Gerade Brüche und Zäsuren stellen einen interessanten Untersuchungsgegenstand dar, da sie Einblick in die von ihnen unterbrochenen soziale Strukturen bieten. Die Nachricht über die Ankunft des Messias in den Jahren 1665–66, die von der Memoirenschreiberin Glikl von Hameln erzählt wurde, stellt solch einen Augenblick in der Geschichte der Hamburger Juden dar. In Buch III ihrer Erinnerungen berichtet Glikl davon, wie die Hochstimmung in Verzagtheit umschlug, als kurze Zeit nachdem die verheißungsvollen Nachrichten über die bevorstehende Erlösung der Juden in Nordeuropa eintrafen, diese von dem Übertritt des Erlösers zum Islam in Konstantinopel zerstört wurden. Glikls Bericht von der sabbatianischen Bewegung Messianische jüdische Bewegung, die von Schabbtai Zvi gegründet wurde in Hamburg ist aufschlussreich als lebendiges Portrait der Aufbruchsstimmung, von der die Juden dieser Stadt erfasst wurden, als die Nachricht erstmalig eintraf. Er ermöglicht, nachzuvollziehen wie sich Nachrichten zwischen entfernten Gemeinden verbreiteten — besonders zwischen den „Entrepôts“ Umschlaghäfen der sefardischen Diaspora auf der italienischen Halbinsel, im Osmanischen Reich und in Nordwesteuropa — und gibt Aufschluss über die Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen in der Stadt Hamburg.
Glikl, die Tochter von Judah Leib, wurde 1646 in Hamburg geboren und starb 1724 in Lunéville in Lothringen. Als Tochter eines Händlers und einer Geschäftsfrau wurde sie im Alter von 14 Jahren mit einem Geschäftsmann namens Haim von Hameln verheiratet und betrieb mit ihm ein Geschäft, das mit Edelmetallen und -steinen handelte. Glikl brachte 14 Kinder zur Welt, wovon 12 das Kleinkindalter überlebten.
Der Text von Glikl wurde nicht als Tagebuch
geschrieben, in dem die Begebenheiten in zeitlicher Nähe zu ihrem Geschehen
aufgeschrieben werden. Vielmehr hat Glikl ihre
Memoiren als eine Abrechnung mit der Vergangenheit verfasst, angeregt durch die
Notlage ihrer Familie. Es scheint, als hätte Glikl in zwei getrennten Zeitabschnitten am Text gearbeitet. Sie
erzählt ihren Kindern, denen die Memoiren gewidmet sind, dass ihre erste
Motivation darin bestanden hätte, die Melancholie nach dem Tod ihres Mannes
Haim (1690) zu
überwinden. Ein beträchtlicher Teil ihrer Niederschriften ist aber eine
retrospektive Selbstinszenierung nach dem Bankrott und Tod ihres zweiten
Ehemannes, Cerf Levi von Metz (1712). Während die erste Ehe von Zuneigung, Partnerschaft
und Wohlstand geprägt war, wurde die zweite von finanziellem Ruin, Armut und Not
überschattet. Ihre Erinnerungen an die sabbatianische Bewegung Messianisch jüdische Bewegung, die von Schabbtai Zvi
gegründet wurde in Hamburg sind deshalb
auch Teil eines rückwärtsgerichteten Blickes auf die Geschichte, der vom sich
wandelnden Schicksal ihrer Familie geprägt ist.
Die Zikhroynes Westjiddisch für
„Erinnerungen“ von Glikl
verschmelzen persönliche Narrative mit dem größeren Kontext des jüdischen Lebens
und der Menschheit, sie mischen Elemente moralischer Märchen und der
Volksfrömmigkeit mit persönlichen Erinnerungen an Erlebtes. Den Text kann man
somit als Erinnerung an Vergangenes, Rechtfertigung der Gegenwart und ethisches
Vermächtnis für die Zukunft ihrer Leser verstehen, an die das Werk adressiert
ist: ihre Kinder.
