch im B’nai B’rith engagierte. Nicht nur war er an der Förderung und Finanzierung des neuen Logenheims beteiligt, wie aus den Spenderlisten im Anhang der Festschrift hervorgeht, er hatte sich zuvor auch maßgeblich als Mitgründer der Hamburger Loge im Jahre 1887 verdient gemacht. Tuchs Adressaten waren die während der Einweihungsfeier Anwesenden. Das waren in erster Linie die Mitglieder der Hamburger B’nai B’rith Loge und ihre Frauen, sowie Ehrengäste und Delegierte aus anderen Logen, wie etwa der Großpräsident des B’nai B’rith Deutschland, Justizrat Berthold Timendorfer. Darüber hinaus werden Vertreter aus den verschiedenen Hamburger jüdischen Gemeinden als Gäste genannt. Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein überwiegend jüdisches Publikum handelte. Insgesamt werden alle Anwesenden von Tuch als „Brüder“ angesprochen, womit er die Zuhörergemeinde als vereinten Körper adressiert und die Wichtigkeit der Eintracht und des Zusammenhalts, die er im Folgenden mehrfach betont, sprachlich unterstreicht.
Die Rede Gustav Tuchs ist in drei Teile gegliedert. Einleitung und Schluss sind dem Anlass seiner Rede, der Einweihung des neuen Logenheims, gewidmet. Der Hauptteil der Rede handelt vom Wesen und Wirken des B’nai B’rith im Allgemeinen. So verbindet Tuch die Bedeutung der Hamburger Loge mit den universellen Ansprüchen des B’nai B’rith in Deutschland und darüber hinaus und gibt den Hamburger Zuhörern ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen.
Das Hamburger Logenheim solle, so betont Tuch zu Anfang, ein Ort „der Arbeit und der Geselligkeit“ (S. 25) sein. Dabei macht Tuch deutlich, dass die Arbeit im Zentrum des Heims und seiner Loge stehen soll. Das Ideal der edlen „Geselligkeit“, das auch im Freimaurertum sowie in den vielen anderen deutschen Vereinen als männlich und bürgerlich geprägte Form des Miteinanders von zentraler Bedeutung war, dürfe diese Arbeit zwar „umranken“, solle den missionarischen und erzieherischen Charakter der Loge aber nicht behindern. Damit macht Tuch deutlich, dass der B’nai B’rith bürgerliche Werte zwar lebt und würdigt, diese aber nur als Mittel zum Zweck an der gemeinnützigen Arbeit sieht, die über die bürgerlichen Kreise hinausgehe. Im „vornehmen“ Tun sollen die Mitglieder zum „Segen“ für andere werden. Auffällig ist die religiöse Semantik, die den missionarischen Ton der Worte Tuchs verstärkt.
Das „vornehme Tun“ der Mitglieder des Hamburger B’nai B’rith sollte dabei keineswegs nur den jüdischen Bedürftigen gelten. „Alles was Menschenantlitz trägt“ (S. 26) solle von der wohltätigen Arbeit des B’nai B’rith erfasst werden, der sich mit dieser pluralistischen Botschaft einem Humanismus verschreibt, der dem Vorurteil, Juden würden sich nur gegenseitig, nicht aber anderen helfen, entgegenwirken und das Gebot, bedürftigen Juden zu helfen (Zedakah) auch auf Nichtjuden ausweiten sollte.
Dieses Ideal der umfangreichen und umfassenden Nächstenliebe war Ausdruck des Selbstverständnisses der Mitglieder des B’nai B’rith als „deutsche Bürger israelitischen Stammes“, wie es zu Beginn der Festschrift heißt (S. 11). Der Begriff „Stamm“ bezeugte das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Nation und distanzierte die Mitglieder klar von Begriffen wie Volk, Religion oder Rasse. „Stamm“ war ein Begriff, der sich im gesamten Deutschen Reich als Ausdruck der Vielfalt bei gleichzeitiger Einheit der Nation etabliert hatte.
