Die Hamburger Filiale des „Zentralbureaus für jüdische Auswanderungsangelegenheiten“
Die Gründung des Hilfsvereins der deutschen Juden
Die Krisenhilfe des Hilfsvereins
Die Emigration osteuropäischer Juden
Zusammenarbeit mit anderen Wohltätigskeitsverbänden
Der Hilfsverein und das Logenwesen
Vorbereitung auf die Emigration
Der vorliegende Anhang zum 6. Geschäftsbericht beschreibt die organisatorisch-finanzielle Unterstützung des Hilfsvereins für osteuropäische Emigranten unter besonderer Berücksichtigung der Hamburger und Bremer Hilfsvereins-Filialen. Diese Unterstützung schloss neben dem Empfang der osteuropäischen Auswanderer an der russisch-preußischen Grenze durch Lokalkomitees und Vertrauensleute des Hilfsvereins die gesamte Organisation des Transits durch Deutschland ein, von der Bahnreise über die Ausstattung mit gültigen Schiffspassagen – hauptsächlich der HAPAG und des Lloyd – bis hin zu ganz alltäglichen Dingen wie Verpflegung, Bekleidung, ärztliche Versorgung, Unterbringung in Herbergen und Bereitstellung von koscherem Essen (S. 117–119). Insgesamt wurden 1907 400.000 Mark dafür verausgabt (S. 117). Der Bericht schreibt den beiden Hafenstädten Hamburg und Bremen neben der Berliner Zentrale die „naturgemäß[e] […] ausgedehnteste Tätigkeit“ (S. 113) innerhalb des Vereins zu. Die Bedeutung des Hamburger Hafens „für die russische und daher auch für die jüdische Auswanderung“ (S. 113) erklärt, warum die Hamburger Filiale zudem eine eigene Außenstelle des 1904 gegründeten Berliner „Zentralbureaus für jüdische Auswanderungsangelegenheiten“ unterhielt. Unter der „umsichtigen und erfahrenen Leitung“ ihres Vorsitzenden Paul Simon Laskar (1857–1926) hatten die Hamburger Mitarbeiter des Hilfsvereins einen beträchtlichen Arbeitsaufwand zu leisten (S. 115). Im Jahr 1907 verließen insgesamt 155.982 Auswanderer Hamburg. Von diesen waren 29.007 russische Juden. Zusammen mit weiteren 8.000 Juden aus Österreich und Rumänien erhöhte sich die Zahl der in Hamburg vom Hilfsverein betreuten jüdischen Personen auf insgesamt 35.007 (S. 115).
Der Hilfsverein der deutschen Juden wurde maßgeblich von dem liberalen Berliner Journalisten Paul Nathan initiiert und am 28.5.1901 in Berlin gegründet. Präsident wurde der bekannte Berliner Kunstmäzen James Simon, der persönlich mit Kaiser Wilhelm II. bekannt war. Mit der Gründung wollten Nathan und Simon die deutsche Unterstützung für die unterdrückten Juden Osteuropas bündeln und unter einem effizient arbeitenden Dachverband zusammenführen. Die bis dahin übliche Praxis deutscher Hilfskomitees hatte darin bestanden, bei humanitären Katastrophen wie Pogromen in Russland Sammlungen durchzuführen, die sich aber trotz Unterstützung durch die französische AIU häufig als langwierig und kompliziert erwiesen und die Opfer viel zu spät erreichten.
Wie die bereits 1860 in Paris gegründete AIU verfolgte auch der Hilfsverein in erster Linie das Ziel, die osteuropäischen Juden politisch zu emanzipieren und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, um so deren Auswanderung langfristig überflüssig zu machen. Der Fokus lag dabei auf Bildungs- und Ausbildungsprojekten vor Ort. Wie der Bericht betont, stand eine „Aufmunterung zur Auswanderung“ keineswegs zur Debatte (S. 117). Oft bestanden zudem große Vorbehalte der westeuropäischen Juden gegenüber ihren osteuropäischen Glaubensgenossen. „Ostjuden“ waren häufig sehr religiös und in den Augen der im Hilfsverein engagierten liberalen, großbürgerlichen Juden standen sie sozialistischen Ideen zu positiv gegenüber. Auch sprachen sie kaum deutsch und waren zumeist verarmt, was den Unterstützungsaufwand zusätzlich erhöhte. Hinzu kam die Furcht der emanzipierten deutschen Juden, die „Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung“ könne die grassierenden antisemitischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft weiter befeuern. Diese Sorge wurde auch von etablierten Organisationen wie dem CV geteilt.