Die sabbatianische Bewegung hatte ihren Ursprung in Palästina im Jahr 1665. Ausgangspunkt dieser Bewegung war Schabbtai Zvi, der den größten Teil seines Lebens mystische Visionen erlebte. Diese Visionen manifestierten sich in extremen Formen der Askese vermischt mit eklatanten Verstößen gegen die traditionellen jüdischen Praktiken, wie das Einhalten von Fastentagen und Speisegesetzen. Im Frühjahr 1665 wurden die persönlichen Prophezeiungen Schabbtais zu einer internationalen jüdischen Angelegenheit als er die Unterstützung von Nathan von Gaza erhielt, der Schabbtai öffentlich als den jüdischen Messias anerkannte. Juden vom gesamten Osmanischen Reich und Europa zählten zu seinen Anhängern. Die Bewegung war intensiv aber kurz. Im Dezember 1665 reiste Schabbtai von Palästina nach Izmir und dann weiter nach Konstantinopel mit der erklärten Absicht, den osmanischen Sultan zu stürzen. Als er in Konstantinopel ankam, wurde Schabbtai von den Wachen des Sultans verhaftet und im Winter 1666, nachdem man ihn vor die Wahl zwischen Konvertierung zum Islam oder dem Tod gestellt hatte, wählte er die Konversion. Die Bewegung brach jedoch nicht zusammen nachdem sie ihren Anführer verloren hat. Die Nachricht inspirierte vielmehr zu kreativen Erklärungen für diesen scheinbaren Verrat, Anhänger der Bewegung gab es in der einen oder anderen Form bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Die Bewegung breitete sich über Briefe wie im Fluge aus. Hamburg war dabei wie ein Knotenpunkt, an dem die Informationen zusammenliefen. Glikl berichtet, dass Nachrichten in Form von Briefen im Zeitraum Februar 1666 in Hamburg eintrafen, geschrieben von Juden im Osmanischen Reich, Palästina, Ägypten und besonders der jüdischen Gemeinde in Izmir, die von Gerüchten und Prophezeiungen berichteten. Die Briefe waren an die sefardischen („portugiesische“) Juden der Stadt adressiert, die aufgrund ihrer Handelsnetzwerke, die vom Atlantik bis zum Indischen Ozean reichten, Verbindungen zu den Juden im Osmanischen Reich pflegten. Diese Nachkommen der spanischen und portugiesischen Juden ließen sich hauptsächlich in den Hafenstädten von Nordeuropa und vom Mittelmeer finden, sie kommunizierten per Brief über große Entfernungen. Bereits früher waren Briefe aus Ägypten in Hamburg eingetroffen mit der Nachricht, dass der Messias gekommen war. Die aschkenasischen Netzwerke hingegen umfassten Orte wie Frankfurt, Prag, Worms oder Polen-Litauen. Die aus dem Osmanischen Reich stammenden Briefe waren daher nur selten an aschkenasische („deutsche“) Juden adressiert.
Nichtsdestotrotz wurden auch die Aschkenasen in Hamburg von der Aufregung erfasst. Wenn auch die Aschkenasen über ihre Netzwerke nicht direkt mit dem Sabbatianismus in Berührung kamen, so gelangten entsprechende Nachrichten über die sefardischen Netzwerke, die sie über große Distanzen verbreiteten, zu ihnen. Der Informationsfluss gibt so auch Einblicke in die Kontakte zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen im Hamburger Stadtraum.
Glikl berichtet, dass jedes Mal, wenn ein Brief eintraf, der Empfänger ihn in die Synagoge brachte, damit er dort laut vorgelesen werde. Obwohl es sich um die Synagoge der sefardischen Juden handelte, kamen auch die aschkenasischen Juden dorthin, um die Nachricht über die Ankunft des Messias zu hören. Sogar in der Bekleidung der sefardischen Jugend spiegelte sich die Erwartung einer bevorstehenden Zäsur wider: sie trugen breite Seidenbänder als Schärpen („dies war die Livree Amtstracht von Schabbtai Zvi,“ schreibt Glikl), und ihr Weg zur Synagoge glich einem festlichen Umzug. Der entschiedene Gegner der Häretiker, Rabbi Jacob Sasportas, hat diese Ereignisse ähnlich beschrieben und erinnert die nichtjüdischen Zuschauer, die kamen, um über die Juden zu staunen, die angesichts der nahenden Erlösung sangen und tanzten. Es schien als hätten sich ihre langjährigen Hoffnungen und ihre Gebete erfüllt: Das Ende ihrer Verstreuung war da und die in der Welt verstreuten Exilanten würden nun ins Land Israel zurückkehren, wo sie nicht länger eine kleine Minderheit sein würden, die toleriert aber unterdrückt wäre. In der Tat begannen die Anhänger von Schabbtai Zvi ihre religiösen Praktiken zu ändern, um sie dem Glauben anzupassen, dass ein messianisches Zeitalter angebrochen wäre: sie schafften den neunten Tag des Aw ab, den Trauertag, der an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem erinnert – Bräuche, die von Juden Jahrhunderte eingehalten worden waren – da sie nun einen raschen Wiederaufbau der heiligen jüdischen Stätten in Jerusalem erwarteten, und sie verfassten Gebete an den neuangekommenen König Messias. Nicht alle Juden waren bereit, diese dramatischen Veränderungen zu akzeptieren, zumindest nicht in der Öffentlichkeit: Führer der sefardischen Gemeinde versuchten Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass die Nachricht über die Grenzen der Synagoge hinaus (zu christlichen Nachbaren) verbreitet wurde. Dennoch erregte die Strahlkraft der Bewegung die Aufmerksamkeit der Nichtjuden und Berichte über den jüdischen Messias von christlichen Beobachtern zirkulierten in den Niederlanden, Frankreich und England.