Die Erziehung zu uneingeschränkter Loyalität zum Vaterland war nicht nur in den Grundsätzen des B’nai B’rith verankert, sondern fand auch im praktischen Patriotismus, wie etwa bei nationalen Gedenk- und Feiertagen ihren Ausdruck. Allein die Namensgebung der frühen Logen auf deutschem Boden deutet auf diese starken Zugehörigkeitsgefühle hin: Als erste Loge war die „Deutsche Reichsloge“ im März 1882 gegründet worden, gefolgt von der Loge „Germania“, die seit August 1882 bestand. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Kultur am Tag der Einweihung des Hamburger Logenheimes selbst, ist die Tatsache, dass zur Eröffnung des Festmahles der Marsch aus Wagners „Tannhäuser“ gespielt wurde. Die enge Bindung an die jüdische Tradition stand mit den nationalen Loyalitäten in keinem Kontrast, sondern galt, wie auch Tuchs Festrede zeigt, als Bedingung für ein gesundes Nationalbewusstsein und eine erfolgreiche Wohltätigkeitsarbeit am jüdischen und nichtjüdischen Menschen.
Vor dem Hintergrund eines modernen Antisemitismus, der sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in neuer Form und Geschwindigkeit in Deutschland ausbreitete, ist die Bekräftigung humanitärer Werte und der Liebe zum deutschen Vaterland bemerkenswert. Das deutsche Judentum sollte als einheitliche, loyale Gemeinschaft präsentiert werden, um so Vorwürfen mangelnder Verbundenheit mit der deutschen Nation vorzubeugen. Daher wurden im B’nai B’rith jene Gruppen innerhalb des Judentums mit besonderer Sorge betrachtet, die sich von dieser Verbundenheit abzukehren gedachten und die Idee eines eigenen jüdischen Nationalismus befürworteten. Mit den neuen „Gegensätzen“ innerhalb des Judentums, die Tuch in diesem Zusammenhang als die Arbeit des B’nai B’rith zersetzend einstuft (S. 26), meint er vor allem die entstehenden jüdischen Partikularbewegungen, wie etwa die verschiedenen jüdischen Nationalismen (Bundismus oder Zionismus) aber auch die Spaltungen innerhalb des religiösen Judentums (Reformbewegung, konservatives Judentum, jüdische Orthodoxie), die sich im 19. Jahrhundert herausbildeten und verfestigten und die ein gemeinsames Handeln ebenfalls erschwerten. Tuch macht deutlich, dass diese jüdischen Partikularinteressen im B’nai B’rith verschwimmen müssen, da sie der Verwirklichung des Leitgedankens der uneingeschränkten Nächstenliebe im Wege stünden. Er kommt auf diese Gegensätze mehrmals zurück und betont die Bedeutung des Zusammenhalts in der Loge, was vermuten lässt, dass die Arbeit des B’nai B’rith und die Atmosphäre innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland im Allgemeinen stark von den Zersplitterungen im deutschen Judentum belastet wurde.
Gleichzeitig wird deutlich, dass der B’nai B’rith selbst nur mit Hilfe gerade jener Zersplitterungsbewegungen entstehen konnte, die Tuch derart kritisiert. Denn so sehr Tuch den B’nai B’rith zu Anfang seiner Rede über jegliche jüdische Partikularbewegungen stellt, wird im Tun und Denken seiner Mitglieder deutlich, dass die Arbeit des B’nai B’rith stark an die Idee der jüdischen Reformbewegung – und damit an eine dieser Partikularbewegungen – angelehnt war. Obwohl sich der B’nai B’rith ursprünglich von religiösen Praktiken distanziert und sich als säkulare Gruppe verstanden hatte, wurden einige Ideen der religiösen Reformbewegung durchaus für die eigene Arbeit aufgegriffen. Dazu gehörte das Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Nation genauso wie die Idee, die Auserwähltheit des eigenen Volkes zwar anzuerkennen, sie jedoch nur dazu zu nutzen, die jüdischen Wertvorstellungen der Nächstenliebe und Brüderlichkeit zu leben und zu verbreiten, und nicht etwa um sich von anderen Völkern abzugrenzen. Dabei wird von Tuch aus der Not des jüdischen Exils die Tugend der „Aussaat edelsten und reinsten Menschentums“ (S. 27) gemacht, welche die Wahrung der jüdischen Ideale zum Wohle der gesamten Menschheit möglich mache.