Der Hilfsverein schaffte es innerhalb nur eines Jahres ein reichsweites Netz von Ortsvereinen und Lokalkomitees aufzubauen und konnte damit auf eine breite Spendenbasis für dringend benötigte Hilfsgelder für Osteuropa zurückgreifen. Dieses Netz diente dazu, den Transit durch Deutschland zu organisieren. Die vorliegende Quelle benennt Hilfsvereins-Filialen in 23 größeren deutschen Städten sowie vier in großen außerdeutsche Städte (Tabelle, S. 111), die direkt mit der Beförderung osteuropäischer Juden zu tun hatten.
Dank zahlreicher Vertrauensleute und Informanten in den Krisengebieten wusste die Berliner Zentrale schnell über die Zustände vor Ort Bescheid und konnte entsprechend reagieren. So konnten Hilfsgelder häufig präventiv an die richtigen Stellen gelangen, etwa während der Balkankriege 1912/13. Zudem unterhielt der Hilfsverein seit seiner Gründung hervorragende Beziehungen mit anderen internationalen Organisationen wie der französischen AIU und der britischen Anglo Jewish Association.
Die europäische Dimension des modernen Antisemitismus wurde den westeuropäischen Juden gerade durch schwere Ausschreitungen in Osteuropa und große Flüchtlingsströme, vornehmlich aus Russland und Rumänien mehr als deutlich vor Augen geführt. 1881 waren nach einem Attentat auf den Zaren Alexander II. heftige Pogrome im Gebiet der heutigen Ukraine ausgebrochen, Tausende Juden flüchteten über die westlichen Grenzen. Daraufhin wurden in vielen deutschen Städten, aber auch in Österreich, England, Frankreich und den USA, Hilfskomitees ins Leben gerufen, die sich am 23.4.1882 unter dem Vorsitz des Berliner Rechtsanwalts und Gemeinderepräsentanten Hermann Markower (1830–1897) in Berlin zum „Hülfs-Comité für die nothleidenen russischen Juden“ zusammen schlossen, um die Hilfsgelder und Flüchtlingsströme zu koordinieren. Von Mai bis September 1882 sammelten die Komitees gemeinsam 642.274 Mark, von Oktober 1881 bis Oktober 1882 wurden über Hamburg 10.000 jüdische Emigranten verschifft. Viele dieser Komitees gingen nach 1901 im Hilfsverein auf oder arbeiteten eng mit ihm zusammen. Zwar gab es bei einigen Lokalkomitees, vor allem in Frankfurt am Main Bedenken, den Hilfsverein als Dachverband und Nachfolger der AIU zu etablieren, doch im Vordergrund stand die notwendige Kombination von humanitärem Engagement und organisatorischer Effizienz.
Ab 1900 wuchs die Zahl der russischen und rumänischen jüdischen Auswanderer in erheblichem Maße an. Nathan und andere einflussreiche jüdische Philanthropen Europas versuchten weiterhin politisch auf die bürgerliche Gleichstellung der osteuropäischen, vor allem der russischen und rumänischen Juden hinzuarbeiten. Gleichzeitig bemühte sich der Hilfsverein mit den seit Dezember 1904 monatlich erscheinenden „Correspondenzblättern“, die Emigranten bereits im Vorfeld ihrer Reise mit zahlreichen praktischen Tipps zu unterstützen, so etwa mit Hintergrundinformationen über die Zielländer und deren gesetzliche Einreisebestimmungen, Preistabellen der Reichsbahn oder Literaturhinweisen für Wörterbücher. Auch die Anzahl von Informationsbüros in den Auswanderungsländern, deren Sinn in einer besseren Vorab-Koordinierung bestand, war bis 1907 „in immer größerem Maße“ gestiegen (S. 105 f.). Nach den gewalttätigen Ausschreitungen während der Pogrome in Kischinew 1903 führte Nathan intensive Gespräche mit dem liberalen russischen Ministerpräsidenten Sergei Juljewitsch Witte, später mit dessen Nachfolger Pjotr Arkadjewitsch Stolypin. Er bezeichnete die Verhandlungen jedoch 1906 rückwirkend als erfolgloses „Affentheater“. Spätestens mit dem russisch-japanischen Krieg 1904 und der darauf folgenden Russischen Revolution von 1905/06 waren erfolgversprechende Bemühungen dieser Art in weite Ferne gerückt. Nun war man bemüht, so viele Juden aus Russland zu retten wie möglich.