Die Konsequenzen aus dieser hoffnungsvollen Erwartung waren praktisch, unmittelbar und – für einige – endgültig. Im März 1666 wurden Gebete für den König Messias in der Hamburger Synagoge eingeführt. Juden bereiteten sich vor, ihr Zuhause und Leben im Exil zurückzulassen und nach Jerusalem zu reisen. Glikl berichtet, „Einige haben leider ihr Hab und Gut, Haus und Hof, verkauft und alle hofften täglich, dass sie erlöst werden können“. Juden in der umliegenden Gegend richteten ihr Augenmerk auf Hamburg, die geschäftige Hafenstadt, als Einschiffungshafen und Sammelstelle für die Exilanten für ihre Reise ins Heilige Land. Der Schwiegervater von Glikl, der in Hameln wohnte, schickte zwei Kisten gefüllt mit Leinen, Trockenfrüchte und Dörrfleisch – alles Dinge, die er für sein neues Leben in Palästina brauchen würde – und ließ sich vorübergehend in Hildesheim nieder. Diese Kisten lagerten ungenutzt mehr als ein Jahr in Hamburg bevor die Familie endlich die verdorbenen Lebensmittel entsorgte, damit der restliche Inhalt der Kisten nicht verderben würde. Sie warteten aber noch länger (drei weitere Jahre) ohne ganz die Hoffnung aufzugeben. Die vorübergehende Wohnung von Glikls Schwiegervater wurde zu seinem festen Wohnsitz.
Diese Stimmung erfasste die jüdischen Gemeinden in Hamburg und im nahe gelegenen Altona, sie beeinflusste nicht nur das Benehmen von Einzelnen, sondern auch Fragen der Gemeindeordnung. Die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Erlösung ermöglichte sogar die Lösung eines lang anhaltenden Streits über einen Friedhof in Ottensen. Als die aschkenasischen Juden in Hamburg versuchten, einen eigenen Ort für ihre Gemeinde zu errichten, unabhängig sowohl von den Sefarden der Stadt als auch den Aschkenasen im benachbarten Altona, setzten sie sich dafür ein, das Recht auf Bestattung in der Stadt zu erhalten – ein wichtiger Bestandteil der gemeinschaftlichen Autonomie. Als diese Verwaltungsangelegenheit 1666 geregelt wurde, schlug sich die messianische Hoffnung in den rechtlichen Bestimmungen der Urkunde nieder: „Auch wenn die Erlösung in die Kommende Welt vor dieser Zeit eintrifft, das heißt bevor Hanukkah 5427 Dezember 1666 muss die Hamburger Gemeinde der Gemeinde von Altona die restlichen 50 Reichstaler geben, und die Gemeinde von Altona muss es für den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem spenden. Sollte die Erlösung zwischen Hanukkah 5427 und Neujahr von 5428 das heißt zwischen Dezember 1666 und September 1667, dann sollten von diesen 50 Reichstaler 25 für den Wiederaufbau des Tempels gespendet werden.”
Aber der Messias kam nicht. In kurzer Zeit hatte die Bewegung eine Gegenbewegung der Gläubigen inspiriert, die versuchten die Ordnung wiederherzustellen indem sie Häresie ausnahmslos verfolgten. Glikl gab die Schuld für das Scheitern den Sünden der Juden, insbesondere der fehlenden Nächstenliebe. Auf der sprachlichen Ebene ihres Berichts über die Ereignisse von 1666 ist die geschlechtsspezifische Ausdrucksweise, die durch mütterliche Gefühle geprägt ist, auffällig. In ihrer Beschreibung der Erwartung der Erlösung greift sie auf das Bild einer Mutter zurück, die kurz vor der Niederkunft stehend mit Vorfreude ihr Kind erwartet, dann jedoch anstelle der Geburt nur die Nichtigkeit des Windes spürt. Glikl kannte diesen Schmerz selbst. Die von ihr niedergeschriebene Chronik fiel zeitlich grob mit dem kurzen Leben ihrer Tochter zusammen, die nach nur drei Lebensjahren starb. In der Rückschau auf diese Jahre verknüpft sie die schmerzhaften Erinnerungen einer trauernden Mutter mit dem kollektiven Schmerz angesichts der zerbrochenen messianischen Verheißung. Und dennoch schließt sie die Erzählung dieser Episode mit der ausdrücklichen Hoffnung und dem Gebet, dass Gott eines Tages den Juden die Freude der vollkommenen Erlösung bringen werde.
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Joshua Teplitsky, Ph.D., fokussiert sich in seiner Arbeit auf jüdisches Leben in den deutschsprachigen Ländern des Römischen Reiches und der Habsburger Monarchie in der frühen Moderne (16.-18. Jh.). Sein momentanes Forschungsprojekt untersucht den Handel mit jüdischen Büchern als Ware und Medium des Austauschs um Transaktionen von Kredit und Ansehen zu erforschen und wie sie die politische Kultur des jüdischen Lebens im frühmodernen Zentraleuropa formten.
Joshua Teplitsky, Messianische Hoffnung in Hamburg, 1666 (übersetzt von Barbara Schmidt-Runkel), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 13.02.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-195.de.v1> [03.12.2024].