Durch die Betonung der historisch verankerten Mission des jüdischen Volkes, für das der Redner den ursprünglichen Stammesnamen „Juda“ wählt, folgt Tuch zusätzlich einer ganz eigenen Tradition der Hamburger Loge, die sich als erste Loge der Wahrung der Tradition des jüdischen Volkes verschrieb, in dem sie die Gründung eines „allgemeinen Archivs der Juden Deutschlands“ und einer „Sammlung jüdischer Altertümer“ Louis Maretzki, Geschichte des Ordens Bne Briss in Deutschland. 1882–1907, Berlin 1908, S. 160. initiierte. Dies geschah im Bewusstsein, dass die jüdische Identität durch das Wissen der eigenen Wurzeln gestärkt und gefestigt würde. Auch der Zionismus stellte die Erneuerung des jüdischen Volkes bei gleichzeitiger Rückkehr zu den ureigenen geographischen Wurzeln nach Eretz Israel, in den Mittelpunkt seines Wirkens. Im Gegensatz zum Zionismus sah der B’nai B’rith die Geschichte des deutschen Judentums jedoch gerade als Grundlage für die weitere Eingliederung in die deutsche Gesellschaft.
Am Schluss seiner Rede kehrt Tuch zu den konkreten Zielen des B’nai B’rith und der Hamburger Loge zurück und erklärt, dass eine gelebte Nächstenliebe zunächst in der Wohlfahrtsarbeit für das osteuropäische Judentum ansetzen muss, das sich zur Zeit der Jahrhundertwende mit neuen Restriktionen und gewaltsamen Pogromen besonderen Herausforderungen gegenübergestellt sah. Dabei glaubt Tuch, dass solche Hilfsmaßnahmen „im letzen Grunde der ganzen Menschheit“ (S. 29) zugute kommen, woran sich sein (über)großes Vertrauen in die Kraft der humanitären Ideale und Fähigkeiten des B’nai B’rith ablesen lässt. In seiner Einordnung der Hamburger Loge im Besonderen und des B’nai B’rith im Allgemeinen in die Wirkungs- und Wesensgeschichte des deutschen und des globalen Judentums stellt Tuch beide in einer Art dar, die nicht vermuten lässt, dass der B’nai B’rith erst auf eine relativ kurze Vereinsgeschichte von gerade 60 Jahren zurückblicken konnte. Vielmehr wird der B’nai B’rith als Vervollkommnung einer gesamtjüdischen Geschichte angesehen. In der Tat zeugt die Einweihung des eigenen Logenheims nach nur 17-jährigem Bestehen der Hamburger Loge vom besonderen Ehrgeiz dieser Gruppe, die eigene Arbeit mit einem teuren und modernen Gebäude zu festigen und zu fördern. Andererseits macht Tuch deutlich, dass die Arbeit des B’nai B’rith damit keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Vielmehr stelle das neue Logenheim auch eine klare Aufforderung zu vermehrtem Schaffen und effektivem Wirken gemäß den hohen Ansprüchen der Mitglieder dar.
Der B’nai B’rith im Allgemeinen und die Hamburger Loge im Besonderen werden von Gustav Tuch als Katalysatoren eines allgemeinen Fortschritts der Moderne charakterisiert. Tuchs Idee vom B’nai B’rith als verbindendem Element zwischen der jüdischen Gemeinschaft und dem nichtjüdischen Umfeld zeugt von der Selbstwahrnehmung vieler deutscher Juden, deren Glaube an den Fortschritt der Menschheit gerade um die Jahrhundertwende ungebremst war. Tuchs Rede ist damit eine wichtige Quelle, die uns das Geschichtsverständnis deutscher Juden, ihre Erwartungen an das neue Jahrhundert und die Umbrüche in den verschiedenen jüdischen Lebenswelten besser verstehen lässt.
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Rebekka Großmann, M. A., schreibt derzeit ihre Dissertation zum Thema „Die Mobilität der Bilder. Fotografie und Nationalität in Palästina 1920-1950“. Zu ihren Forschungsinteressen zählen: jüdische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, jüdische Politik, Geschichte des jüdischen Nationalismus, Filmgeschichte, visuelle Kultur und europäische Ideengeschichte.
Rebekka Großmann, Henry-Jones-Loge. Jüdisches Selbstbewusstsein und Aufbruch in die Moderne, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 23.10.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-167.de.v1> [06.12.2024].