Die Leitung der Vereinszentrale des Hilfsvereins wie der lokalen Filialen lag in den Händen von liberalen, großbürgerlichen Honoratioren, die den Einfluss des Vereins in Politik und Wirtschaft garantierten. Soziales Engagement war im deutschen Bürgertum des Kaiserreichs weit verbreitet. Viele der Hilfsvereinsmitglieder waren auch in anderen wohltätigen Organisationen aktiv. So ergab sich eine engmaschige Verzahnung und Kooperation vieler Wohltätigkeitsorganisationen. Die Hamburger Hilfsvereins-Filiale um Paul Simon Laskar, der gleichzeitig Vorstandsmitglied des Hamburger CV war, arbeitete eng mit dem Hamburger Israelitischen Unterstützungs-Verein für Obdachlose zusammen, der 1884 von dem Direktor der Hamburger Talmud Tora Realschule, Daniel Wormser gegründet worden war. Wie der Bericht erwähnt (S. 121 f.) stellte der Obdachlosen-Verein 1907 die Bekleidung für 4.100 durchreisenden Emigranten zur Verfügung. Auch das lokale „Hülfs-Comité für die russischen Juden“ um die jüdischen Kaufleute Hermann Gumpertz (1851–1938) und Gustav Gabriel Cohen kooperierte mit Laskar und Wormser. Weitere Mitglieder der Hamburger Hilfsvereins-Filiale waren der Oberrabbiner Markus M. Hirsch (1833–1909), der Bankier Paul Moritz Warburg, der Rechtsanwalt Hermann Samson (Lebensdaten unbekannt) und der Redakteur des Israelitischen Familienblattes und Zionist Moses Deutschländer.
Der Bericht betont die sehr guten Beziehungen des Hilfsvereins zur U.O.B.B. Großloge Deutschland (S. 110), dem 1882 in Berlin gegründeten ersten Ableger der jüdischen Organisation B’nai B’rith. Diese Wohltätigkeitsorganisation sah sich sowohl allgemein der Steigerung von Humanität und Toleranz verpflichtet als auch speziell der „Fürsorge und Erziehung zur modernen Kultur unter den Juden“. Die Großloge Deutschland hatte bedeutenden Anteil an der Gründung und Finanzierung wohltätiger Einrichtungen. Ihr Großpräsident, der Berliner Justizrat Berthold Timendorfer (1851–1931) war ein enger Vertrauter Paul Nathans und wurde auf der Vereinsgründung zum Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses des Hilfsvereins ernannt; Nathan und Simon wurden im Gegenzug Logenmitglieder. Die Ortsvereine des Hilfsvereins und die lokalen Logen arbeiteten bei Spendensammlungen eng zusammen, häufig waren die Logenbrüder auch Mitglieder im Hilfsverein. Laskar und Deutschländer waren zugleich aktive Mitglieder der Hamburger Henry-Jones Loge. Auch die transatlantischen Schifffahrtslinien, allen voran die HAPAG und die Lloyd, für die die Amerika-Auswanderung ein sehr lukratives Geschäft darstellte, waren wichtige Partner des Hilfsvereins. Die „guten Beziehungen zu den deutschen Schiffahrtsgesellschaften“ brachten dem Hilfsverein eine Ersparnis von 135.000 Mark für 1907 ein (S. 109).
Der Bericht veranschaulicht zudem die enge Kooperation des Hilfsvereins mit den Einreiseländern, von denen die USA das Bedeutendste war. Im Jahr 1907 war die transatlantische Migration aufgrund einer Rezession in den USA insgesamt zurückgegangen. Dennoch wanderten in diesem Jahr 106.968 Juden in die USA aus, das entsprach 80 Prozent der Gesamtzahl. Laut dem vorliegenden Bericht stammten 80 Prozent aller jüdischen Emigranten zwischen Juli 1906 und Juli 1907 aus Russland (S. 103), 1907 verließen schätzungsweise 35.007 Personen Deutschland über Hamburg (S. 113). Angesichts einer befürchteten mittel- bis langfristigen Verschärfung der Einreisebedingungen rückte ab 1907 auch Palästina als Zielland russischer Emigration stärker in den Vordergrund. Trotz des umfangreichen Bildungsengagements des Hilfsvereins in Palästina blieb Nathan davon überzeugt, dass die USA als Zielland nicht ersetzbar seien (S. 104).
Der vorliegende Anhang zum 6. Geschäftsbericht veranschaulicht die immense
Bedeutung der Hafenstadt
Hamburg als
organisatorisch-logistisches Zentrum jüdischer
Osteuropa-Auswanderung
ebenso wie den Stellenwert der
Hamburger
Hilfsvereins-Filiale
innerhalb des europaweiten Netzwerks jüdischer Hilfsorganisationen.
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David Hamann, Dr. des., geboren 1981, promovierte 2021 an der FU Berlin mit der Arbeit "Ein Ticket von Brody über Berlin nach New York. Die praktische Solidarität deutscher Juden für osteuropäische jüdische TransmigrantInnen im Krisenjahr 1881/82". Seit 2010 betreibt er als freiberuflicher Historiker die Firma Recherche-Dienste (www.recherche-dienste.de) in Berlin.
David Hamann, Von Hamburg in die Welt – Jüdische Auswanderung und der Hilfsverein der deutschen Juden, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-159.de.v1> [21.11.2024].